Russlands Krieg und die Geopolitik: Der Denker des Imperiums


Nach der russischen Annexion von vier ukrainischen Regionen ist auch der Ideologe Alexander Dugin ins Visier der EU-Kommission geraten. Sein Einfluss auf den russischen Präsidenten ist umstritten, ein Blick auf seine geopolitischen Thesen aber dennoch aufschlussreich.

Der russische Ideologe Alexander Dugin während der Trauerfeier für seine Tochter Darja Dugina. Die Frau rechts von ihm trägt das Chaos-Symbol auf dem T-Shirt, das als Emblem der von Dugin 2002 gegründeten „Eurasischen Partei“ verwendet wird. (Bild: EPA-EFE / MAXIM SHIPENKOV)

Als Ursula von der Leyen am Mittwoch vergangener Woche neue Sanktionen gegen Russland vorschlug, fand sich der russische Philosoph Alexander Dugin unter jenen, die mit einem Visumverbot und dem Einfrieren von Vermögenswerten belegt werden sollen. Zur Begründung des mittlerweile achten Sanktionspakets verwies die EU-Kommissionspräsidentin auf die Scheinreferenden in vier zum Teil von Russland besetzten ukrainischen Regionen. Diese wurden am vergangenen Freitag von Präsident Wladimir Putin als russisches Territorium deklariert.

Alexander Dugin wird von der EU-Kommission als ein Wegbereiter dieser Politik gesehen. Er habe Putin dazu aufgefordert, in den Krieg zu ziehen, um „ein totalitäres, von Russland dominiertes eurasisches Imperium zu schaffen, das die Ukraine aus historischen, religiösen und geografischen Gründen einschließt“, heißt es laut dem Nachrichtenportal „EU-Observer“ in einem internen EU-Dokument.

Über Russland hinaus hatte Dugin zuletzt im August öffentliche Aufmerksamkeit erlangt, als seine Tochter bei einem Anschlag getötet wurde. Die Journalistin und Politologin Darja Dugina war ebenfalls eine Propagandistin Putins und eine Verfechterin des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine. Sofort wurden jedoch Spekulationen laut, Dugin selbst sei das eigentliche Ziel des Attentats gewesen.

In westlichen Medien wird der 1962 geborene Alexander Dugin gerne als „Einflüsterer“, „Chefideologe“ oder gar als „Gehirn“ von Wladimir Putin bezeichnet. Damit wird ihm eine große Nähe zum russischen Staatspräsidenten unterstellt. Ob sein Einfluss tatsächlich so groß ist, ist jedoch sehr umstritten. Viel entscheidender als all diese Spekulationen ist, dass Alexander Dugin in seinen Schriften genau jene Ideologie propagiert, die Wladimir Putin seit Jahren und in zunehmendem Maße in die Tat umsetzt. Jede Philosophie sei letztlich „ihre Zeit in Gedanken erfaßt“, schrieb Georg Wilhelm Friedrich Hegel vor über 200 Jahren in seiner Rechtsphilosophie. Diese Feststellung trifft auch auf die von Dugin vertretenen Ideen zu.

„Eurasisches Imperium“

Putin wolle gegen den amerikanischen Einfluss ein „eurasisches Imperium“ errichten, hatte Dugin in seiner 2009 erschienen Schrift „Die vierte politische Theorie“ verkündet: „Bevor drei Jahre vorüber sind, wird er einen Teil der Ukraine an sich gerissen haben, den Teil am rechten Ufer des Dnepr [aus dem Ukrainischen transkribiert: Dnipro; Anm. d. Red.]“. Es sollten letztlich fünf Jahre ins Land ziehen, ehe Russland die Krim annektierte und prorussische Separatisten die „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk ausriefen, die vergangene Woche gemeinsam mit den Oblasten Saporischschja und Cherson zu russischem Staatsgebiet erklärt worden sind. Dennoch mögen Dugins Aussagen im Rückblick als geradezu prophetisch erscheinen. Woher aber stammt das Denken des Mannes, der solche Prognosen formuliert?

Wie der deutsche Philosoph Martin Heidegger (1889-1976) mit seinem Werk „Sein und Zeit“ (1927) betrachtet auch Dugin seine Philosophie als eine Art „Neuanfang“ für ein philosophisches und politisches Denken jenseits der als westlich verstandenen Aufklärungsgeschichte: „Etwas ist falsch gelaufen gleich am Anfang der abendländischen Geschichte, und Martin Heidegger sieht diesen Holzweg exakt in der Bejahung der ausschließenden Position eines exklusiven Logos.“ Heidegger, dessen Parteinahme für die Nationalsozialisten sich in seiner Philosophie widerspiegelte und gleichermaßen in dieser gegründet war (siehe den Artikel „Dialektik des Widerstands“ in woxx 1633), fungiert als Stichwortgeber für die von Dugin formulierte „vierte politische Theorie“. Seine Auseinandersetzung mit dem Deutschen hat Dugin 2014 in dem Buch „Martin Heidegger. Der letzte Gott“ zusammengefasst; ein Titel, der vermutlich auch einiges über die Hybris seines eigenen Denkens verrät.

Der Gesellschaftstheoretiker Alex Gruber hat in der Zeitschrift „sans phrase“ gezeigt, dass es Dugin mit seinem mystischen Antirationalismus nicht etwa darum geht, die Verstrickung der Vernunft in jene Momente von Fortschritt und Naturbeherrschung zu kritisieren, die selbst wieder in Herrschaft und Unterdrückung münden, wie dies etwa Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in ihrer Schrift „Dialektik der Aufklärung“ tun. Vielmehr beklage der Russe, „dass der Mensch den Bannkreis des Mythos, den geschlossenen Naturzusammenhang überhaupt je verlassen hat“. Damit wendet er sich gegen die Grundbedingung jeder Emanzipation.

„Hitler kaputt“: Antifaschistische Demonstration 2005 in Moskau. Das Schild zeigt nebst Adolf Hitler die rechtsextremen russischen Politiker Dmitri Rogosin (ganz links) und Wladimir Schirinowski (zweiter von links). Ebenfalls abgebildet ist Alexander Dugin (ganz rechts). (Foto: EPA/SERGEI CHIRIKOV)

Genau wie andere antirationalistische Theoretiker vor ihm ist Dugin der Ansicht, es habe nicht etwa zu wenig, sondern zu viel Aufklärung gegeben. Jeder Versuch des Menschen, sich aus den Zwängen des Naturzusammenhangs zu befreien, muss ihm zufolge zur „Katastrophe und Vernichtung der Menschheit“ führen. Diese Weltsicht bildet auch die Basis seines geopolitischen Denkens: Es sind die geographischen Gegebenheiten sowie die daraus abgeleiteten – scheinbar natürlich-unmittelbaren – Bedingungen, in denen sich eine Gesellschaft wiederfindet, die es fraglos anzuerkennen gelte und aus denen sich gleichermaßen naturhafte, zwangsläufige politische Konsequenzen ergeben.

Diesbezüglich hat sich Dugin unter anderem beim nationalsozialistischen Staatsrechtler Carl Schmitt (1888-1985) inspiriert. Diesem zufolge ist die Epoche der Aufteilung der Welt in Staaten mit der auf den US-Präsidenten James Monroe zurückgehenden Monroe-Doktrin (1823) zu Ende gegangen. Fortan ergebe sich eine Aufteilung der Erde in mehrere, durch ihre geschichtlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Gegebenheiten geprägte Großräume. Hieraus folge ein jeweiliges „Interventionsverbot für raumfremde Mächte“, das zwischen diesen Räumen völkerrechtlich bindend sein müsse, so Schmitts Forderung. Im Inneren dieser Räume sieht es anders aus: Die einem Großraum zugeordneten Staaten verlieren ihre staatliche Souveränität, Unabhängigkeit und territoriale Integrität zugunsten der je raumbeherrschenden Macht, werden bloße Verwaltungseinheiten – ein Status also, wie ihn auch Putin der Ukraine zugedacht hat.

Ein Belgier als Lehrer Dugins

Dugins konkrete Vorstellung von einer Raumordnung geht maßgeblich auf den Belgier Jean-François Thiriart (1922-1992) zurück. In Liège aufgewachsen, zählte sich Thiriart erst zur Linken, schloss sich während des Zweiten Weltkriegs jedoch dem für Auslandspropaganda zuständigen Deutschen Fichte-Bund sowie den „Amis du Grand Reich Allemand“ (AGRA) an, einer von den Nationalsozialisten aufgebauten Konkurrenzorganisation zur von dem Kollaborateur Léon Degrelle geleiteten Bewegung „Rex“. Nach dem Krieg, an dem er sich in den Reihen der Waffen-SS beteiligte, war Thiriart wegen seiner Kollaboration für anderthalb Jahre in Haft. In den 1960er-Jahren begann sein Aufstieg zu einem der führenden Köpfe der Neuen Rechten. Er sprach sich für ein Denken jenseits der Blockkonfrontation des Kalten Krieges aus und für ein „eurosowjetisches Imperium von Wladiwostok bis Dublin“ im Bündnis mit den arabischen Staaten. Die von ihm 1960 gegründete Bewegung „Jeune Europe“ vertrat die Haltung, dass die – europäischen – Nationalstaaten der Vergangenheit angehörten und in eine europäische Nation überführt werden sollten.

Nicht zuletzt die Schriften, in denen Thiriart diesen „Großraum“ darstellte, wie etwa „La Grande Nation : l’Europe unitaire de Brest à Bucarest“ oder „L’Empire euro-soviétique de Vladivostok à Dublin“ sind es, auf die sich Alexander Dugin in den Entwürfen seiner Eurasien-Idee explizit bezieht. Rückblickend stelle die Sowjetunion aus geopolitischer Perspektive eine verpasste Chance für eine mögliche „eurasische Vereinigung, für die kontinentale Integration und die Souveränität unseres Großraums“ dar, so Dugin in seiner Schrift „Die Grundlagen der Geopolitik“ unter Bezug auf Thiriart. Allerdings habe die Teilung Europas im Zuge der Blockkonfrontation sowie die inkonsistente sowjetische Asienpolitik ein zentrales Hindernis für diese Einigung dargestellt. Dies, so Dugin weiter, habe möglicherweise entscheidend zum Kollaps der Sowjetunion beigetragen.

Dugin zufolge hat es das oberste russische Ziel zu sein, „das Imperium wieder aufzubauen“. Die Erfordernis der geopolitischen und strategischen Souveränität Russlands bestehe nicht allein darin, die Beziehungen zu den osteuropäischen Ländern zu erneuern, sondern auch die Staaten des kontinentalen Westens einzubeziehen, „vor allem den deutsch-französischen Block, der sich von der atlantischen Vormundschaft der proamerikanischen NATO befreien will“, sowie jene des „kontinentalen Ostens (Iran, Indien und Japan)“. Wenn Russland nicht sofort damit beginne, sich in dem so definierten Einflussgebiet seine „strategische, politische und wirtschaftliche Einflusssphäre zurückzuholen, wird es sich selbst und alle auf der [eurasischen; T.F.] „Weltinsel“ lebenden Völker in die Katastrophe stürzen“.

Foto: EPA/Dmitry Astakhov/Presidential Press Service/Itar-Tass Pool

Eine unabhängige Ukraine steht diesem Ziel nicht nur im Weg, sondern stellt laut Dugin eine „geopolitische Kriegserklärung“ an Russland dar. Das gelte selbst dann, wenn sie in ihren derzeitigen Grenzen (die „Grundlagen der Geopolitik“ sind 1997 erschienen) als „Cordon sanitaire“ betrachtet würde. Die in westlichen Ländern debattierte Frage, ob sich die Ukraine nicht besser mit dem Status eines „Pufferstaates“ begnügen solle, zählt für den russischen Großraum-Ideologen also nicht, denn auch ein solcher Status stehe einem vollständigen Anschluss an Russland-Eurasien entgegen. Um die geopolitische Konsistenz des Kernlandes zu schützen, habe Moskau die „Neuordnung des ukrainischen Raums nach dem einzig logischen und natürlichen geopolitischen Modell“ unverzüglich in Angriff zu nehmen, das heißt, die territoriale Integrität der Ukraine zu zerschlagen.

„Kein ideologisches Joch“

Unabhängig davon, inwiefern Dugin explizit als Stichwortgeber Putins gelten kann, wird deutlich, wie sehr die aktuelle Politik des Kreml solchen strategischen Überlegungen und ihren politischen Konsequenzen zu entsprechen scheint. Michel Eltchaninoff betont in seiner Analyse jedoch, Putin sei vor allem „Realist“: „Er legt keinen Wert darauf, an irgendein ideologisches Joch gekettet zu werden, seinen Diskurs passt er den jeweiligen politischen Umständen an.“

Das muss Putin auch, wenn er in seinem instabilen Herrschaftsgefüge die Kontrolle behalten will (siehe den Artikel „Die Souveränität der Seilschaften“ in woxx 1407), was ihn zum Jonglieren zwischen den Machtfraktionen zwingt. Nach Ansicht des russischen Soziologen Lew Gudkow werden die von Putin wiederbelebten archaischen Mythen und Vorstellungen von Russland als einer geopolitisch-organischen Einheit rein instrumentell verwendet, „um eine Konsolidierung des Landes durch negative Identifikation und Mobilisierung zu erreichen“. Der Appell an die Vergangenheit und an eine naturgegebene Ordnung verfange deshalb so gut, weil sie, „ebenso wie das propagierte Geschichtsbild wohl bekannt und daher leicht verständlich sind“.

Die von Dugin propagierte simple, aus den Schriften anderer zusammengeklaubte Geopolitik fügt sich hier gut ein. Ihm zufolge basiert sie „auf allgemeinen Grundsätzen“, die es „leicht machen, die Situation jedes einzelnen Landes und jeder einzelnen Region zu analysieren“: „Geopolitik entlarvt die historische Demagogie des außenpolitischen Diskurses, indem sie die wirklichen Faktoren aufzeigt, die die internationalen, zwischenstaatlichen und interethnischen Beziehungen bestimmen.“ Dugins Denken folgend entspringen diese Faktoren einer naturgegebenen Ordnung, die ein entsprechendes politisches Handeln geradezu erzwingt. Das kommt auch in der Neuen Rechten Westeuropas gut an, die Dugin studiert und in Putin einen Hoffnungsträger sieht.

Zumindest rhetorisch greift Putin auf Elemente eines solchen Denkens zurück. So auch in seiner jüngsten Rede, die er am vergangenen Freitag aus Anlass des Annexionszeremoniells gehalten hat: „Es gibt nichts Stärkeres als die Entschlossenheit von Millionen von Menschen, die sich aufgrund ihrer Kultur, Religion, Traditionen und Sprache als Teil Russlands betrachten und deren Vorfahren jahrhundertelang in einem einzigen Land gelebt haben. Es gibt nichts Stärkeres als ihre Entschlossenheit, in ihre wahre historische Heimat zurückzukehren“, beschwor der russische Präsident die von ihm propagierte neue „geopolitische Realität“, die mit Blick auf Russlands Größe die Fehler sowohl der Bolschewiki als auch der Ära Gorbatschow korrigiere.

Alexander Dugin wurde von ihm dabei zumindest indirekt erwähnt: „Sie [die westlichen Nationen; T.F.] sehen in unserem Denken und unserer Philosophie eine direkte Bedrohung. Deshalb haben sie es auf unsere Philosophen abgesehen, um sie zu ermorden.“

Zitiert und namentlich erwähnt hat Putin allerdings einen anderen russischen Philosophen, dessen Einfluss auf ihn weniger umstritten ist: Iwan Iljin, einen Gegner der Bolschewiki, der 1922 auf einem der sogenannten „Philosophenschiffe“ das Land verließ. Putin bezeichnete ihn am Freitag als „wahren Patrioten“; Alexander Dugin teilt diese Begeisterung nicht. Als Antibolschewist habe Iljin nämlich die geopolitische Bedeutung des entstehenden Sowjetimperiums auf eurasischem Boden nicht gesehen. Im Interview mit Eltchaninoff bezeichnet Dugin ihn als „philosophische Niete“: „lljin ist kein eigenständiger Denker. Er hat nichts vorhergesagt.“ Es wird sich allerdings erst noch zeigen, wie es sich mit der Bewahrheitung von Dugins Prophezeiungen zum mangelnden „geopolitischen Sinn“ der Existenz der Ukraine verhält.


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