Schulbücher: Weiß, männlich und ohne Behinderung

Weiße Männer schreiben Geschichte(n), alle anderen schauen dabei zu? Diesen Eindruck gibt eine neue Studie der Universität Luxemburg zu Gender und Diversität in Grundschulbüchern.

Grundschulbücher sowie die Pflichtlektüre auf der Sekundarstufe werden der gesellschaftlichen Vielfalt nicht gerecht – und das beeinflusst die Entwicklung junger Menschen. (Foto: Yaroslav Shuraev/Pexels)

Wäre das Wissen, das luxemburgische Grundschulbücher vermitteln, ein Mensch, wäre der weiß, männlich und hätte keine Behinderung. Diese Interpretation lässt die neue Studie „Les représentations du genre dans les manuels scolaires. Une étude à l’école fondamentale luxembourgeoise“ der Universität Luxemburg und des Ministeriums für die Gleichstellung von Frauen und Männern zu. Unter anderem die Erziehungswissenschaftlerin Sylvie Kerger analysierte von Juli 2019 bis Dezember 2020 Schulbücher der Fächer Deutsch, Französisch, Mathematik, Naturwissenschaft, Geschichte sowie Leben und Gesellschaft.

Für den Bericht wurden insgesamt 57 Grundschulbücher auf Diversität untersucht. Von den insgesamt 26.373 Figuren sind 54 Prozent männlich, 31 Prozent weiblich und 15 Prozent ließen sich keinem Geschlecht zuordnen. Außerdem überwog eine stereotype Rollenverteilung: Männer haben Hobbys, Frauen schmeißen den Haushalt. Im Gespräch mit dem Radiosender RTL erklärte Kerger kurz, dass das bei Kindern zu Trugschlüssen führe: Mädchen und Jungen würden sich diesen oder jenen Beruf und verschiedene Lebensweisen nicht zutrauen, weil diese in den Schulbüchern vom jeweils anderen Geschlecht verkörpert würden. Es entstehen demnach Rollenbilder, die Kinder in ihrer Entwicklung beeinflussen.

Geschichte schreiben

Dasselbe gilt für die Repräsentation von Menschen mit Behinderung oder die nicht-weißer Personen. Umso frappierender ist der Unterschied zwischen der Darstellung von Personen mit und ohne Behinderung, weißen und nicht-weißen Menschen: Nur 47 der 26.373 Figuren sind Menschen mit Behinderung und 1.045 nicht-weiße Personen. Menschen mit Behinderung treten laut Studie immer nur dann auf, wenn Behinderung Thema ist. Nicht-weiße Menschen werden oft als Fremde und Angehörige anderer Kulturen, statt als Mitglieder der eigenen Gesellschaft stilisiert. Vor allem afrikanische Regionen werden als ländlich beschrieben und als Orte, denen es an lebensnotwendigen Ressourcen fehlt. Alternative Darstellungen gibt es kaum.

Diese Diskrepanzen machen sich besonders in den Geschichtsbüchern bemerkbar. Hier stießen die Forscher*innen auf drei Figuren mit Behinderung und fünf nicht-weiße Menschen. Auch Frauen sind in den Geschichtsbüchern stark unterrepräsentiert: Es tauchen 937 männliche und nur 226 weibliche Figuren auf den Buchseiten auf. Das sagt einiges darüber aus, wessen Geschichte den Grundschulkindern erzählt wird: die westlicher, weißer Männer ohne Behinderung und meist die ihrer Verdienste.

„Frauen werden in den Geschichtsbüchern auch nicht in den Bereichen, in denen sie aktiv waren, erwähnt – sie sind unsichtbar“, kommentiert Kerger die Ergebnisse. „Die institutionelle Unterdrückung der Frau ist kein Thema: Das Verbot als verheiratete Frau ohne die Zustimmung des Ehemanns einen Beruf auszuführen oder ein Konto zu eröffnen, müsste das heute nicht verstärkt in der Schule behandelt werden, genauso wie die Bewegungen, die die Veränderung ermöglicht haben?“ Davon abgesehen gebe es genügend Frauenfiguren, beispielsweise Informatikerinnen und Mathematikerinnen, die maßgeblich zur Forschung beigetragen hätten. „Nur werden sie nicht erwähnt“, sagt Kerger.

Warum dem mit der Frauendarstellung so ist, kann Kerger nicht eindeutig beantworten. Es sei ein Zusammenspiel vieler Faktoren. Einer davon sei sicherlich, dass Frauen lange Zeit – und an manchen Orten der Welt bis heute – nur begrenzt Zugang zu Bildungsangeboten, die über Haushaltslehre hinausgingen, hatten. Ein anderer, dass der Großteil der Bücher von Männern geschrieben worden sei.

Mama, Papa, Kind?

Ähnlich unausgewogen sind die Darstellungen von Familie und Geschlechtsidentität in den Schulbüchern allgemein. Nur in „Mensch und Natur“, einem naturwissenschaftlichen Buch, wird explizit ein gleichgeschlechtliches Elternpaar und eine ethnisch vielseitige Familie dargestellt sowie auf intersex Menschen hingewiesen. Das Buch wurde 2020 überarbeitet und seitdem heißt es an einer Stelle: „Die meisten Menschen kommen entweder als Junge oder als Mädchen auf die Welt. Es gibt auch Menschen, die sich nicht in dieses binäre Geschlechtssystem einordnen, sie sind intersexuell. Da alle Menschen verschieden sind, sollte jeder das tun können, was er am liebsten möchte.“

Intergeschlechtlichkeit geht auf genetische und hormonelle Ursachen zurück. In dem Zusammenhang zu schreiben, dass „jeder das tun können [soll], was er am liebsten möchte“ legt nahe, dass intersex zu sein, eine Entscheidung ist, was so nicht stimmt. Kerger liest den Satz anders, mehr als Ermutigung, zu sich selbst zu stehen und sich nicht von anderen Kindern und Erwachsenen vorschreiben zu lassen, wie man auszusehen hat. Sie räumt jedoch ein: „Es fehlt an der Darstellung von trans Menschen und anderen Geschlechtsidentitäten in den Schulbüchern. Es gibt allerdings Figuren, deren Gender uneindeutig ist, was wir begrüßen. Wichtig ist nämlich auch: Was für Codes lesen die Kinder?“ Die Frage, was die Kinder lesen, stellt sich auch an anderer Stelle – und zwar wenn es um die Sprache an sich und um Kinderliteratur geht.

Was die Sprache betrifft: Die Studie belegt, dass genderneutrale Angaben in allen Fächern überwiegen. Kerger sieht darin jedoch nur bedingt eine positive Entwicklung, denn auf genderneutrale Angaben folgt in den Schulbüchern gleich das generische Maskulinum. „Mir fällt auf, dass in deutschen Medien für Kinder, wie beispielsweise im ZDF, oft Doppelbezeichnungen – wie ‚die Forscherinnen und Forscher‘ – benutzt werden. In Luxemburg hinken wir total hinterher“, stellt die Wissenschaftlerin fest. „Noch dazu gibt es in vielen der untersuchten Bücher keine Kohärenz: Die Sprache wechselt von Aufgabe zu Aufgabe von neutral zu generischem Maskulinum und Doppelnennungen.“

Copyright: Tima Miroshnichenko/Pexels

Einseitige Literaturwelten

Weniger abwechslungsreich sind hingegen die literarischen Angebote für Grundschulkinder. Die Forscher*innen analysierten acht deutsche Kinderbücher, die in der Grundschule gelesen werden: 67 Prozent der Autor*innen sind männlich. In den zwei luxemburgischen Lesebüchern, die untersucht wurden, dominierten Autoren gar mit 84 Prozent. Das ist vor allem deshalb erstaunlich, weil der Kinder- und Jugendliteraturbereich nach einer Studie von Veronika Schuchter, einer deutschen Literaturwissenschaftlerin, als „genuin weiblich“ gilt.

2018 nahm Schuchter in einer Sondernummer der Reihe „Literaturkritik in Zahlen“ Buchbesprechungen deutscher Zeitungen unter die Lupe. In dem Artikel „Geschlechterverhältnisse in der Literaturkritik“ stellte sie diese in Auszügen vor und ging unter anderem auf Kinderbuchautor*innen ein: 40 Prozent der besprochenen Kinderbücher wurden von Frauen verfasst, 33 Prozent von Männern. Die restlichen Erscheinungen stammten aus der Feder gleichgeschlechtlicher, weiblich-männlicher Autor*innenpaare oder von Autor*innen, deren Geschlechtsidentität unbekannt ist.

Marie Fischer, Pädagogin, hält in ihrer Abschlussarbeit zu Geschlechterstereotypen in luxemburgischen Bilderbüchern allerdings fest, dass die Vorherrschaft männlicher Autoren allein nicht gleich eine Unterrepräsentation weiblicher oder neutraler Figuren mit sich bringt. „Sowohl in den von Autorinnen wie auch in den von Autoren geschriebenen Bilderbüchern wird das andere Geschlecht oft überrepräsentiert und in einer Hauptrolle gezeigt. Nebenrollen werden hingegen sowohl von Autoren als auch von Autorinnen oft mit Figuren des eigenen sowie des anderen Geschlechts besetzt“, fasst Fischer ihre Ergebnisse im Austausch mit der woxx zusammen. Allgemein kämen weibliche Figuren in Bilderbüchern jedoch seltener vor als männliche.

Das Ungleichgewicht zwischen den Autor*innen und den Buchfiguren setzt sich übrigens auf der Sekundarstufe fort. 2019 forderte „Voix de jeunes femmes“ (VJF) die Überarbeitung der Pflichtlektüre. Die Aktivist*innen sprachen sich damals in einem offenen Brief an das Bildungsministerium für mehr Autorinnen auf dem Lehrplan und für eine diversifizierte und stärkere Repräsentation von Frauen zwischen Buchdeckeln aus. Die Frauenfiguren würden in den Büchern der Abschlussklassen zu Lustobjekten degradiert, zwangsverheiratet, missbraucht oder unterdrückt. Die Männerbilder kämen selten ohne Gewalt und Misogynie aus. Sylvie Kerger knüpft sich in einer zweiten Studie das Programm der Sekundarstufen vor, doch — Achtung Spoiler ­—: Getan hat sich seit dem Brief der VJF nichts.

Auf der literarischen Sparte „Langues vivantes“ hält Margaret Atwood 2021 unverändert als einzige Autorin mit „The Handmaid’s Tale“ die Stellung. Das, obwohl im aktuellen Koalitionsvertrag steht, dass die Regierung die Gender-Vielfalt im Schulunterricht thematisieren will – mit Ausnahme des Literaturprogramms, wie es scheint.


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