Im Jahr 2019 müssen sich Politikerinnen immer noch mit frauenfeindlichen Kommentaren zu ihrem Aussehen herumplagen. Warum uns das alle etwas angeht.
„Lange Haare stehen dir so viel besser als kurze“ – bekommt man als Frau einen solchen Kommentar, ist das mehr als nur eine Geschmacksbekundung. Stets schwingt auch der Subtext mit: So siehst du weiblicher und heterosexueller aus. Eine Frau mit kurzen Haaren entspricht einfach nicht dem Weiblichkeitsideal. Vor allem dann, wenn diese Frau noch recht jung ist und ihre Haare grau sind.
Genau dafür musste diese Woche die Ministerin Sam Tanson Kritik einstecken. In einem anonymen Brief wurde nämlich ihre „männliche Frisur“ beanstandet. „Das ist ein No Go für eine Ministerin. Auf diese Weise blamieren Sie sich selbst, Ihre Familie und unser Land auf der ganzen Welt!!!“ Die Frau, die es eigenen Worten zufolge gut meint, rät Tanson, sich eine neue Frisur und ein neues Outfit zuzulegen. Erst dann könne sie sich mit „Lydia Polfer und Tania Bofferding in einem Spiegel betrachten“.
Einen solch sexistischen Kommentar hört die Ministerin wahrscheinlich nicht zum ersten Mal. Neu ist, dass diesmal die breite Öffentlichkeit davon erfährt. Tanson hat den Brief nämlich am Dienstag auf Twitter und Facebook gepostet. Wie Reaktionen darauf von Corinne Cahen und Taina Bofferding zeigen, scheint sie mit ihren Erfahrungen nicht alleine zu sein.
Als Alyssa Milano im Oktober 2017 dazu aufrief, den Hashtag MeToo zu benutzen, ging es darum, ein Bewusstsein für das Ausmaß sexualisierter Gewalt zu schaffen. Es war ein wichtiger Schritt weg von der omnipräsenten Schweigekultur, die zuvor geherrscht hatte. Die Reaktionen auf Tansons Tweet zeigen, dass manche sich scheinbar immer noch wünschen, Frauen würden nicht über die Belästigungen und sexistischen Kommentare reden, die sie fast täglich erfahren. Manchen werfen der Ministerin vor, sich damit nur ins Gespräch bringen zu wollen, andere raten ihr, Kommentare dieser Art einfach zu ignorieren. Solche Reaktionen zeugen ebenso von einem mangelnden Bewusstsein für die Problematik wie die zahlreichen Kritiken und Komplimente, die Tanson in den letzten Tagen bezüglich ihres Looks erhielt. Mit ihrem Post wollte sie auf den Sexismus und Lookismus aufmerksam machen, den sie und andere Politikerinnen erfahren. Was sie sicher nicht beabsichtigte, war ihr Aussehen zum Thema zu machen.
Geschlechtergerechtigkeit kann nicht erreicht werden, solange wir Vorkommnisse wie dieses banalisieren.
Aufmunternde Sprüche sind in einer solchen Situation genauso fehl am Platz wie Rosen zum Weltfrauenkampftag. Stattdessen bedarf es einer Reflexion darüber, welche Mechanismen dazu führen, dass weibliche Politikerinnen noch immer nach anderen Kriterien bewertet werden als männliche. Und das bedeutet auch, die eigenen Meinungen und Vorurteile zu hinterfragen. Wie viele Menschen sind willens, darüber nachzudenken, was das eigene Wahlverhalten mit internalisiertem Sexismus zu tun hat?
„Haben wir keine größeren Probleme, als über Sam Tansons Haare zu diskutieren?“, mögen sich einige fragen. Dabei geht es hier um viel mehr als das. Es geht um gesellschaftlich tief verwurzelte sexistische Haltungen, darum, dass uns von klein auf vermittelt wird, was sich für Mädchen und Jungs, Frauen und Männer jeweils „gehört“. Es geht darum, dass strukturelle Diskriminierung und Alltagssexismus in einem Kontinuum stehen und Geschlechtergerechtigkeit nicht erreicht werden kann, solange wir Vorkommnisse wie dieses banalisieren. Es gibt in der Tat nicht viele Probleme, die größer sind als das.
An der Série anonym Courriers‘en déi een sou als (weiblech) Politiker kritt. pic.twitter.com/w9fZY7Y9gX
— Sam Tanson (@SamTanson) March 26, 2019