IVL: Konzept ohne Handlung

Auf den ersten Blick scheint das lang erwartete IVL richtige Signale zu setzen.
Doch hinter den Ermahnungen und den Tram-Rosinen verstecken sich Laisser-faire und Denkverbote.

Das integrative Verkehrs- und Landesentwicklungskonzept (IVL) ist da. Als es vor zwei Jahren angekündigt wurde, sahen die einen darin eine Alibi-Studie, andere hofften auf ein Signal für die überfällige Wende in der Verkehrspolitik. Das Ergebnis, mit Spannung erwartet von Parteien und Umweltorganisationen, von Ministerien und Bürgerinitiativen, ist lesenswert.

Die Studie zeige eine Reihe von Fehlentwicklungen der vergangenen Jahrzehnte auf, so der zuständige Innenminister Michel Wolter. Problematisch ist zum Beispiel, dass immer mehr BürgerInnen die städtischen Zonen im Zentrum und im Süden des Landes verlassen und in ländliche Regionen ziehen. Das schwäche die wichtige Siedlungskonzentration der urbanen Zentren, sorgen sich die IVL-ExpertInnen. Auch müsse die im internationalen Vergleich niedrige Besiedlungsdichte erhöht werden, „um den Verbrauch an Flächen zu senken und die Möglichkeiten für die Erschließung mit öffentlichem Nahverkehr zu verbessern.“

Späte Einsicht

Erstaunlich ist die errechnete Größe der schon jetzt vorhandenen freien Flächen: 6.300 Hektar, ohne dass auch nur ein Bauperimeter erweitert oder eine neue Industriezone ausgewiesen werden muss. Würden, wie im „Pendlerszenario“ durchgerechnet, neue Arbeitsplätze überwiegend von GrenzgängerInnen besetzt, so würde das sogar reichen, einen Anstieg auf 511.000 EinwohnerInnen im Jahr 2020 zu verkraften.

„Analytisch gesehen stellt das IVL einen Quantensprung dar“, findet auch Blanche Weber, Präsidentin des Mouvement écologique. Die Baulandreserven nutzen, die Besiedlung entlang der Schienenverbindungen fördern, eine Tramstrecke im Süden anlegen – damit ist sie durchaus einverstanden. Allerdings sei ein Teil der IVL-Vorschläge bereits im Koalitionsprogramm von 1999 angekündigt worden und noch immer nicht realisiert.

Auch für das Grün im Herzen Europas haben die IVL-ExpertInnen eine Lanze gebrochen. Sie schreiben: „Mit seinen herausragenden Landschaftsqualitäten und vielfältigen Siedlungsstrukturen bietet das Großherzogtum Luxemburg gute Voraussetzungen für das Gestalten von urbanen Qualitäten, wie sie in der europäischen Standortkonkurrenz von den Trägern einer wissensbasierten Ökonomie eingefordert werden.“ Deshalb soll der Grüngürtel im Süden der Stadt Luxemburg als Naherholungsgebiet erhalten werden – in Form eines Regionalparks. Und bei der Entwicklung des Südwestens der Stadt Luxemburg soll eine „beispielhafte Grünvernetzung“ geschaffen werden.

Schließlich geben die Verkehrsanalysen im IVL in manchen Punkten den Bürgerinitiativen Recht, die sich gegen die vielen Straßenbauprojekte zur Wehr gesetzt haben. Insbesondere die „Liaison de Sélange“, die Anbindung der Collectrice du Sud an das belgische Straßennetz, wurde abgelehnt. Demgegenüber reiche der bisher vorgesehene Ausbau im Bereich des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) nicht aus. Deshalb schlägt die Studie zusätzliche Tramlinien in der Südregion und im Südwesten der Stadt Luxemburg vor. Damit könne der ÖPNV-Verkehrsanteil auf bis zu 22 Prozent im Jahr 2020 erhöht werden. Aufgrund der wachsenden Bevölkerung wird sich die Zahl der PKW-Fahrtbewegungen dennoch weiter erhöhen, stellt das IVL fest. Das wird vor allem die BefürworterInnen neuer Straßen freuen.

Kein Handlungskonzept

Die Regierung will die im IVL enthaltenen Vorschläge nicht von oben herab umsetzen, sondern einen Diskussionsprozess einleiten, erklärt Michel Wolter. Das IVL sei aber mehr als nur eine Ansammlung frommer Wünsche. Es zeige mit großer Klarheit, in welche Richtungen sich Luxemburg entwickeln könne, und was passiert, wenn kein Umdenken erfolgt. Der Minister ist gespannt, ob die Gesellschaft die Kraft finden wird, diese Debatte zu führen.

Doch Michel Wolter scheint selbst seine Schwierigkeiten mit dem Umdenken zu haben. Die Frage, was für Luxemburg besser ist, mehr GrenzpendlerInnen oder mehr EinwohnerInnen, wird vom IVL klar beantwortet: „In Abwägung der Vor- und Nachteile beider Szenarien empfiehlt die Expertengruppe die Verfolgung des Einwohnerszenarios, da hier die für die angestrebten Entwicklungsziele erforderlichen Einwohnerpotenziale besser mobilisiert werden und gleichzeitig der Verkehrsaufwand weniger wächst.“ Auf diesbezügliche Fragen antwortet der Minister, er könne nicht in die Glaskugel schauen. Ob zusätzliche ArbeitnehmerInnen nach Luxemburg ziehen oder nicht, darauf könne man kaum Einfluss nehmen. Was aber, wenn nicht die Einflussnahme auf solche Prozesse, können die IVL-ExpertInnen gemeint haben, als sie schrieben: „Das Großherzogtum Luxemburg hat eine Entwicklungsschwelle erreicht, die ein konsequentes Handeln des Staates für eine zukunftssichere Entwicklung des Landes erfordert“?

Problematisch ist nicht nur, wie die Regierung das IVL auslegt. Im 150-seitigen Dokument werden wichtige Fragen ausgeblendet. Zum Beispiel die der Prioritäten. „Die Budgetmittel für die bereits beschlossenen Schienenprojekte sind noch immer nicht abgesichert“, kritisiert Blanche Weber. In Zeiten knapper Kassen müsse der Staat Schwerpunkte setzen. Das IVL untersuche eine Vielzahl von Verkehrsprojekten, mache aber keine klaren Aussagen über ihr Kosten-Nutzen-Verhältnis.

Gerade bei den Straßenprojekten hat das IVL keine Flurbereinigung vorgenommen, wie man es eigentlich hätte erwarten können. Der Ablehnung der „Liaison de Sélange“ zum Beispiel steht der umstrittene Ausbau der Autobahnen zwischen Mamer und Düdelingen auf sechs Spuren gegenüber. Nur so könne der Transitverkehr weiterfließen, so die diskussionswürdige Begründung im IVL. Die Westtangente zwischen Mersch und Mamer soll trotz „landespflegerischer“ Bedenken gebaut werden, um die Ortsdurchfahrten zu entlasten. Die gleiche Überlegung lassen auch die Ortsumgehungen von Bascharage und Dippach wünschenswert erscheinen. Dass so eine neue Achse Mersch-Petingen geschaffen wird, die den vom IVL als Regionalpark ausgewiesenen Grüngürtel durchschneidet, scheint den PlanerInnen entgangen zu sein. Auch im Fall der Stichstraße Kopstal-Walferdingen – das vorletzte Glied im Ring rund um die Stadt Luxemburg, konnte sich das IVL-Team nicht zu einem klaren Nein durchringen. Symptomatisch ist schließlich die Tabelle der Straßenbauprojekte im Anhang 1. Es ist die gleiche Liste, die vor zwei Jahren vorgelegt wurde und eigentlich als Input für das IVL gedacht war – eine Bewertung der Projekte fehlt auch weiterhin.

Die Studie erweckt teilweise den Eindruck, dass Textpassagen von StraßenbauerInnen und solche von LandesplanerInnen nebeneinander gesetzt wurden. Ist auf Seite 95 eine „beispielhafte Grünvernetzung“ im Südwesten der Stadt Luxemburg vorgesehen, so wird auf Seite 44 die verkehrstechnische Erschließung geplant, mit folgendem Fazit: „Aus landschaftsplanerischer Sicht ist eine weitere Zerschneidung und Verlärmung des ohnehin schon stark vorbelasteten Raums zu erwarten, so dass dieser seine Bedeutung als Naherholungsraum kaum noch wahrnehmen kann.“ Doch an keiner Stelle wird eine Abwägung zwischen solchen Überlegungen vorgenommen.

Tabu Tanktourismus

Regelrechte Denkverbote scheinen den PlanerInnen in ein paar besonders sensiblen Bereichen auferlegt worden zu sein. So wird zum Beispiel betont, wie wichtig der Flughafen für die Erreichbarkeit des Standortes Luxemburg ist. Dabei solle man aber auf strenge Lärmschutzwerte achten, fügen die IVL-ExpertInnen hinzu. Ausgeblendet wird die Frage nach der Kosten-Nutzen-Bilanz eines Ausbaus des Cargoverkehrs. Ähnlich unlogisch erscheint, dass großzügig Tramlinien in der Südregion und am Stadtrand von Luxemburg angedacht sind, die Frage nach Trassen durch die Innenbereiche von Belval-West und Luxemburg-Stadt aber ausgeklammert wird. Auch das Thema Tanktourismus findet keine Erwähnung. Zwar empfehlen die IVL-ExpertInnen, „Kostenwahrheit im Verkehr einzuführen“. Doch die in der Studie enthaltenen Verkehrsszenarien setzen voraus, dass sich an den Treibstoffpreisen und am Fluss des Tanktourismus nichts ändert. Man kann davon ausgehen, dass die gleichen Szenarien bei steigenden Treibstoffpreisen zu einem wesentlich höheren ÖPNV-Anteil für 2020 führen würden. Damit würde auch die Notwendigkeit eines Teils der Straßenprojekte in Frage gestellt.

Bei der Vorstellung des IVL konterte Wirtschaftsminister Henri Grethen solche Überlegungen mit dem Hinweis auf den Geldsegen für den Luxemburger Sozialstaat, der vom Tanktourismus ausgeht. Dass dieser Geldsegen auf Kosten von Mensch und Umwelt geht, scheint ihn nicht zu stören. Damit hat er die von seinem Ministerkollegen aufgeworfene Frage bereits beantwortet.


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