Argentiniens Geschichte der letzten sechs Jahrzehnte ist untrennbar mit dem Peronismus verbunden. Die als künftige Präsidentin gehandelte Cristina Fernández vergleicht sich jedoch lieber mit Hillary Clinton als mit Evita.
Héctor Olguin gerät ins Schwärmen. „Sie ist schön, und sie ist intelligent. Die ganze Welt wird vor Neid erblassen“, sagt der Zeitungsverkäufer und zeigt auf die Auslage seines Kiosks: „Und sie ist wie eine Königin.“ Die Frau mit dem kastanienbraunen Haar, von der er spricht, ist auf den Titelseiten mehrerer Zeitungen abgebildet. „Von wem redest du?“, fragt ein Kunde. „Von Cristina natürlich“, entgegnet Héctor. Der andere winkt ab: „Die Peronisten haben uns ins Verderben gestürzt.“ Die Zeitungen verkaufen sich gut an diesem Septembertag im Zentrum von Buenos Aires. Die Schlagzeilen der argentinischen Presse beherrscht ? außer Fußball oder die Erfolge der Rugby-Nationalmannschaft beim Worldcup ? die Ehefrau des Präsidenten: Cristina Fernández. Sie hat ihren Mann Néstor Kirchner nach New York begleitet. Dort hält das Staatsoberhaupt eine Rede vor den Vereinten Nationen, während sie sich an der Wallstreet mit potenziellen Investoren trifft.
Die „Primera Dama“ vom Rio de la Plata wird häufig mit Hillary Clinton verglichen und kehrt selbst gern die Gemeinsamkeiten mit der einstigen First Lady der USA hervor. Eine davon ist, dass sich beide Frauen um das höchste Amt in ihrem jeweiligen Land bewerben. Doch während die eine noch einen langen Vorwahlkampf vor sich hat, gilt ihr südamerikanisches Pendant bereits als sichere Siegerin der Präsidentschaftswahl am 28. Oktober. Vieles spricht dafür, dass Cristina Fernández das Rennen um die Nachfolge ihres Mannes im ersten Wahlgang gewinnt. Umfragen zufolge kann die Präsidentengattin mit der Hälfte der Stimmen rechnen. Nach dem argentinischen Wahlgesetz reichen 45 Prozent oder mindestens 40 bei einem Abstand von zehn Prozentpunkten zum Sieg.
Die Vita von Cristina Fernández de Kirchner liest sich wie die Chronik eines angekündigten Sieges: 1989 Parlamentsabgeordnete, 1995 Senatorin für die patagonische Porvinz Santa Cruz, seit 2005 vertritt sie die bevölkerungsreichste argentinische Provinz Buenos Aires im Senat. Ihre Initialen CFK stehen für Glamour. Die zweifache Mutter trägt bevorzugt extravagante Kleider und teuren Schmuck. Ohne Make-up gehe sie nicht aus dem Haus, heißt es. „Selbst ein Bombenangriff könnte mich nicht davon abhalten“, sagt die Politikerin. „Nues-tra Senora del Shopping“, schimpfen sie ihre Gegner. Vielen gilt sie als launisch, eitel und arrogant.
Für ihre Anhänger ist sie dagegen „eine neue Evita“, wie Zeitungsverkäufer Héctor sagt. Der Vergleich mit der Frau des einstigen Staatsführers Juan Domingo Perón und Nationalheiligen vieler Argentinier ist naheliegend. Bei einem Auftritt im Luna Park von Buenos Aires sprach Cristina, wie sie von ihren Landsleuten einfach nur genannt wird, vor einem überdimensionalen Bild Evita Peróns. Wie ihr Mann war Cristina Fernández früh dem „Partido Justicialista“ (PJ) beigetreten, der auf Perón zurückgehenden Gerechtigkeitspartei. Als beide einander in den Siebzigerjahren während des Jurastudiums an der Universität von La Plata kennen lernten, waren sie in der linken „Juventud Peronista“ aktiv. Um den Schergen der Militärdiktatur (1976-1983) zu entkommen, zogen sie sich nach Patagonien zurück. In dem Städtchen Rio Gallegos begann der Aufstieg des Politikerpaares. Kirchner lenkte als Gouverneur über ein Jahrzehnt lang die Geschicke der ölreichen Provinz ? bis er 2003 vom damaligen peronistischen Interimspräsidenten Eduardo Duhalde zum Kandidaten für das höchste Staatsamt erkoren wurde.
„Der Wandel hat erst begonnen“, heißt die zentrale Botschaft von Cristina Fernández. Einen grundlegenden Wechsel in der argentinischen Politik und Gesellschaft und einen Bruch mit den Traditionen kündigte bereits
Nestor Kirchner nach seinem Amtsantritt im Mai 2003 an. Dem heute 57-Jährigen gelang es, Argentinien nach dem wirtschaftlichen, sozialen und politischen Crash um die Jahrtausendwende aus der Staatskrise zu führen. Dabei war der Nachkomme kroatischer und schweizerischer Einwanderer zu Beginn ein unbeschriebenes Blatt. Als Kompromisskandidat ins Rennen um die Präsidentschaft geschickt, erreichte er im ersten Wahlgang den zweiten Platz hinter Ex-Staatschef Carlos Menem. Da alle Umfragen für die Stichwahl einen hohen Sieg Kirchners voraussagten, zog Menem seine Kandidatur zurück – und Kirchner in den Präsidentenpalast Casa Rosada ein.
Kaum im Amt, überraschte der Linksperonist alle. In kurzer Zeit handelte Kirchner auf verschiedenen Politikfeldern schnell und entschieden (woxx 886). Der gelernte Jurist setzte neue Akzente in der Menschenrechtsdiskussion, im Kampf gegen die Korruption und in der Reform des Jus-tizapparats. Nicht zuletzt gelang es Kirchner, die argentinische Wirtschaft zu beleben. Vier Jahre lang verzeichnete sie ein Wachstum von acht bis neun Prozent. Der Anteil der Menschen an der Gesamtbevölkerung, die unter der Armutsgrenze leben, sank von 57 Prozent im Jahr 2002 auf 35 Prozent 2006. Die Arbeitslosenrate fiel von über 20 auf etwa zehn Prozent. Allerdings arbeiten viele Menschen unter prekären Verhältnissen.
Kirchner erfreut sich trotzdem einer fast ungebrochenen Zustimmung, selbst wenn Kritik an seinem autoritären Regierungsstil laut wurde und sein Kabinett nicht von Korruptionsskandalen verschont blieb. Zum einen setzte er wie Vorgänger Duhalde auf soziale Hilfsprogramme, zum anderen betonte er außenpolitisch die Eigenständigkeit Argentiniens gegenüber dem Internationalen Währungsfonds (IWF), den Ausbau des Mercosur und die Distanz zu den USA. Er paktierte mit Venezuelas Präsident Hugo Chávez, der argentinische Anleihen kaufte und dem Land billiges Öl liefert. Im Handumdrehen beglich der Pampastaat seine Schulden beim IWF.
Die Senats- und Parlamentswahlen im Oktober 2005 gewann Kirchners Wahlverein „Frente para la victoria“ mit 40,1 Prozent im Abgeordnetenhaus. Außerdem gewann Cristina Fernández das symbolträchtige Duell um den Senatorenposten mit ihrer Konkurrentin Hilda Duhalde, der Frau von Kirchners Vorgänger ? zugleich ein Machtkampf innerhalb der peronistischen Partei.
Keine politische Bewegung hat jemals einen derart großen Einfluss in Argentinien ausgeübt, keine hat das Land so sehr geprägt wie der Peronismus. Dieser ist traditionell populistisch, autoritär und nationalistisch. Er steht für staatliche Eingriffe in die Wirtschaft und Binnenmarktorientierung. Der Mussolini-Bewunderer Perón instrumentalisierte in den 1940er Jahren die Gewerkschaften als Machtfaktor. Er ließ die Löhne anheben, den Kündigungsschutz verbessern und führte die Rentenversicherung ein.
Das Ziel von Peróns „drittem Weg“ zwischen Kapitalismus und Kommunismus war es, dass Unternehmer und Arbeiter gemeinsam das Land gestalten. Als Leiter des Arbeits- und Wohlfahrtssekretariats, der sich zusammen mit anderen Offizieren 1943 an die Macht geputscht hatte, verschaffte er den Armen aus den Elendsvierteln einen besseren Lebensstandard. Derweil wurde „Santa Evita“ zur Schutzpatronin der Armen. Krankenhäuser, Schulen, Kinder- und Altenheime wurden eingerichtet, Frauen erhielten das Wahlrecht. Während Perón für die Mittelschicht und die Militärs stand, mobilisierte Evita die unterprivilegierten Massen. Im Oktober 1945 zogen die „Descamisados“, die Hemdlosen, ins Zentrum von Buenos Aires und erzwangen die Freilassung Peróns, nachdem er von den Militärs festgenommenen worden war. Der 17. Oktober wird bis heute als Tag der Treue und als Gründungsdatum des Peronismus gefeiert.
Perón wurde 1946 zum Präsidenten gewählt und 1951 im Amt bestätigt. Der Wohlstand des Landes, das dem Europa der Nachkriegszeit als Lieferant von Nahrungsmitteln und Textilien diente, erlaubte ihm die Verstaatlichung der Wirtschaft. Neben der Bindung an einen charismatischen „lider“, der allgegenwärtigen Propaganda und der Unterdrückung der freien Presse hatte Perón ein weiteres Merkmal mit den Faschisten gemein: den Schulterschluss mit den Arbeitgebern. Für den Politologen Carlos S. Fayat steht fest: „Der Peronismus ist die argentinische Version des Faschismus.“ Die Soziologin Maristella Svampa meint hingegen: „Der Peronismus ist als Populismus zu verstehen und in diesem Sinne ein spezifisches lateinamerikanisches Phänomen. Europäer neigen dazu, ihn als Faschismus zu verstehen, aber er ist es nicht. Er ist eher eine Demokratisierung über einen autoritären Weg.“
Die peronistische Misswirtschaft führte das Land in die Krise. Der dritte Weg hatte sich als Irrweg erwiesen. Die Reserven waren verschleudert, nur noch die Vetternwirtschaft blühte, die Repression nahm zu. Die Militärs stürzten Perón 1955, und der Caudillo floh ins Exil nach Spanien. Die Peronisten wurden 18 Jahre lang von den Wahlen ausgeschlossen. Das Verbot trug jedoch wesentlich zur Herausbildung der peronistischen Identität bei. Der Peronismus war aber längst keine einheitliche Bewegung mehr. Er diente sowohl der nationalrevolutionären Linken als auch Rechtsextremen als Projektionsfläche.
Als der 78-jährige General am 20. Juni 1973 aus dem Exil zurückkehrte, strömten Hunderttausende zum Flughafen Ezeiza. Der Empfang endete in einem Massaker von rechtsgerichteten Gewerkschaftern an Mitgliedern des linken Flügels. Etwa 25 Menschen starben, über 400 wurden verletzt. Perón selbst wurde kurze Zeit später wieder zum Staatsoberhaupt gewählt. Als er 1974 starb, übernahm seine dritte Frau Isabel Perón das Amt. Das Land versank in einem Chaos bürgerkriegsähnlicher Zustände und Wirtschaftskrise. Innerhalb des Peronismus bekämpften sich die rechtsextremen Todesschwadronen der „Triple A“ und die linke Guerilla der „Montoneros“ ? bis das Militär erneut putschte und die brutalste Diktatur Südamerikas errichtete, der 30.000 Argentinier zum Opfer fielen.
Viele Peronisten mussten während der Diktatur untertauchen. Nachdem die Militärs das Land heruntergewirtschaftet hatten und in Argentinien 1983 die Demokratie Einzug erhielt, verloren sie zum ersten Mal eine Präsidentschaftswahl. In der Folgezeit erwiesen sich einmal mehr die Gewerkschaften als wichtigstes Standbein der Bewegung ? und als destruktive Kraft: Durch Streiks legten sie in den Achtzigerjahren während der Amtszeit des Präsidenten Raúl Alfonsín von der traditionsreichen, sozialdemokratischen „Unión Cívica Radical“ (UCR) das Land lahm. Als sein Nachfolger, der Peronist Carlos Menem, 1989 die Macht übernahm, benutzte er zunächst die traditionelle peronistische Rhetorik. Danach verwandelte Menem Argentinien in ein neoliberales ?Musterland‘, geprägt von Deregulierung, Marktöffnung, Arbeitslosigkeit und Korruption. Binnen kürzester Zeit ließ das für seinen ausschweifenden Lebensstil bekannte Staatsoberhaupt alles privatisieren, was Perón einst verstaatlicht hatte, und betrieb einen Totalausverkauf des Landes, nicht ohne einen Teil der Erlöse in die eigene Tasche wandern zu lassen. Die Auslandsverschuldung hatte gigantische Ausmaße angenommen und die Kluft in der argentinischen Gesellschaft war größer als jemals zuvor. Im Verlauf der Neunzigerjahre waren sieben Millionen Menschen ? jeder fünfte Argentinier ? von der Mittelklasse in die Armut abgestiegen. Die Kriminalität breitete sich aus, die Zahl der Gewaltdelikte stieg in fünf Jahren um 40 Prozent.
Derweil steckte der Peronismus in einer internen Krise und war von vielen bereits totgesagt. „Während der 90er Jahre hörte der Peronismus auf, das Artikulationsprinzip zwischen Arbeiteridentität und Nationalgefühl zu sein“, erklärt Maristella Svampa. In der Opposition gelang es zumindest, destruktive Kräfte wiederzubeleben: Landesweite Generalstreiks häuften sich als Reaktion auf die Sparpakete der seit 1999 regierenden Mitte-Links-Koalition von Fernando De la Rúa (UCR). Im Dezember 2001 überschlugen sich die Ereignisse. Der Versuch, eine Notstandsregierung zu bilden, scheiterte am Widerstand der Peronisten. De la Rúa floh unter dem Eindruck landesweiter Proteste aus dem Präsidentenpalast. Die Unruhen forderten rund 30 Tote.
Die Krise von 2001 bedeutete zugleich die Renaissance des Peronismus. Der vom Kongress am Neujahrstag eingesetzte Eduardo Duhalde, der das Präsidentenamt bis zum Mai 2003 ausübte, verfügte als langjähriger
PJ-Gouverneur der Provinz Buenos Aires über eine starke peronistische Hausmacht. Im Gegensatz zu Menem rückte er die soziale Gerechtigkeit in den Vordergrund. Seine Regierung legte verschiedene Nothilfeprogramme auf. Durch die Vergabe der Hilfsgelder erlebten die Peronisten einen erneuten Zulauf. Zugleich entbrannte innerhalb der Partei ein Machtkampf. Nach heftigen Querelen traten im April 2003 drei PJ-Politiker zur Präsidentschaftswahl an. Die Gerechtigkeitspartei war erneut gespalten, diesmal zwischen neoliberalen Menemisten und den Befürwortern eines keynesianischen Wirtschaftsmodells wie Duhalde und Kirchner.
Nach vier erfolgreichen Jahren als Präsident hat Kirchner nun auf eine weitere Kandidatur verzichtet und stattdessen seine Frau nominiert. Er will in den Hintergrund treten, ohne die Macht ganz aufzugeben. Fast die Hälfte der Argentinier ist überzeugt, dass er 2011 seiner Frau als Präsident folgen wird. Bis dahin will sich Kirchner dem Aufbau einer neuen Partei widmen. Vieles deutet darauf hin, dass Cristina Fernández den politischen Kurs ihres Mannes fortsetzt. Im Falle eines Wahlsiegs strebt sie eine große Koalition an. In ihrer „Frente para la victoria“ befinden sich neben Peronisten auch Sozialisten und frühere Mitglieder der UCR. Mit der Kandidatur von Julio Cobos für den Posten des Vizes gelang Cristina Fernández ein Coup. Der Gouverneur der Provinz Mendoza war zuvor aus der UCR ausgeschlossen worden.
Der PJ ist mit ihren 4,5 Millionen Mitgliedern seit vier Jahren ohne Vorsitzenden und existiert nur noch als Phantom. Das Erbe von Juan Domingo Perón wiegt schwer. Am 17. Oktober vergangenen Jahres, dem „Tag der Treue“, hatte man seine Leiche aus der Familiengruft geholt. Die sterblichen Überreste des Generals sollten vom Friedhof Chacarita in ein Mausoleum auf seinem früheren Landsitz gebracht werden. Doch was als Gedenkfeier geplant war, endete im Chaos: An der neuen Ruhestätte lieferten sich die „Trauergäste“ eine Schlacht. Etwa 50 Personen wurden durch Steinwürfe, Prügel mit Holzlatten und durch Schüsse verletzt. Es war nicht das erste Mal, dass der Leichnam Peróns keine Ruhe fand: Bereits 20 Jahre zuvor waren Unbekannte in die Familiengruft eingebrochen. Sie hatten die Hände des Toten abgeschnitten. Diese sind bis heute nicht mehr aufgetaucht.
Bustos Domecq berichtet für die woxx aus Argentinien.
Auf verlorenem Posten
Bei der Präsidentschaftswahl am 28. Oktober rechnen sich die anderen 13 Kandidaten gegen Cristina Fernández de Kirchner nur wenige Chancen aus. „Cristina Fernández wird gewinnen, weil es an einer starken Opposition fehlt“, meint der Journalist Joaquin Morales Sola. Am ehesten könnte es der frühere Wirtschaftsminister Roberto Lavagna schaffen, die Präsidentengattin in eine Stichwahl zu zwingen. Der ehemalige Stratege der erfolgreichen Wirtschaftspolitik unter Eduardo Duhalde und Nestor Kirchner war im November 2006 von Präsident Kirchner entlassen worden. Zu dessen schärfsten Kritikern zählen der Wirtschaftsliberale Ricardo López Murphy und die frühere Abgeordnete Elisa Carrió von der linksliberalen „Alternativa por una República de Iguales“ (ARI).