SCHULE: Piloten gesucht

Das Unterrichtsministerium plant ein Modellversuch im technischen Sekundarunterricht, um dem Schulversagen vieler überforderter SchülerInnen beizukommen. Noch bleiben aber viele Fragen offen.

Ehrenrunde ist nicht gleich Ehrenrunde. Das weiß jedeR, der ein oder mehrmals in der Schule sitzen geblieben ist. Die euphemistische Bezeichnung für Schulversagen kann kaum den Druck verbergen, dem viele SchülerInnen heutzutage in der Schule ausgesetzt sind und den immer weniger von ihnen bewältigen können: JedeR dritte SchülerIn in Luxemburg schafft die 7. Klasse des technischen Sekundarunterrichts (EST) nicht im ersten Anlauf, in der 8. und 9. Klasse liegt die durchschnittliche Schulversagerquote bei etwa 20 Prozent, um dann in der 10. wieder auf 30 Prozent anzusteigen. Kein neuer Trend, sondern ein Phänomen, auf das LehrerInnen und Eltern bereits seit vielen Jahren vergeblich hinweisen.

Hinter dem schulischen Misserfolg steht meist mindestens ein Hauptfach: Neben der Mathematik tun sich viele luxemburgische SchülerInnen mit den Anforderungen im Französischen schwer, bei den portugiesischen Kindern ist es das Deutsche und die ebenfalls auf Deutsch gehaltenen so genannten Nebenfächer, an denen viele scheitern.

„Sprachliche Lücken dürfen nicht länger Hinderungsgrund sein, einen Beruf zu erlernen“, sagte Marc Barthelemy auf einer Pressekonferenz am vergangenen Dienstag. Der Staatsbeamte aus dem Unterrichtsministerium ist einer der Hauptverantwortlichen für ein für diesen Herbst 2003 geplantes Pilotprojekt, das es in sich hat: Der „Cycle inférieur“, also jene drei Schuljahre des technischen Sekundarunterrichts, welche SchülerInnen absolvieren, die nach der Primärschule keine Empfehlung für das klassische Gymnasium bekommen haben, deren schulische Leistungen aber die Anforderungen des Régime préparatoire übersteigen, soll umgestaltet werden.

Falsch orientiert

„Die Orientierung nach der 9. Klasse glückt meist nicht, weil die Kriterien nicht stimmen“, erklärt Barthelemy, der selbst viele Jahre Mathematiklehrer im EST war. Viele SchülerInnen würden auf Schulzweige orientiert, für die ihre Leistungen nicht ausreichten. Der Fehler hat System: Nach dem jetzigen Modus erlaubt ein guter Notendurchschnitt, etwa durch sehr gute Leistungen in Mathe, auch SchülerInnen mit geringen Sprachkompetenzen den Zugang zu höheren Schulzweigen, oft mit frustrierenden Konsequenzen. Viele packen die schulischen Anforderungen dann doch nicht, wiederholen eine oder mehrere Klassen oder wechseln schließlich demotiviert in einen niedrigeren Schulzweig – wenn sie denn nicht ganz aussteigen.

Um diesen Trend zu bremsen, sollen nun die Programme im unteren Zyklus abgespeckt und die so genannten „filières“ abgeschafft werden. Im Pilotprojekt, so sieht es ein ministerielles Arbeitspapier vom 16. Januar vor, dienen künftig zwei Drittel der Unterrichtszeit im unteren Zyklus der Vermittlung einer „exigence minimale“ und eines „contenu obligatoire“. Erstere ist eine Art Basiskönnen und Voraussetzung für die weitere Versetzung, Letzterer beschreibt Lerninhalte, die alle SchülerInnen zwar lernen, aber nicht unbedingt können müssen. Das andere Drittel der Gesamtunterrichtszeit steht den Schulen zur eigenen Gestaltung zur Verfügung. Zudem ist eine dreiteilige Bewertung der Sprachen vorgesehen – erstmals sollen auch Noten für das im PISA-Test als so wichtig hervorgehobene Textverständnis („compréhension“) verteilt werden.

Der erhoffte Effekt: Die neuen Zensuren würden die tatsächlichen Leistungen der SchülerInnen besser abbilden. Verbunden mit einer strikter ausgesprochenen Orientierung durch den mit zusätzlichen Kompetenzen versehenen „Conseil de classe“ soll das Sitzenbleiben damit zur Ausnahme werden. Zwei Schulen haben ihre Beteiligung an dem auf mehrere Jahre veranschlagten Modellversuch bereits zugesagt.

„Introduction impromptue d’un tronc commun pur et dur de la 7e à la 9e, critères de promotion plus que nébuleux, programmes alignés sur le niveau le plus bas“, attackierte die Apess die ministeriellen Pläne in einem Leserbrief vom Januar. Ihre polemische Kritik hat die konservative Lehrergewerkschaft nach einem Treffen mit der zuständigen Ministerin Anne Brasseur im Februar zwar relativiert, doch vom Tisch ist sie nicht. Tatsächlich wird das Projekt auch von anderen Gewerkschaften skeptisch beäugt.

„Grundsätzlich gibt es eine ganze Reihe interessanter Ansätze“, erklärt Guy Foetz gegenüber der woxx, „die Entrümpelung der Programme fordern wir ja schon seit zwanzig Jahren.“ Erstaunt zeigt sich der SEW-Vizepräsident aber unter anderem über das Tempo, mit dem das Ministerium das Projekt vorantreibt. „Es fehlt an einer profunden Bestandsaufnahme, das Projekt kommt zu schnell“, so Foetz. Zudem seien ausgerechnet die nationalen Programmkommissionen in die Planung kaum einbezogen – ein Versäumnis, welches zu beheben die Ministerin allerdings versprochen hat.

Weitere Fragen bleiben offen, etwa was zur „exigence minimale“ und was zum „contenu obligatoire“ zählen soll. In der zehnköpfigen Arbeitsgruppe des Ministeriums ist lediglich einE LehrerIn pro Hauptfach vertreten, das spricht nicht gerade für eine objektive Auswahl der neuen Lehrinhalte.

„Wir versuchen uns auf feste Quellen zu berufen“, verteidigt Barthelemy die Vorgehensweise. So habe man sich etwa bei der Wahl der verpflichtenden Inhalte im Fach Deutsch am Mittelstufenzertifikat für Deutsch als Fremdsprache orientiert. Auch für den Mangel an ausgebildeten SpezialistInnen im ministeriellen Team, ein Manko, das übrigens viele ministerielle Projekte kennzeichnet, hat der Beamte eine Erklärung: Die Situation in Luxemburg sei aufgrund der Mehrsprachigkeit eben „sehr eigenartig“.

Doch was ist von dem Einwand zu halten, die Lösung der Sprachproblematik liege gar nicht im Cycle inférieur, sondern in der Grundschule? SkeptikerInnen plädieren dafür, bereits dort mit konkreten Hilfestellungen für SchülerInnen mit Lernschwierigkeiten anzusetzen, „bevor es zu spät ist“.

Es seien noch Verbesserungen in der Primärschule geplant, zudem wolle man nicht so lange warten, heißt es dazu aus dem Ministerium. Eine Sichtweise, die nicht wenige LehrerInnen angesichts des tagtäglichen Scheiterns vieler Jugendlicher im Cycle inférieur teilen.

Torschlusspanik?

„Schlimmer kann es gar nicht kommen“, ist Chantal Serres überzeugt. Die Französischlehrerin, die zugleich im SEW-Vorstand sitzt, befürwortet deshalb das Pilotprojekt, allerdings mit Vorbehalt: Weil viele andere Modellversuche im Schulbereich noch immer einer Evaluation harren, ist Serres misstrauisch, „wie lange der politische Eifer anhalten wird“.

Tatsächlich deutet einiges darauf hin, dass jene Auswertung zum – neuerlichen – „Stiefkind“ zu werden droht: Das Unterrichtsministerium spricht nebenbei bereits von der Ausdehnung des seit zwei Jahren geplanten Projekts. Dabei existiert noch kein fertiges Konzept, auch nicht für eine kontinuierliche wissenschaftliche Evaluation. Und noch etwas könnte die reibungslose Umsetzung des ehrgeizigen Projektes gefährden: 2004 sind Wahlen, und wie wohl gesonnen die Nachfolge-Regierung dem Versuch sein wird, steht noch in den Sternen.

Ines Kurschat


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