Mehr als 50 Jahre nach der Erstpublikation ist Jack Kerouacs Urfassung von „On the Road“ auf Deutsch erschienen. Das Kultbuch der Beat Generation hat dank Bebop-Rhythmus und kongenialer Übersetzung nichts von seiner Faszination verloren.
Es war im Sommer 1988 in München. Ich hing an jedem schönen Tag im Englischen Garten ab, inmitten von Althippies und Punks, jungen und alten Herumtreibern, Globetrottern und Obdachlosen. Wir tranken Unmengen von Bier und rauchten haufenweise Gras. Es war der Sommer, in dem ich „On the Road“ von Jack Kerouac las, die Bibel der Beat Generation.
Der Roman hat mehrere Generationen geprägt und unterschiedliche Subkulturen beeinflusst. Das rauschhafte Lebensgefühl der Beatniks, das er beschreibt, gefiel den Blumenkindern Ende der 60er, der anarchistische Individualismus den Underground-Ikonen der 70er wie Patti Smith sowie zahlreichen Musikern und Poeten, Buch- und Filmautoren danach. Kein Wunder, denn von der Beat Generation der 50er zur Blank Generation der Punks war es nicht weit, wie Victor Bockris, der Chronist der New Yorker Underground-Szene feststellte.
Ebenso haben Filme wie „Easy Rider“ ihre Wurzeln in Kerouacs Schilderungen seiner Trips, Thomas Pynchon bezeichnete „On the Road“ als Offenbarung, Bob Dylan nannte Kerouac als sein literarisches Vorbild, der Gonzo-Journalismus des Hunter S. Thompson übernahm die Spontaneität und die Ich-Perspektive, auch deutsche Dichter wie Rolf Dieter Brinkmann und Jörg Fauser eiferten den Autoren der Beat Generation nach, die für den Anfang der Popliteratur stehen. Nicht zuletzt waren die Beatpoeten die ersten Spoken Word Performer.
Kerouacs wichtigster Roman ist wie die Werke seiner Kumpels Allen Ginsberg, dessen Gedicht „Howl“ ähnlich Literaturgeschichte schrieb, und William S. Burroughs, dessen „Naked Lunch“ ein radikaler Trip in die Tabuzone darstellte, ein Ausbruch aus der Enge, Erstarrung und Langeweile einer saturierten Gesellschaft mit ihrer ganzen Scheinmoral. Viele Nachahmer wollten so leben wie der 1922 in Lowell/Massachusetts geborene Sprössling frankokanadischer Einwanderer, der bürgerlich Jean-Louis Lebris de Kerouac hieß. Mir ging es nicht anders: Wie er trampte ich von Stadt zu Stadt, pries die Straße als meine wahre Heimat und den harten Asphalt als mein Trostpflaster für das chronische Fernweh – und entdeckte einige seiner Vorbilder, die „Poètes maudits“ Arthur Rimbaud und Charles Baudelaire.
Doch mein Interesse an Kerouacs endlosen Streifzügen durch die Vereinigten Staaten und Mexiko, Europa und Marokko sowie seine Exkursionen zum Zen-Buddhismus erlosch allmählich. Vieles in seinen Werken, nicht zuletzt die unzähligen Sauftouren und die dauernde Suche nach Spiritualität, erschien mir auf Dauer redundant – und was seinen Lebensstil anbelangte, kriegte ich die Kurve, bevor es zu spät war, während die alten Weg- und Zechgefährten wegstarben wie Fliegen. Die Taschenbuchausgabe von „On the Road“ vergilbte derweil im Regal.
Ein halbes Leben später erfuhr ich, dass das Buch erstmals in einer Urfassung erschienen sei. Fast genau 50 Jahre nach der Erstveröffentlichung gibt es seit 2007 eine unverfälschte Version des Romans, wie ihn Kerouac 1951 geschrieben hatte. Der Text ist länger, die homosexuellen Anspielungen expliziter, die wirklichen Namen der Personen in dem autobiographisch geprägten Buch werden genannt – sie waren allerdings auch schon vorher kein Geheimnis. Vor ein paar Monaten erschien dann die deutsche Übersetzung von Ulrich Blumenbach, der bereits mit David Foster Wallaces „Infinite Jest“ eine harte Nuss geknackt hatte.
Doch was brachte mich dazu, „On the Road“ erneut in die Hand zu nehmen? Seit Jahren „straight edge“ und damit jedem, auf Alkohol und Drogen basierenden künstlichen Paradies abhold, teilweise verbürgerlicht und einigermaßen durchrationalisiert, die Leber und den Verstand halbwegs gerettet – sich in Kerouacs rauschhaften Sog hinein reißen zu lassen, schien abwegig. Ich kam mir anfangs vor wie ein Fahrradfahrer in einem Roadmovie. Aber gerade das machte den Reiz aus. „Unterwegs“ ohne Drogen, das war die Herausforderung.
Zu Beginn überwog die Skepsis. Doch nach ein paar Seiten wars geschehen, der Bann war verflogen, der Zweifel weggefegt, die Euphorie wieder da. Das Buch rockte noch immer, oder besser: Es jazzte, vielleicht noch mehr als die bisher veröffentlichte Fassung. Einen Großteil der Sogkraft führe ich auf den Rhythmus zurück, in dem der Autor von seinen Reisen erzählt, die er zwischen 1947 und 1950 quer durch die USA und nach Mexiko unternahm – trampend, zu Fuß, mit dem Auto oder dem Überlandbus.
Kerouac behauptete sogar, der heilige Geist hätte ihm den Text diktiert.
Sein Reisegefährte war Neal Cassady, der die meiste Zeit seiner Jugend in Erziehungsheimen verbracht hatte und in mancher Nacht mehrere Autos knackte, von denen er eines nach dem anderen zu Schrott fuhr. Der dionysische Cassady verkörperte jenen Menschenschlag von abenteuerlustigen, entwurzelten Hobos und antibürgerlichen Hipstern, für die sich Kerouac begeistert. Im Buch bezeichnet er sie „die Verrückten, die verrückt leben, die nie gähnen oder Phrasen dreschen, sondern wie römisches Licht die ganze Nacht lang brennen, brennen, brennen.“
Zu dieser Außenseiterbande gehörten auch Ginsberg und Burroughs, die beiden anderen großen Protagonisten der Beat Generation, die mit ihm den radikal hedonistisch-individualistischen Lebensstil und künstlerischen Visionen teilten. Sie waren, wie Kerouac schreibt, „Starkstromgeister“ des Undergrounds. In „On the Road“ stilisierte er sie zu Kultfiguren. In der Urfassung nennt er sie beim Namen und versteckt sie nicht mehr hinter Pseudonymen. Sie brechen mit einer erstarrten und angstbesetzten, saturierten Konsumgesellschaft der paranoiden McCarthy-Ära nach dem Zweiten Weltkrieg und deren Scheinmoral und begeben sich, weitgehend bindungs- und planlos und ständig in Bewegung, auf eine atemlose Suche nach neuen Erfahrungen in Ekstase und Rausch, nach Intensität und Unmittelbarkeit. In „On the Road“ beschwört Kerouac fast religiös das Tempo und feiert das Vagabundentum. Rastlos geht es hin und her zwischen New York, Denver, New Orleans, Texas, Kalifornien. Jack folgt Neal in eine Welt aus Jazz, Drogen und Ekstase. Sie reisen immer weiter, ohne zu halten, und ohne genaue Ahnung, wohin. Neal am Steuer, Jack immer als Beifahrer. Oder sie springen auf Güterwagons auf. Jeder Augenblick, jede Party wird gleichermaßen intensiv genossen. Das Leben wird heilig gesprochen. Kerouac behauptete sogar, der heilige Geist hätte ihm den Text diktiert.
„Alles was ich wollte und was Neal wollte und was alle wollten“, schreibt er, „war, irgendwie ins Herz der Dinge vorzudringen, wo wir uns wie im Mutterschoß einkringeln und dem ekstatischen Schlaf hingeben konnten.“ Diese Stimmung findet ihre Entsprechung in Kerouacs aller Schnörkel entledigter Sprache, die der Autor selbst als „spontaneous speach“ bezeichnete, als würden die Gedanken nach Luft schnappen. Der Rhythmus der Sätze ist der des harten, rohen Bebop, aus dem der Autor seine Inspiration zog. Sie erinnern an Jazz-Improvisationen. Es ist das erste Buch mit eingebautem Soundtrack. In der Urfassung verwendet Kerouac häufig Gedankenstriche, Punkt und Komma sind spärlich gesetzt, Absätze kommen gar nicht vor.
Der Roman wird zu einem Beispiel für ein rauschhaftes und impulsives Schreiben, bei dem es um die „reine Wahrnehmung“ geht. Der damals 29-Jährige schrieb die Rohversion in drei Wochen im April 1951, in denen er sich mit Unmengen Kaffee wach hielt, in einer Art „furor poeticus“ mit seiner Schreibmaschine auf eine Papierrolle von fast 40 Metern Länge, die aus zusammengeklebten Bögen Zeichenpapier bestand. Das Wechseln der Blätter sollte nicht seinen Gedankenfluss unterbrechen. Er tippte so schnell wie kein anderer. Die Papierrolle assoziierte er mit einer endlosen Straße: „Die weiße Mittellinie des Highways zog unter uns hinweg und schmiegte sich an den linken Vorderreifen, als klebte sie an unserem Groove.“
Die Entstehungsgeschichte gehört zum Mythos von „On the Road“. Dabei hatte Kerouac schon seit 1948 an fragmentarischen Textentwürfen gearbeitet und damit Dutzende von Notizheften gefüllt. Zudem verfasste er etwa zeitgleich einen anderen Roman, „The Town and the City“, der 1950 erschien. Für „On the Road“ dauerte es dagegen lange, bis Kerouac einen Verleger fand. Er schrieb den Roman mindestens zwei Mal um, entschärfte und kürzte ihn, schuf zwei unterschiedlich lange neue Versionen, bis Viking Press 1957 das Buch endlich veröffentlichte, in einem anderen Kontext als zur Zeit der Entstehung des Buches.
Zum Staunen der Verleger wurde es dennoch ein großer Erfolg. Schnell wurden die Beatniks, wie viele Subkulturen nach ihnen, vom Mainstream aufgesogen und ausgiebig persifliert. Für Kerouac selbst zahlte sich der Ruhm kaum aus. Er litt ständig unter Geldnot, schrieb noch etliche Bücher – darunter „The Dharma Bums“, „Mexico City Blues“, „The Subterraneans“ und „Vision of Cody“. Einst schwärmte er vom einfachen Leben unter einfachen Leuten als konservatives Gegenbild zum intellektuellen Gehabe der Literaturszene. Er sah sich selbst – insgeheim ein Romantiker – in der Tradition Walt Whitmans, des größten amerikanischen Dichters des 19. Jahrhunderts. Doch vor allem blieb er ein Outcast, der für viele Kritiker lange Zeit mehr ein Chronist einer Künstlerszene war als ein ernst zu nehmender Schriftsteller. Die Kritiker verrissen seine Bücher, seine Magie der Spontaneität betrachteten sie mit Häme. Er verbitterte zusehends, erging sich in chauvinistischen Phrasen und faselte von einer jüdisch-marxistischen Weltverschwörung. Am Ende soff er sich zu Tode: Er starb 1969 im Alter von 47 Jahren an den Folgen des langen Alkoholkonsums. Allen Ginsberg und Bob Dylan sitzen später an seinem Grab, rezitieren Texte und spielen Blues.
Seine männliche Muse aus „On the Road“, Neal Cassady, war bereits ein Jahr zuvor gestorben – vermutlich an einer Überdosis Drogen in Verbindung mit Alkohol. Die Papierrolle, auf die Kerouac das Buch geschrieben hatte, wurde übrigens 2001 von dem Besitzer eines Footballteams bei Christie’s für knapp 2,5 Millionen Dollar ersteigert. Es ist der Rohling zu einem wahren Klassiker der Weltliteratur. Was die Welt 50 Jahre lang las, war nur eine Softversion, ein Kompromiss. Aus Sal Paradise, wie sich der Ich-Erzähler in der alten Druckfassung nannte, ist in der kantigeren, hemmungsloseren Urfassung Jack geworden. Und aus dem künstlichen Paradies das wirkliche Leben. 427 Seiten und mehrere Nachworte zur Analyse und Entstehung des Texts – auf all das sollte sich der Leser bei dem wilden und verrückten Buch, wie es Allen Ginsberg nannte, einlassen können. Wer es vorher nicht verstand, versteht es heute auch nicht. Denn von damals bis heute hat sich Amerika verändert, und doch kaum gewandelt.
Jack Kerouac – On the Road. Die Urfassung. Aus dem Amerikanischen von Ulrich Blumenbach. Rowohlt Verlag, 576 Seiten.