Gegen das Regime: Russlands Mädchen

Der Suhrkamp Verlag bietet mit Darja Serenkos Erzählband „Mädchen und Institutionen: Geschichten aus dem Totalitarismus“ eine feministische Perspektive auf Russland, den Angriff auf die Ukraine und das Schicksal von Aktivist*innen unter Wladimir Putin.

Im September in deutscher Übersetzung beim Suhrkamp Verlag erschienen: Darja Serenkos „Mädchen und Institutionen: Geschichten aus dem Totalitarismus“. (COPYRIGHT: Suhrkamp Verlag)

Früher war sie russische Staatsbeamtin, heute betrachtet Wladimir Putins Regime sie als ausländische Spionin: Die feministische Lyrikerin und Aktivistin Darja Serenko, 1993 in Chabarowsk geboren, hat die unterschiedlichsten Facetten der russischen Politik am eigenen Leib erfahren. In dem Erzählband „Mädchen und Institutionen: Geschichten aus dem Totalitarismus“, im September in deutscher Übersetzung von Christiane Körner im Suhrkamp Verlag erschienen, teilt sie ihre Erlebnisse.

Das Buch, das sich zwischen Fiktion und politischem Essay bewegt, besteht aus zwei Kapiteln. Das erste geht auf den Erzählband „Mädchen und Institutionen“ zurück, den Serenko im November 2021 in Russland publizierte; das zweite auf den Textzyklus „Ich wünsche Asche meinem Haus“, den Serenko während einer fünfzehntägigen Haftstrafe schrieb. Handelt es sich hierbei um persönliche Aufzeichnungen aus dem Gefängnis, besteht das erste Kapitel des Buches aus fiktionalen, größtenteils zusammenhanglosen Geschichten. Dort tauchen die Leser*innen in den Alltag der Staatsbeamtinnen, der Mädchen, wie Serenko sie nennt, ein.

Von der Staatsdienerin …

Sie selbst gehörte jahrelang zu ihnen, denn sie arbeitete an Universitäten, in Galerien und Bibliotheken. „Meine Erfahrungen waren ziemlich krass, und in gewisser Weise verfolgen sie mich bis heute“, schreibt Serenko zu ihrer Zeit für den russischen Staat. Ihre Geschichten strotzen von Misogynie, Intrigen, Manipulation und Unterdrückung, teilweise sogar aus den eigenen Reihen. Serenko geht hart mit den Beamtinnen ins Gericht, ist aber auch nachsichtig. „Zu lügen machte den Mädchen und mir keinen Spaß. Zumal wir es auch nicht richtig gelernt hatten“, heißt es zum Beispiel an einer Stelle. Die Führungsetage verlangt den Mädchen immer wieder Lügen und die Fälschung bestimmter Gegebenheiten ab, genauso wie blinden Gehorsam und die Duldung ihrer ständigen Überwachung durch Kameras in den Büroräumen.

Serenkos Erzählungen erinnern trotz der Ernsthaftigkeit der Sujets an eine Fabel, was nicht zuletzt an ihrer poetischen und kryptischen Prosa liegt. Der erste Teil der Textsammlung verliert dadurch keineswegs an politischer Aussagekraft, lässt den Leser*innen jedoch einen gewissen Interpretationsspielraum. Ein Beispiel hierfür sind Aufzählungen wie diese: „Was unterscheidet Mädchen von Institutionen? Mädchen altern nicht. Mädchen gehen zum Heulen auf die Toilette. Mädchen verspäten sich und haben ein auf links gedrehtes Kleid an. Mädchen werden von der Polizei vorgeladen. Mädchen können Fick dich sagen.“

… zur politischen Feindin

2019 nahm Serenkos Karriere als Staatsbeamtin ein jähes Ende, als sie aufgrund ihrer Teilnahme an regierungskritischen Protesten ihren Job verlor. Noch schlimmer kam es im Februar 2022, im Zuge des russischen Überfalls auf die Ukraine: Serenko wurde aus politischen Motiven zu den eingangs erwähnten fünfzehn Tagen Haft verurteilt. Im Vorjahr hatte sie auf Instagram für taktisches Wählen geworben und dafür Symbole der Smart-Voting-Kampagne der Anti-Korruptionsstiftung des Regierungsgegners Alexej Nawalny benutzt, die die russische Regierung als extremistisch einstuft.

Dadurch, dass Suhrkamp ihre Texte aus der Vorkriegszeit mit den Aufzeichnungen aus dem Gefängnis zwischen zwei Buchdeckeln vereint, wird Serenkos Lebensweg dort an ihrem Schreibstil erfahrbar. Mit dem Arrest und Russlands Überfall auf die Ukraine verändert sich dieser nämlich merklich. Serenko wirkt wütender, ihre Sprache bestimmter. Die Leser*innen werden Zeug*innen ihrer Auseinandersetzung mit Gewalt, der Bedeutung von Krieg – insbesondere für Frauen und Mädchen –, Schuldfragen, Verlust, dem Leben im Exil, Aktivismus und Widerstand. In dem Teil spricht Serenko auch explizit über ihr feministisches Engagement.

Sie erwähnt den Rückzugsort für Feminist*innen mit Burnout am Stadtrand von Moskau, „Femdatschha“, den sie 2020 mitbegründet hat. „Ein halbes Jahr lang haben wir Praktiken zur Selbsthilfe vermittelt, so dass ich mir jetzt sogar in der Zelle ein Retreat einrichten kann“, nimmt Serenko in Haft darauf Bezug. „Das Ziel einer solchen Haft wie meiner ist simpel: die Aktivistin in der Aktivistin abtöten. (…) Ich tue alles, um bei Kräften zu bleiben – dann hat die Strafe nicht den vorgesehenen Effekt.“ Wenige Seiten weiter verweist sie auf ihre Beteiligung an der feministischen Antikriegsbewegung.

Zum Zeitpunkt ihrer Inhaftierung war Serenko bereits fünf Monate im „Feministischen Antikriegswiderstand“, den sie zusammen mit anderen Feminist*innen ins Leben rief, aktiv. Die Bewegung veröffentlichte im Februar 2022 unter anderem ein Manifest, das russische Feminist*innen dazu aufrief, sich gegen den Angriff auf die Ukraine zu stellen. Serenko selbst publizierte ein Schreiben, in dem sie Russ*innen dazu aufforderte, ihre politische Apathie zu überwinden und gegen die Regierung vorzugehen. Ein Thema, das sie auch in ihrem Textzyklus, der nach dem Überfall auf die Ukraine entstand, aufgreift. Im März unterzeichnete die Lyrikerin zudem das internationale „Feminist Resistance Against War: A Manifesto“, das über 150 Feminist*innen weltweit mit ihrer Signatur unterstützten.

Inzwischen lebt Darja Serenko im Exil in Georgien, im Erzählband hinterfragt sie die Notwendigkeit ihrer Ausreise. „Was hätte mich sonst erwartet? Keine Ahnung“, beantwortet sie ihre Frage selbst. Einen Vorgeschmack auf das, was ihr in Russland blühen würde, dürfte die Tatsache geben, dass ihr Textzyklus „Ich wünsche Asche meinem Haus“ nach Aussagen des Suhrkamp Verlags dort nicht erscheinen kann. Konkretere Informationen hierzu gibt es jedoch nicht.

Vorstellbar ist das Verbot allemal: Zum einen aufgrund der direkten Regierungskritik und Serenkos Ruf; zum anderen wegen des Gedichts „Auf Putins Tod“, in dem sie dem amtierenden Regierungschef auch im Jenseits keine Ruhe vergönnt. „Ich hör Vogelzwitschern zu/alles wärmt mich was ich tu/du dagegen auch im Tode /findest nirgends deine Ruh / ei popeia frohgemut/Paradies es geht uns gut /auferstandʼne Edelhirsche / trinken hier dein totes Blut“, dichtet Serenko dort.

Solidarisch zeigt sie sich hingegen mit Frauen. Dazu widmet sie Galja Rymbu, die 2018 mit ihrer Familie in die Ukraine flüchtete, ein Gedicht. Rymbu ist unter anderem aktivistische Feministin, Anarchistin, Übersetzerin und Autorin. In ihrem Gedicht an sie zählt Serenko Frauen auf, die „von Soldaten zu Tode gefoltert (…)/vergewaltigt und zerstückelt (…)“ werden; von der Mutter, „die ihren Sohn vor der drohenden Mobilmachung im Keller versteckt“, aber auch von der Frau, „die ihren Sohn verloren hat und ihn als Held betrachtet, weil sein Tod vollkommen sinnlos war.“

Serenko kontrastiert emotional herausfordernde Passagen wie diese vereinzelt mit Humor, zum Beispiel wenn sie Zitate über ihren Alltag im Knast einstreut („Ich sagʼs, wie es ist: Scheißen geht hier einfach nicht.“). Auch die provokanten Illustrationen von Xenia Chariyeva, die im ersten Kapitel auf den Buchseiten auftauchen, geben Raum zum Durchatmen: Auf einer Zeichnung rekelt sich eine barbusige Figur unter Putins Porträt; auf einer anderen überwacht eine antike Büste, ausgestattet mit einer Kamera, das Geschehen um sie herum. Der Erzählband bleibt dennoch ein erschütterndes Buch, das nur die wenigsten Leser*innen kalt lassen dürfte. Das ist zweifelsfrei dem Inhalt geschuldet, aber auch Serenkos großem Talent, verschiedene Textgattungen miteinander zu verknüpfen und in jeder Form die Tragweite politischer Angriffe sowie totalitärer Regierungsordnungen zum Ausdruck zu bringen.

Darja Serenko: Mädchen und Institutionen. Geschichten aus dem Totalitarismus, Suhrkamp Verlag (ISBN 978-3-518-43137-5), 191 Seiten.

Cet article vous a plu ?
Nous offrons gratuitement nos articles avec leur regard résolument écologique, féministe et progressiste sur le monde. Sans pub ni offre premium ou paywall. Nous avons en effet la conviction que l’accès à l’information doit rester libre. Afin de pouvoir garantir qu’à l’avenir nos articles seront accessibles à quiconque s’y intéresse, nous avons besoin de votre soutien – à travers un abonnement ou un don : woxx.lu/support.

Hat Ihnen dieser Artikel gefallen?
Wir stellen unsere Artikel mit unserem einzigartigen, ökologischen, feministischen, gesellschaftskritischen und linkem Blick auf die Welt allen kostenlos zur Verfügung – ohne Werbung, ohne „Plus“-, „Premium“-Angebot oder eine Paywall. Denn wir sind der Meinung, dass der Zugang zu Informationen frei sein sollte. Um das auch in Zukunft gewährleisten zu können, benötigen wir Ihre Unterstützung; mit einem Abonnement oder einer Spende: woxx.lu/support.
Tagged .Speichere in deinen Favoriten diesen permalink.

Kommentare sind geschlossen.