KRITIK & SOZIALE BEWEGUNG: Mühen des Alltags

Der New Yorker Starintellektuelle Mark Greif bietet in seiner Essay-Sammlung „Bluescreen“ wenig Analyse und viele popessayistische Assoziationen zu Alltagsphänomenen. Immerhin überzeugt der Sympathisant von „Occupy Wallstreet“ als Chronist der Bewegung.

Hat zu allem eine Meinung: Der Essayist Marc Greif.

Der Tahrir-Platz von Kairo war das Zentrum des Umsturzes in Ägypten, die Puerta del Sol in Madrid wurde zum Treffpunkt der spanischen „Indignados“, und im New Yorker Zuccotti-Park nahm „Occupy-Wallstreet“ ihren Anfang als internationale Bewegung. Der Protest gegen die Banken und das Finanzsystem fand einen vorläufigen Höhepunkt in einem weltweiten Aktionstag Mitte Oktober. Doch begonnen hatte er mit der Besetzung des Parks in Manhattan einen Monat zuvor. Eine Antriebskraft war und ist der Unmut über die gewachsene soziale Kluft und über das Finanzsystem.

Das linke New Yorker Kulturmagazin „n+1“, Sprachrohr einer neuen Generation von Schriftstellern und Essayisten zwischen Pop und Politik, hat die Besetzer eine Zeit lang mit einer Flugschrift begleitet und dazu ein Buch herausgegeben. Im Suhrkamp-Verlag ist der Band nun in deutscher Übersetzung erschienen: „Occupy! Die ersten Wochen in New York. Eine Dokumentation“, lautet der Titel des schmalen Büchleins, ein nützliches Zeitdokument über eine Bewegung, der nicht zuletzt vorgeworfen wird, ihre Ziele seien zu vage und disparat, auch wenn sich einiges konkretere darunter findet, wie etwa die nicht gerade neue Forderung nach einer Steuer für Finanztransaktionen.

„Occupy Wallstreet“ möchte einen Gegenpol zu dem bilden, was von den Eliten und Regierungen weltweit als alternativlos betrachtet wird – dem Kapitalismus. Entstanden ist nicht nur eine Sammlung von Augenzeugenberichten, sondern durchaus eine erste kritische Analyse. Aktivisten wie Astra Taylor äußern sich ebenso wie omnipräsente Intellektuelle vom Schlage eines Slavoj Zizek oder des Wirtschaftsnobelpreisträgers Joseph E. Stiglitz. Umso unterschiedlicher ist auch die Qualität der einzelnen Texte. Am aufschlussreichsten, sind die Erlebnisberichte derjenigen, die nahe am Geschehen waren und noch sind.

Wer die 96 Seiten gelesen hat, kann sich ein besseres Bild vom Anliegen der Besetzer machen, einer Mischung aus Intellektuellen, Aktivisten und Obdachlosen. Einer von denen, die sich zu den Besetzern am Zuccotti-Park gesellten, ist Mark Greif, einer der Redakteure von „n+1“ sowie Mitherausgeber und Vorwortschreiber des Buches. Zuerst sei er skeptisch gewesen, schreibt Greif. „Mein Leben lang hegte ich immer nur Misstrauen gegen alles Organisatorische“. Als die Demonstranten „We are the 99 percent“ riefen, fühlte er sich dazugehörig. Der Mittdreißiger gilt zurzeit als einer der führenden Linksintellektuellen in den USA. Er ist ein Star der New Yorker Szene. Der Hype um den 1975 geborenen Geschichts- und Literaturwissenschaftler ist mittlerweile über den Atlantik geschwappt. Und wie Zizek ist er einer von jenen, die zu allem eine Meinung haben und diese auch äußern wollen. In Europa ist er spätestens seit dem von ihm herausgegebenen Buch über „Hipster“ bekannt. Momentan ist der Autor auf Lesetour in Europa.

Die Sexualisierung der Gesellschaft hat dazu geführt, dass regelrecht ein allgemeiner Zwang zum Sex herrscht, so Greif.

Ungefähr zeitgleich mit dem „Occupy“-Buch ist der Essay-Band „Bluescreen“ auf Deutsch erschienen. In den Jahren 2005 bis 2008 in „n+1“ und „Paper Monument“ veröffentlicht, widmet sich Greif unterschiedlichen Gesellschaftsphänomenen der Gegenwart, ausgehend von jenem „Blue Screen of Death“, dem blauen Hintergrund eines Computers bei einer Fehlermeldung bzw. der blauen Strahlung der Fernsehgeräte und Computer: „Ganz weit im Hintergrund befindet sich immer der blaue Bildschirm des abgestürzten Computers. Nennen wir ihn Himmel.“

Greif beschreibt die Ästhetisierung des Alltags durch mediale Projektionen und Vermittlungen auf unterschiedliche Weise. Innerhalb der einzelnen Texte springt er assoziativ und nicht immer nachvollziehbar von einem Thema zum nächsten, was angesichts so mancher staubtrockener Theorietexte über philosophische und gesellschaftliche Fragen erfrischend wirkt. Bereits im Vorwort schreibt er, dass angesichts der Ereignisarmut unserer Lebenserzählungen unsere Ereignishaftigkeit eine von Medien geschaffene und strukturierte ist.

Nun ist die Erkenntnis, dass die Realität über das Medium gestaltet wird, wahrlich nicht neu. Greif bereitet sie aber neu auf, suggestiv und unterhaltsam. Er beherrscht das Springen von einem Thema zum anderen wie ein DJ das Sampling. Greif erscheint mehr als Popkritiker denn als Wissenschaftler. Vergleiche mit dem deutschen Poptheoretiker Diedrich Diederichsen liegen nah. Greif wirkt wie dessen kleiner Bruder aus Übersee.

In dem Essay „Im Hochsommer der Sexkinder“ geht es um die Sexualisierung der Gesellschaft in der Massenkultur, die dazu geführt habe, dass regelrecht ein allgemeiner Zwang zur Sexualität herrscht und Sex zur Droge geworden ist. Sexuelle Freiheit, so Greif, schließe jedoch auch Freiheit vom Sex ein. Er denunziert die gegenwärtige Kultur „auf allen Ebenen ihrer Struktur als pornographisch“ und schlägt einen Bogen von der kultischen „Verehrung der Jugendlichkeit“ über sexualisierte Popsternchen bis hin zur Kinderpornografie und sexuellem Missbrauch.

In „Die Realität des Reality-TV“ lobt er Letzteres, das „über alle Klassengrenzen hinweg einen Einblick in die Realität“ biete. Wie im vorhergehenden Text bleibt er in seiner Analyse auf halbem Wege stehen und macht keinen Unterschied zwischen medial inszenierter Realität und dem Leben außerhalb des Bildschirms. Wenn er in „WeTube“ über Youtube schreibt, kommt er immerhin zu dem Schluss, dass das Leben ohne Internet angenehmer gewesen sei, und in „anästhetische Ideologien“ geht es um ästhetische Reizüberflutung, der nur durch Verweigerung zu entfliehen ist.

Am besten ist Greif, wenn er über eigene Erfahrungen berichtet, so über seinen Versuch zu rappen. Auf unterhaltsame Weise entwickelt er die Geschichte des HipHop auf dem Weg von der Subkultur über die fortwährende Kommerzialisierung bis zum kapitalistischen Mainstream-Phänomen. Doch auch dabei zeigt er sich nicht unbedingt als origineller Analytiker. Solche Fähigkeiten beweist er eher in seiner Diagnose, ausgehend von Phantasien wie Orwells „1984“ und Ängsten vor der nuklearen Katastrophe lebten wir in einer Art ständigen Erwartung der Apokalypse.

„Dass sich das Alltägliche im Angesicht des Apokalyptischen behaupten möge“, schreibt Greif im Vorwort, sei seine Hoffnung. Letztere setzt er auf die Occupy-Bewegung. Wenn er eine Umverteilung und eine allgemeine Gehaltsobergrenze von 100.000 Dollar fordert, ist er nah an den Forderungen der 99-Prozent-Bewegung dran. „Occupy“ ist ihm zufolge gut in den Alltag integrierbar. Und nicht zuletzt weist sie nach den Worten des Autors einen Ausweg aus der präapokalyptischen Phase. Mit politischem Engagement, so kann man seine Botschaft deuten und weiterentwickeln, lässt sich die Apokalypse vielleicht nicht verhindern, aber zumindest besser ertragen.

Mark Greif (Hg) – Occupy! Die ersten Wochen in New York. Eine Dokumentation. Suhrkamp Verlag, 96 Seiten.

Mark Greif – Bluescreen. Essays. Aus dem Englischen übersetzt und herausgegeben von Kevin Vennemann. Suhrkamp Verlag, 231 Seiten.


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