Krise der Demokratie: Die Gründe für Trumps Wiederkehr

In einer Neuauflage seines wichtigsten Buches widmet sich der Philosoph und Kommunitarist Michael J. Sandel dem „Unbehagen in der Demokratie“. Dazu greift er weit in die US-amerikanische Geschichte zurück – und verschärft im Vergleich zu früheren Schriften seine Kapitalismuskritik.

Vor allem die Beschäftigten der klassischen Industrien erleben ihm zufolge die Globalisierung als Abstieg, der nichts anderes als Verarmung bedeutet: Der Philosoph Michael J. Sandel auf der Konferenz „Populismus, Nationalismus und die Revolte gegen die Eliten“ im Mai 2019 in Bilbao. (Foto: EPA-EFE/LUIS TEJIDO)

Ein Artikel in der „Washington Post“ hat am 30. November vergangenen Jahres besonderes Aufsehen erregt: „A Trump dictatorship is increasingly inevitable”, schreibt Robert Kagan darin. Der frühere Berater im US-Außenministerium unter Ronald Reagan und Vordenker der Neokonservativen ist längst zu einem der schärfsten Kritiker von Donald Trump und dessen „America-First“-Politik geworden. Wenn kein Wunder geschehe, so Kagan, werde Trump bald der republikanische Präsidentschaftskandidat sein – und womöglich bald ein Präsident, der die USA in die Diktatur führe. Es sei eine Form der kollektiven Feigheit gewesen, es trotz der zahlreichen Warnrufe soweit kommen zu lassen.

Auch das Buch „Das Unbehagen in der Demokratie“ des Philosophen Michael J. Sandel ist ein solcher Kassandraruf. Es war in einer ersten Fassung bereits 1996 erschienen und wurde nun aktualisiert erneut auf den Markt gebracht. „Unser staatsbürgerliches Leben läuft nicht besonders gut“, schreibt Sandel in der neuen Ausgabe. „Ein besiegter Präsident stachelt einen wütenden Mob an, das Kapitol zu stürmen und den Kongress gewaltsam davon abzuhalten, die Wahlergebnisse zu bestätigen.“

Wie in seinem 2020 veröffentlichten Buch „Vom Ende des Gemeinwohls“ begründet Sandel den Erfolg von rechtspopulistischen Bewegungen mit dem Problem einer in Gewinner und Verlierer gespaltenen Leistungsgesellschaft. Der von dem US-amerikanischen Nachrichtenmagazin „newsweek“ als „rock-star moralist“ bezeichnete Philosoph zieht mit seinen Vorträgen weltweit seine Zuhörer in den Bann. Seit 40 Jahren lehrt der 1953 in Minneapolis geborene US-Amerikaner politische Theorie an der Harvard University. Seine Lehrveranstaltung über „Justice“ wurde sowohl als Buch als auch im Internet ein großer Erfolg.

Bekannt wurde Sandel jedoch schon 1982 als junger Mann. In „Liberalism and the Limits of Justice“ setzte er sich kritisch mit der Gerechtigkeitstheorie von John Rawls auseinander. Neben Amitai Etzioni, Michael Walzer und Charles Taylor, bei dem er in Oxford promovierte, gilt er als Begründer des Kommunitarismus, einer philosophischen Strömung, die als Ursache der Krise moderner Gesellschaften den Individualismus in Wirtschaft und Gesellschaft ausmacht.

Qualitätsverlust der Demokratie

Die Kommunitaristen schlagen als Gegenmittel eine Rückbesinnung auf Gemeinschaftswerte vor. Also so ziemlich genau das Gegenteil von dem, wofür Trump steht. Die USA unter dem ehemaligen und womöglich bald wiedergewählten Präsidenten dürften ein Grenzfall sein, schreibt der deutsche Politologe Wolfgang Merkel, der sich ebenfalls schon seit Jahren mit der Krise der Demokratie, mit dem Konflikt von Kosmopolitismus versus Kommunitarismus und etwa mit der Frage, ob der Kapitalismus mit der Demokratie kompatibel sei, beschäftigt. Während Polen und Ungarn zu illiberalen Demokratien „regrediert“ seien, so Merkel, könne man in den westlichen Demokratien kaum von einer existenziellen Krise der Demokratie sprechen. Es seien „aber durchaus Qualitätsverluste und Erosionstendenzen der Demokratie beobachtbar“.

Dagegen sprechen Sandels US-amerikanische Kollegen, darunter Landsleute wie etwa der Historiker Timothy Snyder, Autor von „Über Tyrannei. Zwanzig Lektionen für den Widerstand“, oder die Politologen Steven Levitsky und Daniel Ziblatt in ihrem Buch „Wie Demokratien sterben“, durchaus von einer Krise des politischen Systems. Die beiden Letztgenannten haben mit ihrem Werk international Aufsehen erregt. Es erschien 2018, als Trump bereits US-Präsident war und Jair Bolsonaro als lateinamerikanischer „Tropen-Trump“ zu Brasiliens Staatschef gewählt wurde. Die beiden Harvard-Wissenschaftler stellten unter anderem fest: „Demokratien sterben heutzutage nicht mehr mit einem großen Knall, einem Putsch oder einer Revolution. Sie siechen so leise vor sich hin, dass wir ihr Ableben kaum bemerken.“

Doch wie konnte es zu dem wachsenden „Unbehagen in der Demokratie“ kommen? Nach Ansicht Sandels begann sich das „Geflecht von Gemeinschaft“ bereits in den 1990er-Jahren aufzulösen. Die Orientierung am Gemeinwohl sei erodiert, das Vertrauen in die Institutionen geschwunden, soziale Bindungen seien brüchig geworden. Antidemokratische Parteien und Bewegungen hätten davon profitiert. Ein Symptom der beschädigten demokratischen Ordnung sei schließlich die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten gewesen, stellt Sandel fest. Der Autor macht in seinem Buch einen ausführlichen Exkurs in die Geschichte des US-amerikanischen politisch-philosophische Denkens.

Dieses hat sich in den letzten knapp zweieinhalb Jahrhunderten seit der Unabhängigkeit vor allem zwischen zwei Ansätzen bewegt: Einerseits dem liberalen Begriff der Freiheit, sich seine Ziele selbst zu wählen, andererseits dem republikanischen Freiheitsverständnis, bei dem die Gestaltung der politischen Gemeinschaft im Vordergrund steht.

Freiheit hat Voraussetzungen

Während der Liberalismus die individuellen Rechte und die Toleranz betone und für die Liberalen der Zweck in nichts anderem als Produktion und Konsum liege, so Sandel, komme es für die republikanische Gesinnung darauf an, Freiheit und Wohlstand für alle zu schaffen. Im Zentrum der republikanischen Theorie steht die Idee, dass Freiheit davon abhängt, an dieser Selbstbestimmung teilzuhaben. Einst war die Republikanische Partei jene Partei, die im 19. Jahrhundert die Sklaverei bekämpfte. Vor allem seit den 1980er-Jahren, der Amtszeit von Präsident Ronald Reagan, dominiert jedoch das konservative Lager die republikanische „Grand Old Party“.

Sandel verfolgt die geschichtliche Entwicklung der USA von deren Gründung bis zum Ende der Reagan-Ära. „In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Amerikaner glauben konnten, die Herren ihres Schicksals zu sein, hatten die Gewinne aus dem Wirtschaftswachstum“ auch die ärmeren Gesellschaftsschichten erreicht, schreibt er in dem Kapitel „Tausend Versuche, die Unzufriedenheit aufzugreifen“. Von 1979 bis 1992 seien jedoch 98 Prozent der 826 Milliarden Dollar Zuwachs bei den Haushaltseinkommen ausschließlich an das oberste Fünftel der Bevölkerung gegangen. „Die meisten Amerikaner fielen zurück“, betont Sandel. „So nahm Amerikas Frustration mit der Politik – nicht überraschend – weiter zu.“

Während Konsum, Wachstum und der nach Sandels Worten „entfesselte Fluss von Waren und Kapital“ in den Vordergrund traten, sei der zivilgesellschaftliche, am Gemeinwohl orientierte Aspekt aus der ökonomischen Debatte gewichen. An die Stelle des Primats der Politik sei jener der Wirtschaft getreten. Die Politiker seien zu „Geiseln der Wallstreet“ geworden. Der ungezügelte Finanzkapitalismus habe die soziale Ungleichheit dramatisch verschärft. Sandel sieht sogar die Grundlagen unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens bedroht. Der Autor zeichnet erhellend nach, wie es zur Erosion von Gemeinwohl und Zivilgesellschaft kam – und zur Entfremdung der Menschen von der Demokratie.

Sandel kommt zur Erkenntnis, dass der Einfluss der politischen Kräfte, die für eine Bändigung ökonomischer Entwicklungen im Interesse einer möglichst breiten republikanischen Teilhabe plädierten, immer mehr zugunsten einer Politik nachließ, die allein abstrakt auf Wohlstand und Verteilungsgerechtigkeit setzte und die Frage einer tatsächlichen republikanischen Partizipation letztlich dem freien Kalkül der Märkte überließ. Diese Entwicklung hat sich zugespitzt. Ganz im Gegensatz zu den Erwartungen haben die Regierungen von Bill Clinton und Barack Obama nicht mit der Reagan-Tradition gebrochen, sondern sie fortgesetzt. Ein mehr oder weniger ungezügelter Finanzkapitalismus habe die soziale Ungleichheit dramatisch verschärft. Und als der Finanzsektor in eine schwere Krise geriet, wurde er von der Obama-Regierung mit Steuermilliarden stabilisiert.

Prozesse der Verarmung

Die aktuelle Entwicklung sei von einer tiefgreifenden Spaltung zwischen Gewinnern und Verlierern bestimmt. Vor allem die Beschäftigten der klassischen Industrien fielen der Globalisierung zum Opfer und erlebten einen Abstieg, der nichts anderes als Verarmung bedeutete. Für Sandel liegen hier die Gründe für Trumps Aufstieg. In seinem Epilog plädiert er daher für eine Rückgewinnung der Souveränität der Politik gegenüber der Wirtschaft, für einen Wechsel der leitenden Paradigmen weg von der scheinbar rationalen Ökonomie hin zur ethisch begründeten praktischen Philosophie.

Besonders interessant ist das Kapitel über freie Arbeit und Lohnarbeit: Mit dem Aufkommen der Industrie kam die Frage auf, ob Lohnarbeit – wegen der Abhängigkeit vom Arbeitgeber – mit Freiheit vereinbar sei. Bereits um 1870 waren die USA eine Nation von Lohnabhängigen. Zur Diskussion über die Gefahren für die Demokratie trägt vor allem jenes Kapitel über Gemeinschaft, Selbstverwaltung und Reform in der Ära der Progressiven bei, in dem es unter anderem um die Frage geht, ob die Demokratie in einer liberalen Wirtschaft überleben könne und ob sich angesichts einer konzentrierten Wirtschaftsmacht eine Demokratie erhalten lasse.

In der Zeit der Depression wurden vor allem zwei Ansätze diskutiert: einerseits die Dezentralisierung der Wirtschaft, um den Wettbewerb zu beleben, andererseits eine staatliche Kontrolle des Wirtschaftssystems. Schließlich setzte sich der Versuch durch, die Verbrauchernachfrage zu stimulieren. Vor allem ab 1960 wurde auf das Ankurbeln der Warenproduktion und Vollbeschäftigung gesetzt. Politiker des 19. Jahrhunderts, wie Thomas Jefferson und Abraham Lincoln, hatten noch für eine demokratische Kontrolle der ökonomischen Macht gekämpft. Das habe sich mit der Verschiebung von der zivilgesellschaftlichen zur voluntaristischen Konzeption von Freiheit geändert, erklärt Sandel. Nach 1945 blühte die Wirtschaft, doch nicht alle Menschen hatten die gleichen Rechte, was zur Bürgerrechtsbewegung für die Gleichberechtigung der Schwarzen führte. Lyndon B. Johnson proklamierte einen „Krieg gegen die Armut“.

Bereits in seinem Vorwort wirft Sandel zwei zentrale Fragen auf: Wie können wir die Wirtschaft so reformieren, dass sie demokratischer Kontrolle zugänglich wird? Und wie können wir unser gesellschaftliches Leben wieder so gestalten, dass sich die Polarisierung abschwächt und die Amerikaner (wieder) zu effektiven demokratischen Bürgern werden? In seinem abschließenden Kapitel erklärt er eindrucksvoll, was seit den 1990er-Jahren falsch läuft. So kritisiert er, dass Steuersenkungen die Reichen begünstigen und die wachsende Ungleichheit zum Zerfall der Demokratie beiträgt. Zugleich werde von der strukturellen Ungleichheit abgelenkt; etwa mit der Ideologie der Meritokratie und einem ausgeprägten Erfolgsdenken, wonach jeder seines eigenen Glückes Schmied sei.

Sandel diagnostiziert die Erosion des gesellschaftlichen Zusammenhalts, der sich, wo er funktioniert, in der gegenseitigen Anerkennung und im Engagement für öffentliche Angelegenheiten zeigt. Ohne diesen ‚sozialen Kit‘ kann kein demokratischer Staat überleben, weiß der Philosoph. Durch den profit- und konsumorientierten Neoliberalismus und den damit einhergehenden Souveränitätsverlust des Staates jedoch werde dieser Zusammenhalt weiter in Frage gestellt. Das Geld könne den Gemeinsinn nicht ersetzen.

Am Scheideweg

Sandel bleibt seiner Linie als Kommunitarier treu. Wer jedoch seine älteren Texte kennt, entdeckt in „Das Unbehagen in der Demokratie“ den verstärkt kapitalismuskritischen Ansatz in seinem Denken. Dem Harvard-Philosophen gelingt es einmal mehr, seine Theorie auf der Basis der US-amerikanischen Denktraditionen zu entwickeln. Für die Leserschaft dürfte es nicht zuletzt von Interesse sein, wie es in den 1960er-Jahren zu der „voluntaristischen Konzeption von Freiheit (…), zum Liberalismus der prozeduralen Republik“ kam, als Präsident Lyndon B. Johnson die „Great Society“ verteidigte. „Ihren umfassenden philosophischen Ausdruck fand die Version des Liberalismus, die Amerikas politische und verfassungsrechtliche Debatte in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg bestimmte, in den 1970er Jahren – besonders in John Rawls‘ „Eine Theorie der Gerechtigkeit“, erklärt Sandel.

Die voluntaristische Vorstellung von Freiheit betont den Vorrang des Rechts. Rawls meinte etwa, die Begründung von Rechten sollte nicht von irgendeiner speziellen Konzeption des guten Lebens abhängen. Eine gerechte Gesellschaft sollte nicht Tugenden kultivieren und Werte aufzwingen, sondern einen rechtlichen Rahmen liefern, der den Zielen gegenüber neutral ist. Das gleiche habe für den Staat zu gelten. Allerdings verteidigte Rawls den Wohlfahrtsstaat: Wenn ein Staat gegenüber Zielen neutral ist, bedeutet dies, dass er nur solche sozialen und ökonomischen Ungleichheiten zulässt, die sich zum Vorteil der am wenigsten begünstigten Gesellschaftsmitglieder auswirkt.

Anders als viele Liberale stützte sich US-Senator Robert Kennedy in den 1960er-Jahren nicht auf die voluntaristische Vorstellung von Freiheit, sondern auf diejenige, an der Selbstverwaltung teilzuhaben. Einerseits verwarf er Sozialhilfe und garantiertes Einkommen, andererseits schlug er etwa kommunale Entwicklungsgesellschaften vor. Sein Programm habe sowohl wirtschaftliche wie auch zivilgesellschaftliche Ziele verfolgt. Demnach wollte Kennedy ganz im kommunitaristischen Sinne den Gemeinsinn fördern.

In seinem Epilog „Was falsch lief: Kapitalismus und Demokratie seit den 1990er Jahren“ kommt der Autor auf dieses schwierige Verhältnis zu sprechen. Der Kapitalismus strebt nach Produktivität für den privaten Gewinn, die Demokratie nach gemeinschaftlicher Teilhabe. Die Globalisierung habe die Spielräume demokratischer Politik eingeengt und der profit- und konsumorientierte Finanzkapitalismus die sozioökonomische Ungleichheit verstärkt. Letztere wiederum hat zu einem spürbaren Verlust der sozialen Kohäsion geführt, weiß Sandel. Und sie trägt zum Zerfall der Demokratie bei. Mit dieser Erkenntnis hat der Autor und Philosoph sicher nicht das Rad neu erfunden, aber den Lesern den Weg erklärt, den die Demokratie in den USA bis heute gegangen ist – bis hin zu dem Scheideweg, an dem sie heute steht.

Michael J. Sandel: Das Unbehagen in der Demokratie. Aus dem Englischen von Helmut Reuter. S. Fischer Verlag, 512 Seiten.

Cet article vous a plu ?
Nous offrons gratuitement nos articles avec leur regard résolument écologique, féministe et progressiste sur le monde. Sans pub ni offre premium ou paywall. Nous avons en effet la conviction que l’accès à l’information doit rester libre. Afin de pouvoir garantir qu’à l’avenir nos articles seront accessibles à quiconque s’y intéresse, nous avons besoin de votre soutien – à travers un abonnement ou un don : woxx.lu/support.

Hat Ihnen dieser Artikel gefallen?
Wir stellen unsere Artikel mit unserem einzigartigen, ökologischen, feministischen, gesellschaftskritischen und linkem Blick auf die Welt allen kostenlos zur Verfügung – ohne Werbung, ohne „Plus“-, „Premium“-Angebot oder eine Paywall. Denn wir sind der Meinung, dass der Zugang zu Informationen frei sein sollte. Um das auch in Zukunft gewährleisten zu können, benötigen wir Ihre Unterstützung; mit einem Abonnement oder einer Spende: woxx.lu/support.
Tagged , , , , .Speichere in deinen Favoriten diesen permalink.

Kommentare sind geschlossen.