Krise des Konservativismus: Rechts der Mitte

Der Wahlerfolg der CSV scheint einem internationalen Trend zu widersprechen, der als Krise der Konservativen bezeichnet werden kann. Das neue Buch „Mitte/Rechts“ des Politikwissenschaftlers Thomas Biebricher widmet sich dieser Krise: Er zeigt zudem wie Parteien rechts der gemäßigten Konservativen davon profitieren und weist auf Fallstricke hin, in die sich auch Luxemburgs Christkonservative verheddern können.

Etwa ein Jahr ist es her, dass 
Giorgia Meloni mit ihrer Partei „Fratelli d’Italia“ (FI) die italienischen Parlamentswahlen gewann. Knapp einen Monat später wurde sie zur Ministerpräsidentin ernannt. Seither regieren die sogenannten Postfaschisten zusammen mit der rechtspopulistischen „Lega“ und der Berlusconi-Partei „Forza Italia“ das Land (siehe den Artikel „Gesellschaft als Beute“).

Zwei Tage vor Melonis Amtsantritt in Rom trat in London die britische Premierministerin Liz Truss von der „Conservative Party“, den Tories, nach einer historisch kurzen Amtszeit von sechs Wochen zurück. Nigel Farage, Mitgründer der „Brexit-Party“ (heute: „Reform UK“), hatte den Konservativen eine düstere Zukunft prophezeit: „Die Tories werden bei der nächsten Wahl ausradiert werden.“ Einige Monate zuvor hatte die Mitte-Rechts-Partei „Les Républicains“ (LR) bei den Präsidentschafts- wie auch bei den Parlamentswahlen eine verheerende Niederlage erlitten „und damit endgültig die Hegemonie über das Spektrum rechts der Mitte an den Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen verloren“.

Dies schreibt Thomas Biebricher in seinem neuen Buch „Mitte/Rechts“. Bereits vor fünf Jahren hatte der Politikwissenschaftler in „Geistig-moralische Wende“ die „Erschöpfung des deutschen Konservatismus“ analysiert. In „Mitte/Rechts“ setzt Biebricher das Studium der Schwächung, des Verschwindens sowie der Radikalisierung einstiger Kräfte eines „gemäßigten Konservatismus“ am Beispiel von Italien, Frankreich und Großbritannien fort und widmet sich der Entwicklung des rechten Spektrums in diesen Ländern.

Wie andernorts ging den Konservativen auch dort nach dem Ende des Kalten Krieges der Kommunismus als Hauptgegner verloren. Heute werde der gemäßigte Konservatismus zwischen Liberalismus und Rechtsautoritarismus zerrieben, so die These Biebrichers, der in Frankfurt am Main politische Theorie, Ideengeschichte und Theorien der Ökonomie lehrt.

Italien, Frankreich, Großbritannien

Das erste Beispiel, dessen der Autor sich annimmt, ist Italien. Dort stellte die „Democrazia Cristiana“ (DC) ein halbes Jahrhundert lang fast immer den Ministerpräsidenten. Nach dem großen Korruptionsskandal in Folge der „Tangentopoli“-Affäre in den 1990er-Jahren, hatten umfangreiche juristische Untersuchungen unter dem Namen „Mani pulite“ (saubere Hände) zum Ende der sogenannten Ersten Republik Italiens und zum Zusammenbruch der DC und zum Ende des „Partito Socialista Italiano“ (PSI) geführt.

Als Folge dieser Entwicklung entstanden mehrere neue politische Bewegungen, darunter die „Forza Italia“ von Silvio Berlusconi. An ihr zeigte sich erstmals die starke Zentrierung auf eine Person, ein Kennzeichen vieler populistischer Parteien. Der Unternehmer Berlusconi schuf auf der Grundlage seines Firmenimperiums mit der „Forza Italia“ eine auf ihn zugeschnittene Partei. Diese blieb ideologisch extrem flexibel. Wenn es Berlusconi gerade passte, schimpfte er über die Europäische Union, stellte sich aber auch wieder hinter sie. Außerdem propagierte er eine für ihm nachfolgende Populisten typische Antipolitik: Er spielte einen Selfmade Man, der mit dem politischen Establishment bricht – und eine Politik betreibt, die für die Gesellschaft nach dem Vorbild der Führung eines Unternehmens Wohlstand bringt. Donald Trump ist in vielerlei Hinsicht Berlusconis Abbild, bis hin zur Auseinandersetzung mit der Justiz.

Ausführlich zeichnet Biebricher den Weg der italienischen Rechten vom Zusammenbruch der DC bis zum Wahlsieg von Melonis FI nach. Dabei sticht hervor, dass ein „Kontinuum zwischen rechter Mitte und rechtem Rand“ entstand. Die nationalkonservative „Alleanza Nazionale“ (AN) unter der Führung von Gianfranco Fini, die 1995 aus dem neofaschistischen „Movimento Sociale Italiano“ hervorgegangen und 2009 in der von Berlusconi gegründeten Mitte-rechts-Sammelpartei „Popolo dell Libertà“ aufgegangen war, bewegte sich in Richtung Mitte. Das verwaiste Territorium weiter rechts beanspruchte die FI. Nach den Worten Biebrichers hatten damit „autoritäre Kräfte eindeutig die Hegemonie über das Spektrum rechts der Mitte erlangt“.

Zwar existiert in Frankreich die gemäßigte Rechte noch, allerdings schrumpfte sie bei den Parlamentswahlen im vergangenen Jahr auf eine Nischenpartei zusammen. Dabei waren LR als die Nachfolgepartei der Gaullisten lange Zeit prägend. Mittlerweile haben sie einen dramatischen Niedergang erlebt, sodass ihre Kandidatin Valérie Pécresse bei den Präsidentschaftswahlen nur auf 4,8 Prozent der Stimmen kam und dadurch nicht nur die Stichwahl verpasste, sondern auch an der Fünf-Prozent-Schwelle scheiterte, um eine Wahlkampfkostenrückerstattung zu bekommen. Die Vorherrschaft rechts der Mitte liegt in Frankreich heute bei Marine Le Pens RN, während Präsident Emmanuel Macron einen Teil seines Spitzenpersonals in der Regierung aus den Reihen der „Républicains“ rekrutierte.

Die Konservativen sind also in Frankreich in einen Zangengriff zwischen der radikalen Rechten und den Liberalen und damit ins Hintertreffen geraten. Der letzte Konservative im französischen Präsidentenamt war Nicolas Sarkozy (2007-2012). Biebricher versucht zu erklären, wie es zum Niedergang des Gaullismus als gemäßigtem Konservatismus kam. Von dem von Charles de Gaulle gegründeten „Rassemblement du Peuple Français“ (RPF) über Jacques Chiracs neoliberale Neugründung als „Rassemblement pour la République“ (RPR) bis in die Gegenwart. Zwar wurde die extreme Rechte durch die Besonderheit des französischen Wahlsystems am Mitregieren gehindert, doch bestimmt der „Rassemblement National“ heute in vielerlei Hinsicht die öffentliche Themensetzung und treibt die gemäßigtere Rechte vor sich her.

Foto: Internet

Neue Feindbilder der Konservativen

Allerdings bedeutet das nicht, das Schicksal der gemäßigten Konservativen sei endgültig besiegelt. Biebricher begründet dies am Beispiel von Jacques Chirac: Dieser habe es verstanden, den Wählern 1995 einen volksnahen „mitfühlenden Neo-Gaullismus“ zu präsentieren, das „Frankreich der sozialen Ungleichheit“ anzuprangern und seinen Gegner Édouard Balladur als neoliberalen Bürokraten bloßzustellen. In der Stichwahl 2002 gegen Marine Le Pens Vater Jean-Marie brachte er als Verteidiger der Republik selbst viele Linke hinter sich.

Unter Sarkozy bewegten sich die Neo-Gaullisten dann weiter nach rechts. Doch anstatt die extreme Rechte zu schwächen, stärkte er diese weiter, indem er deren Positionen übernahm. Zugleich begann Marine Le Pen damit, den „Front National“ in Richtung Mitte zu bewegen und die Partei damit salonfähig zu machen.

Im Vereinigten Königreich vollzog sich der Niedergang der Konservativen langsamer, im Laufe von vier Jahrzehnten. In dieser Zeit hatten sie, unterbrochen durch die Ära der Labour-Premierminister Tony Blair und Gordon Brown, die Geschicke des Landes geleitet. Im Jahr 1990 begehrten die Tories gegen ihre eigene Premierministerin Margaret Thatcher auf, weil sie eine engere Einbindung in die damalige Europäische Gemeinschaft wünschten. Wie Biebricher schreibt, hatten sie bis dahin auf eine „außergewöhnliche Dekade der Dominanz“ zurückgeblickt, die den Konservatismus jedoch „fast bis zur Unkenntlichkeit verwandelt hatte“.

Thatchers direkter Nachfolger John Major, die konservativen Oppositionsführer während der Labour-Ära (1997-2010) sowie der Tory-Premierminister David Cameron (2010-2016) waren durch Euroskepsis und das neoliberale Erbe Thatchers geprägt. Mehr und mehr ging es den Tories nicht mehr um den Erhalt tradierter Ordnungen, sondern um die „bewusste Destabilisierung des Status Quo“. Die Partei wurde zuerst von der „UK Independence Party“ (UKIP) von außen unter Druck gesetzt, dann mehr von den populistischen Elementen im Innern. Allerdings schafften es die Tories, den Brexit zu ihrer eigenen Forderung zu machen. Zusammen mit der Gründung der „Brexit Party“ ging dies einher mit dem Niedergang der UKIP, die immer weiter nach rechts rückte.

Bei allen Unterschieden in der Entwicklung der gemäßigten Konservativen in Italien, Frankreich und Großbritannien gibt es Parallelen: etwa der Trend zur Kulturalisierung gesellschaftlicher Konflikte sowie die bereits erwähnte Personalisierung an der Parteispitze. Ähnlichkeiten gibt es ebenfalls, was die Parteiführer angeht: Sowohl Berlusconi als auch Sarkozy und Johnson unterscheiden sich in ihrem Wesen von klassischen Konservativen. Ihnen hänge etwas „Halbseidenes“ an, so Biebricher, „die Attitüde des ‚hustlers‘“, eines Gauners und Schwindlers, der um hohe Einsätze spielt.

Im letzten Kapitel seines Buches arbeitet der Autor die Gemeinsamkeiten der Entwicklungen in den verschiedenen Ländern heraus. Überall sei es in den 1990er-Jahren zur Transformation des politischen Spektrums gekommen. Manche altgedienten Volksparteien wurden durch Parteien ersetzt, die den Charakter einer sozialen Bewegung haben und die stark personalisiert sind: In Italien etwa die „Forza Italia“ und der „Movimento 5 Stelle“, in Frankreich Macrons Bewegung „En Marche“, in Großbritannien die Brexit-Bewegung. Hinzu kommt die Begeisterung für den Neoliberalismus. In Ablösung des alten Feindbilds Kommunismus lassen sich die neuen propagierten Bedrohungsszenarien „auf drei Kernfeindbilder reduzieren: Einwanderung, Europa und die sogenannte Woke-Ideologie“.

Niedergang, Polarisierung, Radikalisierung

Die Folgen dieser Entwicklung, der Niedergang der klassisch konservativen Parteien oder deren Radikalisierung, sind das Schwinden der konservativen Mitte und eine extreme Polarisierung, wie es etwa in den USA zu beobachten ist. Eine „Tragik des Konservatismus“, wie Biebricher feststellt. Zwar scheint der Wahlerfolg der CSV dieser Analyse oder zumindest dem darin genannten Trend zu widersprechen, doch auch Luxemburgs Christkonservative gehen aus einer langjährigen Krise hervor, wobei das Ergebnis vom Wochenende erst noch politisch konsolidiert werden muss. Und die Rolle, die Luc Frieden innerhalb des nun allenthalben diagnostizierten „Rechtsrucks“ einnehmen wird, wird sich ebenfalls erst noch zeigen.

Dass Konservative wichtig für liberale Demokratien sind, davon ist Biebricher überzeugt. Denn sie können Verlustängste, Verunsicherung und Ressentiments, die der schnelle Wandel der Gesellschaft und die disruptiven Folgen eines immer stärker globalisierten Kapitalismus bei manchen Menschen auslösen, auffangen und kanalisieren, ohne dass sie die Demokratie untergraben. Wo linke Kritik an gesellschaftlichen Missständen und fortschrittliche Forderungen nicht verfangen, sind die Konservativen demnach nicht zuletzt als Puffer gegen Rechtspopulisten zu sehen. Allerdings nur, sofern sie nicht den Fehler begehen, der Agenda der extremen Rechte zu folgen und sich an deren Kulturkampf zu beteiligen. Sie müssen sich von dieser Rechten sichtbar unterscheiden, anstatt diese nachzu-
äffen. Andernfalls profitieren davon nur die Rechtspopulisten, so der Autor der Studie.

Mit „Mitte/Rechts“ ist Thomas Biebricher eine beeindruckende Analyse der Krise der Konservativen als internationales Phänomen gelungen. Die Beschreibung der drei Fallbeispiele ist umfassend, aber spannend, auch wenn bisweilen sehr ins Detail gegangen wird. Das Buch verdeutlicht die großen Gefahren, denen die europäischen Demokratien heute ausgesetzt sind. „Damit alles bleibt, wie es ist, muss sich alles ändern.“ Dieses berühmte Zitat aus dem Roman „Der Leopard“ von Giuseppe Tomasi di Lampedusa wird im Zusammenhang mit dem Konservatismus häufig genannt. Dieses Mal steht es sogar auf dem Klappentext von Biebrichers Buch. Wie es scheint, hat der Ausspruch bis heute nichts von seinem Wahrheitsgehalt verloren.

Thomas Biebricher: Mitte/Rechts. Die Internationale Krise des Konservatismus. Suhrkamp Verlag, 638 Seiten.

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