Ursachen von Flucht und Migration: Black Box Afrika

Der deutsche Soziologe und Aktivist Olaf Bernau erforscht in seinem äußerst informativen und spannenden Buch „Brennpunkt Westafrika“ die Ursachen und Folgen einer Vielfachkrise – und legt das Scheitern der europäischen Politik offen.

Es war ein spektakulärer Doppelschlag: Zuerst forderte der Außenminister von Mali am 19. Juni vergangenen Jahres im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, dass die „Mission Multidimensionelle intégrée des Nations unies pour la stabilisation au Mali“ (Minusma) das westafrikanische Land möglichst schnell verlassen sollte. Seine Regierung war unlängst aus einem Staatsstreich hervorgegangen. Am 26. Juli putschte im benachbarten Niger ein Teil des Militärs. Ähnlich wie in Mali und zuvor in Burkina Faso gingen die Putschisten auf Distanz zum Westen. Die „Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft“ (Ecowas) drohte zwar, den demokratisch gewählten Präsidenten wieder mit Hilfe einer Militärintervention ins Amt zurückzubringen – doch dazu kam es nicht mehr. Schließlich unterstützte ein Großteil der nigrischen Bevölkerung den Putsch.

Wie war es so weit gekommen, dass es nach Mali und Burkina Faso ausgerechnet in Niger, das aus westlicher Sicht als Stabilitätsanker in der Sahelzone galt, zum Umsturz gekommen war? Der sogenannte Westen jedenfalls zeigte sich reichlich überrascht. „Einmal mehr wurde offenkundig“, schreibt der Soziologe Olaf Bernau in einem Beitrag für die Monatszeitschrift „Blätter für deutsche und internationale Politik“, „dass der Westen weiterhin außerstande ist, zuzuhören und somit gesellschaftliche Stimmungen adäquat einzuschätzen.“ Der Sahel sei für viele Europäer bis heute „eine Art Black Box, geprägt von Armut, Klimakrise, Dschihadismus und militärischer Gewalt – kurzum: von Chaos, das sich in Europa vor allem als vorgebliche Massenmigration bemerkbar macht“.

Der oben genannten Frage geht Bernau in „Brennpunkt Westafrika. Die Fluchtursachen und was Europa tun sollte“ vertiefend nach. Das mittlerweile in zweiter Auflage erschienene Buch hat durch die politische Entwicklung im Sahel und den jüngsten Versuch der Europäischen Union, sich mit Hilfe des so genannten Kompromisses in der EU-Asylpolitik noch stärker gegen Flüchtlinge abzuschotten (siehe Artikel „Schlimmer geht immer“ in woxx 1740), weiter an Aktualität gewonnen.

Der Autor, der im Rahmen des von ihm mitgegründeten transnationalen Netzwerks „Europe – Afrique – Interacte“, eines Zusammenschlusses von politischen Initiativen und Basisgruppen, mit Migranten, bäuerlichen Gemeinschaften und Menschenrechtsgruppen zusammenarbeitet, kennt Westafrika bestens. Er hat sein Buch auf die 16 Länder dieser Region begrenzt. An deren Beispiel zeigt er, dass Migration eine seit Jahrhunderten tief verankerte Normalität und althergebrachte Alltagspraxis ist. Bauern, Hirten und Händler mussten seit jeher unterwegs sein, in eine andere Gegend oder in ein Nachbarland ziehen, um überleben zu können. Sie zu stoppen sei unmöglich, weder durch eine restriktive Grenzpolitik noch durch verbesserte Lebensbedingungen in den Herkunftsländern, auch nicht durch krumme Deals mit zweifelhaften Machthabern in den Durchgangsländern.

Auch die milliardenschweren Programme zur Bekämpfung der Fluchtursachen zeigen, dass das tatsächliche Ausmaß der Vielfachkrise in Westafrika unterschätzt wird. Überhaupt sei die Fluchtursachenbekämpfung zum „Mantra des politischen Betriebs“ geworden, so Bernau. Zentrales Problem sei dabei, dass die öffentliche Debatte in Europa über weite Strecken von Unkenntnis und Fehleinschätzungen geprägt sei. „Das hat nicht nur mit stereotypen Afrika-Bildern, selektiver Berichterstattung in den Medien und eigenen, nicht reflektierten Interessenlagen zu tun“, erklärt der Soziologe. „Afrikanisch-europäische Realitäten sind auch deshalb schwer zu fassen, weil die langfristigen Auswirkungen von Sklaverei und Kolonialismus bis heute auf den Beziehungen zwischen den beiden Kontinenten lasten.“

Auch die milliardenschweren Programme zur Bekämpfung der Fluchtursachen zeigen, dass das tatsächliche Ausmaß der Vielfachkrise in Westafrika unterschätzt wird.

Der Autor ruft dazu auf, die Menschen in den afrikanischen Ländern differenzierter zu betrachten und dabei die historischen Zusammenhänge zu berücksichtigen. So weist er darauf hin, dass nur ein geringer Teil der afrikanischen Bevölkerung nach Europa migrieren kann. Die meisten können sich die Reise gar nicht leisten. Trotzdem brechen immer wieder viele zu der langen – und aufgrund der europäischen Abschottung immer gefährlicheren – Reise auf. Bernau erklärt, weshalb Europa für viele Afrikaner weiterhin ein Sehnsuchtsort ist. Oftmals ist es der Druck der Familien, der dazu führe. Schließlich senden die Migranten große Geldsummen nach Hause. Dadurch erhalten viele Familien mehr als die Hälfte ihres Haushaltseinkommens. „Scheitern oder gewinnen, das ist eine Frage des Schicksals“, wird ein Migrant aus Guinea zitiert. „Die Leute wollen ihr Glück versuchen, was auch immer das Risiko dabei ist.“

(BILD: Daniel Beloumou/European Union, 2023)

Dabei kam die Migration in ferne Länder erst auf, als die europäischen Kolonialmächte im Ersten Weltkrieg Soldaten in Afrika rekrutierten. Bernau wirft einen Blick noch weiter zurück ins 15. Jahrhundert, als die für die Afrikaner verhängnisvolle Beziehung zu den Europäern ihren Anfang nahm, als „die Portugies:innen 1441 erstmalig zehn Menschen aus dem heutigen Mauretanien als Sklav:innen nach Europa brachten – eine Entwicklung, die mittlerweile als Geburtsstunde nicht nur des atlantischen Sklavenhandels, sondern auch des modernen Rassismus gilt“. Um die millionenfache Verschleppung zu rechtfertigen, behaupteten die Europäer eine fundamentale Differenz zwischen den beiden Kontinenten in Form einer rassistisch begründeten Objektivierung Afrikas. Dies hat sich im Kolonialismus zugespitzt, nicht zuletzt durch den immer eifriger betriebenen „wissenschaftlichen“ Rassismus. Afrika blieb ein Objekt der Ausbeutung. So etwa, als die Kolonialmächte auf der Berliner Konferenz 1884/85 den afrikanischen Kontinent am Reißbrett aufteilten, und auch noch nach der Unabhängigkeit vieler afrikanischer Staaten in den 1950er- und 1960er-Jahren, deren Grenzen weiterhin auf dem einstigen kolonialen Diktat basierten. Emanzipationsbewegungen wie der Panafrikanismus oder die sogenannte Négritude kamen auf, 1963 wurde die Afrikanische Union gegründet. Die meisten westafrikanischen Staatschefs wagten nach der Unabhängigkeit jedoch keinen strukturellen Neuanfang.

Bernau beschränkt sich in seinen Ausführungen keineswegs auf das Thema Migration. Er schildert auch die Auswirkungen des Klimawandels auf die Region und zeigt, wie etwa Kleinbauern, die er über Jahre begleitet hat, den Folgen der klimatischen Veränderungen trotzen und sich auch gegen die europäische Agrarindustrie wehren müssen. Zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit waren in Westafrika rund 85 Prozent einer jeweiligen Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig. „Heute sind es je nach Land 50 bis 80 Prozent“, so Bernau. „Angesichts dieser Bedeutung des primären Sektors kann es nicht überraschen, dass in den vergangenen Jahrzehnten in der europäischen Öffentlichkeit landwirtschaftliche Probleme in (West-)Afrika immer wieder für Aufsehen gesorgt haben.“

In den 1960er- und 1970er-Jahren seien es – während des Biafra-Krieges und während der Sahel-Dürre – vor allem Hungerkatastrophen gewesen, die in Europa Beachtung fanden, in den 1980er-Jahren sei der Welthandel in den Vordergrund gerückt, ausgelöst durch die Preiseinbrüche bei Rohstoffen. Ab den 1990er-Jahren warfen europäische und US-amerikanische Agrar- und Lebensmittelkonzerne ihre überschüssigen Produkte auf die Märkte der armen Länder und verdrängten dort die lokalen Produzenten. Bernau nennt die Exporte von Hühnerfleisch, Baumwolle und Milchpulver zu Dumpingpreisen in westafrikanische Länder als Beispiel.

In den 2000er-Jahren kam es verstärkt zu Landvertreibungen: In neun westafrikanischen Ländern wurden bis 2012 rund drei Millionen Hektar Ackerland verpachtet und verkauft. „Hintergrund war, dass global operierende Finanzunternehmen Land- investitionen als Kapitalanlage entdeckt hatten, vorrangig zum Anbau von Energiepflanzen für Agrosprit“, schreibt der Autor. Diese Flächen fehlten fortan für die Lebensmittelproduktion – ein Grund dafür, dass Unterernährung bis heute zu den größten Problemen in Westafrika zählt.

Der Schlüssel zum Verständnis der afrikanischen Vielfachkrise liegt jedoch in Europa und im Kolonialismus. Die im Zuge kolonialer Herrschaft entstandenen ökonomischen und politischen Tiefenstrukturen entpuppten sich „nach der Unabhängigkeit als schwere Bürde für die Entwicklungsmöglichkeiten afrikanischer Länder“ (siehe Artikel „Der Weltmarkt als Waffe“ in woxx 1766/67). Längst besteht in Westafrika ein „antikoloniales Alltagsbewusstsein, das ganz genau um die tiefsitzenden Kontinuitäten Bescheid weiß“ und „ein ungleich schärferes Profil erhalten“ hat, so Bernau.

Besonders deutlich sei dies in Mali zu beobachten, das sich seit 2012 mit einer immer komplexeren Gewaltspirale konfrontiert sieht. „Neben den kriminellen und dschihadistischen Netzwerken spielen auch ethnisch aufgeladene Konflikte“ eine wichtige Rolle – und der zunehmende Hass gegen die einstige Kolonialmacht Frankreich, der sich in den kontinuierlich wachsenden Protesten gegen den „Franc CFA“ äußert, die fest an den Euro gekoppelte offizielle Währung in 14 von 17 Ländern West- und Zentralafrikas, zugleich ein „Paradebeispiel für koloniale Kontinuitäten im ökonomischen Bereich“.

Die Renaissance antikolonialen Denkens geht einher mit der steigenden Bedeutung Chinas und anderer asiatischer Länder. „Der Westen hatte diesen Fetisch, diese Fantasie von Afrika: Armut, Mangel. Und sie waren so besessen von unseren Krankheiten. Ihre größte Vision, die sie für uns hatten, waren Moskitonetze“, zitiert Bernau die Schriftstellerin Yvonne Adhiambo Owuor. Die kenianische Autorin schreibt in ihrem Roman „Das Meer der Libellen“ (2020) weiter: „Nun kommt China und sagt, dass die Vision, die sie mit uns haben, Straßen, Brücken und Häfen sind. Das ist eine ganz andere Qualität von Vision. Und ehrlich, dann nehmen wir lieber das attraktivere Angebot.“ Die Beschreibung lenkt den Blick auf Veränderungen innerhalb der westafrikanischen politischen Debatte. So stießen auch die Aktionen von „Black Lives Matter“ in den USA in vielen afrikanischen Ländern auf großes Interesse. Die Reaktion auf den Mord an dem Afroamerikaner George Floyd im Mai 2020 löste einen afrikaweiten Aufschrei aus.

Den Theorien, um die ständig größer werdende Kluft zwischen Nord und Süd zu erklären, fehle es an Tiefenschärfe, kritisiert Bernau. Er bezieht sich in seiner Analyse auf den 1980 in seinem Heimatland Guyana ermordeten Historiker und Panafrikanisten Walter Rodney. In seinem wichtigsten Werk „Afrika: Die Geschichte einer Unterentwicklung“ (1972) beschreibt dieser, wie die von Europa und den USA dominierten Strukturen des Weltmarktes seit der Sklaverei eine eigenständige Entwicklung afrikanischer Volkswirtschaften systematisch blockierten. Rodney lasse keinen Zweifel daran, erklärt Bernau, dass Europa die „Hauptverantwortung für die wirtschaftliche Rückständigkeit Afrikas“ trage. Zugleich betone er, dass die „letzte Verantwortung“ aber bei den Afrikanern selbst liege und diese die „moralische Verpflichtung“ hätten, nach neuen Wegen zu suchen.

Die koloniale Herrschaft habe das Gefüge der westafrikanischen Gesellschaft „ausgehöhlt“, resümiert Olaf Bernau. Die Debatte über demokratische Institutionen und Wahlen, die in den 1990er-Jahren Fahrt aufnahm, sei eng mit der Durchsetzung des ökonomischen Neoliberalismus und dessen fataler Wirkung verbunden gewesen. Daraus sei möglicherweise die Abwendung von demokratischen Modellen resultiert – hin zu autoritären Lösungen, was etwa die Kooperation mit China, Russland und mit dschihadistischen Gruppen betrifft. Bernau verdeutlicht nicht nur den Zusammenhang der heutigen Vielfachkrise und der Migration mit der historischen Entwicklung, sondern erhellt anhand dessen die jüngsten Ereignisse. Dabei verlässt er nie den Boden der Sachlichkeit. Ein hochinteressantes, aktuelles und spannend zu lesendes Buch.

Olaf Bernau: Brennpunkt Westafrika. Die Fluchtursachen und was Europa tun sollte. C.H. Beck Verlag, 317 Seiten.

 


Cet article vous a plu ?
Nous offrons gratuitement nos articles avec leur regard résolument écologique, féministe et progressiste sur le monde. Sans pub ni offre premium ou paywall. Nous avons en effet la conviction que l’accès à l’information doit rester libre. Afin de pouvoir garantir qu’à l’avenir nos articles seront accessibles à quiconque s’y intéresse, nous avons besoin de votre soutien – à travers un abonnement ou un don : woxx.lu/support.

Hat Ihnen dieser Artikel gefallen?
Wir stellen unsere Artikel mit unserem einzigartigen, ökologischen, feministischen, gesellschaftskritischen und linkem Blick auf die Welt allen kostenlos zur Verfügung – ohne Werbung, ohne „Plus“-, „Premium“-Angebot oder eine Paywall. Denn wir sind der Meinung, dass der Zugang zu Informationen frei sein sollte. Um das auch in Zukunft gewährleisten zu können, benötigen wir Ihre Unterstützung; mit einem Abonnement oder einer Spende: woxx.lu/support.
Tagged .Speichere in deinen Favoriten diesen permalink.

Kommentare sind geschlossen.