Peter Stamm: Überall ein bisschen fremd

Im Rahmen der Wanderausstellung „Da und fort. Leben in zwei Welten“ kommt der Deutschschweizer Autor Peter Stamm, der selbst auszog, um das Fremde kennen zu lernen, nach Luxemburg.

Schreibt leichter über Orte, die ihm fremd sind: der schweizerische Autor Peter Stamm.

Peter Stamm nimmt in seinen Erzählungen die LeserInnen mit an die Orte seiner Wanderjahre, seine Protagonisten sind unterwegs, auf Reisen, andernorts. Mit klarer, intensiver Sprache und skizzenhaften Bildern stellt er die Berührung mit dem Fremden, die Begegnung mit den Anderen her. Die woxx hat den Schriftsteller via Email zu seiner Arbeit befragt.

woxx: Herr Stamm, Sie haben längere Zeit im Ausland verbracht: in den USA, in Frankreich und Skandinavien. Was hat Sie dazu bewegt?

Peter Stamm: Inzwischen sind noch Berlin und London dazugekommen. Mein erster längerer Auslandsaufenthalt – in Paris – war ein Zufall. Ich hatte mich um eine Stelle in der Schweiz beworben, da rief die Firma mich an und sagte, ihr Buchhalter in Paris sei gestorben, er sei von einer Seilbrücke gefallen (er war Pfadfinder). Ob ich die Stelle haben möchte. Nach einigem Zögern sagte ich zu. Die ersten Monate habe ich Paris gehasst. Aber nach einem halben Jahr wollte ich nicht mehr weg. Ich bin dann trotzdem zurück in die Schweiz, um mich weiterzubilden. Aber nach diesem ersten Aufenthalt im Ausland wollte ich immer wieder ins Ausland. Ich schätze die Freiheit, die man als Reisender hat. Dass man aus dem Alltag hinaustritt, aus der Routine. Dass man niemanden kennt, auch wenn das schwierig ist. Dann bin ich einfach neugierig darauf, wie andere Menschen leben. Ich versuche auch in der Schweiz Neues zu sehen, nicht immer dieselben Wege zu gehen.

Haben Sie sich als Auslandschweizer gefühlt?

Meine Nationalität war für mich nie besonders wichtig. Ich habe immer versucht, mich an das Land anzupassen, in dem ich gerade war. Sonst hätte ich ja genauso gut in der Schweiz bleiben können. Natürlich bin ich geprägt von meiner Heimat, von der Region, aus der ich komme, von den Menschen, mit denen ich gelebt habe. Aber das würde ich nicht als „schweizerisch“ bezeichnen.

Welche Bedeutung hatten diese Aufenthalte für Ihren Beruf als Schriftsteller? In den Romanen „Agnes“ und „Ungefähre Landschaft“ sowie in der Geschichtensammlung „Blitzeis“ tauchen immer wieder Orte Ihrer Auslandsaufenthalte auf.

Es fällt mir leichter über Orte zu schreiben, die mir fremd sind. Die Fotografin Diane Arbus hat einmal gesagt: „It’s what I’ve never seen before that I recognize.“ Das geht mir auch so. Dann liebe ich auch einfach die Vielfalt. Alles, was man sieht, hört, erfährt, trägt zu dem Bild bei, das man sich von der Welt macht. Man erkennt mit der Zeit das Trennende und das Verbindende.

Haben Sie durch die Distanz aus dem Ausland etwas über die Schweiz gelernt?

Ja, dass unser Wohlstand nicht selbstverständlich ist. Dass er teilweise auf Kosten anderer geht. Dass man auch andere Prioritäten im Leben haben kann, als wir sie haben. Dass wir viel freier sind, als wir glauben, und diese Freiheiten besser nutzen sollten. Aber ich habe auch vieles an der Schweiz schätzen gelernt. Das Unkomplizierte, die Sorgfalt, die Weltoffenheit und die hohe Arbeitsmoral der Schweizer. Und ihre Identifikation mit dem Land, für das sie sich verantwortlich fühlen. Ich meine damit nicht Patriotismus.

Wenn Sie von Ihren Reisen und Auslandsaufenthalten in die Schweiz zurückkehrten, hatten Sie das Gefühl, sich wieder integrieren zu müssen?

Ich war immer überall etwas fremd. Außerdem war ich nie so lange weg, dass die Rückkehr ein Kulturschock gewesen wäre. Manchmal fehlten mir nach der Rückkehr Äußerlichkeiten. Und das Lebensgefühl. Die Kultiviertheit von Paris, die Offenheit Berlins, die Unberechenbarkeit New Yorks. Aber ich kam auch immer gern zurück zu meinen Freunden und meinen Landschaften.

„Agnes“ spielt in Chicago, „Ungefähre Landschaft“ in Norwegen, Ihre Geschichten in Schweden, den Niederlanden und anderswo. Hat man Ihnen gesagt, Ihre Texte seien gut, aber die Handlung solle lieber in der Schweiz spielen?

Das ist eher selten. Manchmal wundern sich Leute, dass ich nicht mehr über die Schweiz schreibe. Aber sie machen mir selten Vorwürfe. Fast jeder Schweizer und jede Schweizerin hat jemanden in der Familie, der weggegangen ist, im Ausland lebt. Ich habe selbst zwei Großonkel, die in Südamerika verschollen sind. Mein Großvater wollte auswandern, meine Mutter und zwei meiner drei Geschwister haben mehrere Jahre im Ausland gearbeitet. Wie gesagt, die Schweizer sind sehr weltoffen und reisefreudig. Sie interessieren sich für andere Länder. Wichtiger als der Ort, an dem ein Buch spielt, ist es für die Leser, sich mit den Figuren identifizieren zu können. Und das hängt von der Qualität des Textes ab und nicht von der Nationalität der Figuren.

Wie sehen Sie die Situation der zeitgenössischen Schweizer Literatur? Sind Sie selbst beeinflusst durch die amerikanische Literatur?

Ich glaube, das Nationale ist in der Literatur immer weniger wichtig. Ich fühle mich manchen deutschen Autoren näher als manchen Schweizer Kollegen. Ich würde nie ein Buch lesen, weil es aus einem bestimmten Land stammt, sondern nur, weil mich der Autor oder die Autorin interessiert.

Beeinflusst bin ich von der amerikanischen, der französischen, italienischen, norwegischen, russischen und englischen Literatur. Ein bisschen auch von der Schweizerischen.

Kritik und Publikum sind von Ihrem Schreiben ebenso wie von Ihren Geschichten angetan; und Sie haben zahlreiche Auszeichnungen erhalten. Welche Bedeutung, welche Kraft hat Literatur für Sie persönlich und im Allgemeinen?

Literatur war für mich immer sehr wichtig als eine Art Forum. Wenn ich ein Buch lese, fühle ich mich dem Autor oder der Autorin nah. Ich glaube, die Literatur verbindet Menschen über Landesgrenzen und Jahrhunderte hinweg. Vielleicht ist es deshalb sinnlos, von nationalen Literaturen zu sprechen.

Und wie fühlt es sich für Sie an, heute vom Schreiben leben zu können?

Ich bin sehr froh, vom Schreiben leben zu können. Es ist ein großes Privileg. Schreiben ist schwierig und anstrengend, und es ist gut, wenn man sich daneben nicht noch um seinen Lebensunterhalt kümmern muss.

Sie kommen vom Journalismus, haben in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften mitgearbeitet (Neue Züricher Zeitung, Weltwoche, Entwürfe für Literatur), Theaterstücke und Hörspiele verfasst. Sehr bald soll Ihr zweiter Geschichtenband herauskommen. Was haben Sie sonst geplant?

Ich komme nicht wirklich vom Journalismus. Ich habe immer Prosa geschrieben, konnte sie aber lange nicht veröffentlichen. In den Journalismus bin ich eher zufällig hineingerutscht. Inzwischen arbeite ich nur noch selten für Zeitungen und Zeitschriften.

Im Moment arbeite ich an einem neuen Roman, an einem Theaterstück, an Hörspielen. Nächstes Jahr wird ein Kinderbuch herauskommen, das ich vor einigen Jahren geschrieben habe, und ich habe auch schon eine Idee für ein zweites.

Die Fragen stellte
Maria-Theresia Kaltenmaier

Peter Stamm (Weinfelden, 1963) ist seit 1990 freier Autor und Journalist. Lebt in Zürich und Winterthur. Schreibt Prosa, Hörspiele und Theaterstücke. Erschienen sind 1998 der Roman „Agnes“, 1999 ein Geschichtenband unter dem Titel „Blitzeis“ und 2001 der Roman „Ungefähre Landschaft“.
Der Autor wird am Dienstag, den 6. Mai auf Einladung von „Lieszeechen“ Kostproben seiner „geräuschlosen“ und bitterschönen Geschichten geben. Ab 20 Uhr im Casino – Forum d’art contemporain, Luxemburg. Die Veranstaltung findet statt im Rahmen der Ausstellung „Da und fort. Leben in zwei Welten“, die vom 15. Mai bis zum 1. Juni im Centre de documentation sur les migrations humaines in Düdelingen zu sehen sein wird.


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