Baltische Staaten: Wappnen für den Kriegsfall

Die Staaten des Baltikums sind trotz ihrer Nato-Mitgliedschaft nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine alarmiert. Es werden zusätzliche Truppen des Militärbündnisses entsandt und Freiwilligenverbände werden aufgebaut. Neben Militärmanövern gibt es auch viel Solidarität mit ukrainischen Flüchtlingen.

Üben für den Ernstfall: Multinationale Truppen der Nato trainieren Mitte März beim Manöver „Crystal Arrow 22“ in Lettland ein koordiniertes Vorgehen. (Foto: EPA-EFE/Toms Kalnins)

In den Wochen seit Beginn des russischen Angriffskriegs haben die baltischen Staaten in ihrem politischen Handeln, bei Sanktionsforderungen gegen Russland und bei Hilfslieferungen an die Ukraine in der EU eine Vorreiterrolle eingenommen: Litauische Supermärkte waren die ersten, die russische Produkte aus den Regalen entfernten, im Baltikum wurden die ersten Landeverbote für russische Fluglinien ausgesprochen, Waffen- und Hilfslieferungen wurden schnell in die Ukraine gebracht. Der litauische Außenminister Gabrielius Landsbergis war am Dienstag vergangener Woche der erste Außenminister, der seit der russischen Invasion die Ukraine besuchte. Wenige Stunden später trafen auch die Premierminister Polens, Sloweniens und der Tschechischen Republik in dem Land ein.

Derzeit werden die Truppen des Nato-Kampfverbands Enhanced Forward Presence (EFP) in den baltischen Staaten aufgestockt. Die multinationale Kampftruppe war als Reaktion auf die Annexion der Krim 2017 ins Baltikum und nach Polen verlegt worden. Bisher waren jeweils ungefähr 1.000 Soldatinnen und Soldaten aus verschiedenen Nato-Ländern abwechselnd in jedem der drei baltischen Staaten sowie in Polen stationiert. Auch sechs Angehörige der Luxemburger Armee sind in Litauen im Einsatz. Seit dem Angriff auf die Ukraine fordern immer mehr Politikerinnen und Politiker der baltischen Staaten, die EFP-Truppen dauerhaft zu stationieren. Dies würde allerdings einem Passus in der Nato-Russland-Grundakte widersprechen, den man bisher durch den Wechsel der Truppen umgangen hatte.

Die Grundakte ist eine im Mai 1997 unterschriebene völkerrechtliche Absichtserklärung, an der bisher insbesondere die deutsche Bundesregierung gegen den Willen der baltischen Staaten festgehalten hat. Offiziell trägt sie den Namen „Grundakte über gegenseitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit zwischen der Nato und der Russischen Föderation“. Russland sollte damit beruhigt werden und erhielt Zusagen von der Nato – unter anderem den Verzicht auf die Stationierung von Atomwaffen „im Hoheitsgebiet neuer Mitglieder“ des Militärbündnisses, also der betreffenden mittel- und osteuropäischen Staaten.

Lettische Schülerinnen und Schüler ab der zehnten Klasse sollen sich einmal monatlich im Unterricht mit Zivilverteidigung beschäftigten.

Beide Parteien verpflichteten sich darin auch zum „Verzicht auf die Androhung oder Anwendung von Gewalt gegeneinander oder gegen irgendeinen anderen Staat“ sowie zur „Achtung der Souveränität (…) aller Staaten“. Bereits nach dem Nato-Krisengipfel am 25. Februar dieses Jahres sagte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg, die Nato-Russland-Grundakte funktioniere nicht, „weil eine Seite, Russland, sie über viele Jahre hinweg verletzt hat“. Medienberichten zufolge diskutieren die Nato-Verteidigungsminister daher erneut über eine dauerhafte Verlegung von Kampfverbänden nach Osteuropa.

Eine zahlenmäßige Verstärkung der EFP-Kampftruppen ist bereits im Gange, beispielsweise hat Großbritannien seine Truppenstärke im estnischen Tapa verdoppelt. Dem estnischen öffentlich-rechtlichen Rundfunk ERR zufolge wird auch das französische Truppenkontingent erhöht; in naher Zukunft dürften mehr als doppelt so viele Nato-Soldatinnen und -Soldaten in Estland stationiert sein wie zu Jahresbeginn.

Auch in Lettland werden die multinationalen Nato-Truppen aufgestockt. Zudem wird die Anzahl der Nationalgardisten erhöht, Freiwilligenverbände werden zur Verteidigung aufgebaut und Schülerinnen und Schüler ab der zehnten Klasse sollen sich einmal monatlich im Unterricht mit Zivilverteidigung beschäftigten. Die lettische Nationalgarde „Zemessardze“ ist eine Art Freiwilligenarmee, die im Kriegsfall Partisanenattacken in den lettischen Wäldern organisieren soll. Nach etwa einer Woche Ukraine-Krieg hatten sich mehr Freiwillige gemeldet als im gesamten Jahr 2021.

Bei der Militärübung „Crystal Arrow“ 2022 im zentrallettischen Adaži hatten zuletzt von Ende Februar bis Mitte März über 2.800 Soldatinnen und Soldaten aus zwölf Nato-Ländern, die an der lettischen EFP beteiligt sind, ihre Zusammenarbeit trainiert. Auf dem Youtube-Kanal der lettischen Armee sind spanische, polnische und slowakische Panzer zu sehen, die auf einem von Kiefern gesäumten Gelände Schießübungen abhalten, während in der Luft US-amerikanische Apache-Helikopter kreisen. Unterlegt ist das Video mit pathetischer Rockmusik samt Violinenbegleitung.

Darüber hinaus sind Kampfflugzeuge größerer Nato-Staaten in der Mission „Air Policing Baltikum“ in Estland und Litauen stationiert, die den Luftraum der baltischen Staaten überwachen und schützen sollen. Die baltischen Staaten verfügen über keine eigenen kostspieligen Kampfflugzeugstaffeln und greifen zur Sicherung ihres Luftraums deswegen auf die Unterstützung ihrer westlichen Nato-Partner zurück.

Auch wenn ein russischer Angriff auf ein Nato-Mitgliedsland höchst unwahrscheinlich erscheint, ist die Angst davor in den baltischen Staaten durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine enorm gewachsen. Der Lokaljournalist Mart Rauba aus dem 100 Kilometer östlich der estnischen Hauptstadt Tallinn gelegenen Rakvere beschreibt die Stimmung im Gespräch mit woxx: „Ich habe noch nie erlebt, dass so viele Esten einer Meinung waren. Das Coronavirus hat die Gesellschaft gespalten. Seit dem Kriegsbeginn sind die Menschen geeint und solidarisch – auf der Seite der Ukraine. Ich kenne auch Leute, die zur polnisch-ukrainischen Grenze gefahren sind und Geflüchtete hierher gebracht haben.“ Und er fügt hinzu: „Interessanterweise hat die rechtspopulistische Partei EKRE gerade ein Problem: Sie war immer gegen Geflüchtete, und jetzt ist fast die ganze estnische Gesellschaft für die Aufnahme von Menschen aus der Ukraine.“

Die rechtsextreme EKRE koalierte bis Mitte Januar 2021 mit der Zentrumspartei (Keskerakond) und der konservativen Partei „Vaterland“ (Isamaa). Seit dem damaligen Rücktritt des Ministerpräsidenten Jüri Ratas (Zentrum) ist die EKRE jedoch nicht mehr an der neuen Regierung unter Ministerpräsidentin Kaja Kallas von der liberalen Reformpartei (Reformierakond) beteiligt.

Nach Estland sind bereits über 20.000 Ukrainerinnen und Ukrainer geflohen. Die estnische Landschaftsarchitektin Kaisa Sard, die im zen-
tralfinnischen Tampere arbeitet, beobachtet unter in Finnland lebenden Estinnen und Esten Folgendes: „Wir hatten am 24. Februar hier eine kleine Feier geplant mit der estnischen Gemeinschaft, es war ja der estnische Unabhängigkeitstag. Wir waren dann wenigstens zusammen am Tag des Angriffs und haben versucht, vernünftig zu bleiben.“ Zur Stimmung in den sozialen Medien sagt die 31-Jährige gegenüber der woxx: „Viele haben natürlich Angst, dass Ähnliches in Estland oder im Baltikum passieren könnte, aber es wird sehr viel gespendet für die Ukraine.“

In Finnland leben circa 50.000 estnische Staatsbürgerinnen und -bürger, nach Menschen aus Russland bilden sie die zweitgrößte ausländische Bevölkerungsgruppe.

Das estnische Einkammerparlament Riigikogu forderte derweil am 14. März die UN-Mitgliedstaaten auf, eine Flugverbotszone über der Ukraine einzurichten. Diskussionen in Schweden und Finnland über einen möglichen Nato-Beitritt werden insbesondere in Estland aufmerksam verfolgt. Beim Besuch der finnischen Ministerpräsidentin Sanna Marin in der estnischen Hauptstadt am 7. März sagte ihre estnische Amtskollegin Kallas: „Sollte Finnland eine Nato-Mitgliedschaft beantragen, wird Estland diese blitzschnell ratifizieren.“

Mit dem geplanten Manöver „Siil 2022“ (Igel 2022) wollen die estnischen Streitkräfte in diesem Jahr eine der größten Militärübungen seit dem Ende der UdSSR abhalten. Ab Mitte Mai sollen estnische Soldaten und Reservisten im Verbund mit lettischen und anderen Alliierten, insgesamt bis zu 16.000 Soldatinnen und Soldaten, im südlichen Estland und nördlichen Lettland ihre Gefechtsbereitschaft und Reaktionsfähigkeit testen.

Auch die estnische IT-Community engagiert sich angesichts des Angriffs auf die Ukraine. Estnische Hacker haben über eine Million russischer E-Mail-Adressen zusammengetragen. Über die Website pravdamail.com wird per Zufallsgenerator mit einer Eingabemaske das Verschicken von Nachrichten in russischer Sprache über den Krieg an Adressen aus dem Pool ermöglicht. Mehrere Tausend E-Mails seien so bereits verschickt worden. In den FAQ wird auf die Frage, ob die ganze Aktion denn legal sei, geantwortet: „Es ist in erheblichem Ausmaß legaler, als ein anderes Land zu überfallen.“

Robert Stark berichtet als freier Journalist aus der finnischen Hauptstadt Helsinki.

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