Der Traum der Linken von mehr sozialer Gerechtigkeit in Brasilien ist ausgeträumt. Nach der Ermordung der Politikerin Marielle Franco und der Verurteilung von Ex-Präsident Lula da Silva taumelt das Land den Präsidentschaftswahlen am 7. Oktober entgegen und droht, bald von Militärs und Rechtsextremen regiert zu werden.
Rio de Janeiro am 14. März: Marielle Franco ist zusammen mit ihrem Fahrer Anderson Gomes auf der Rückfahrt von einer Veranstaltung über die Rechte afrobrasilianischer Frauen, als sie aus einem anderen Auto heraus erschossen werden. Eine Assistentin der 38-jährigen Stadträtin überlebt den Anschlag nur knapp. Die Ermittler gehen von einem politischen Attentat aus. Franco hatte in jüngster Zeit vor allem die Polizeigewalt in Rio kritisiert. Wenige Tage vor ihrer Ermordung hatte die Menschrechtsaktivistin, Mitglied des linken „Partido Socialismo e Liberdade“ (PSOL) einen Text veröffentlicht, in dem sie die Militärpolizei beschuldigte, drei Jugendliche aus den Favelas umgebracht zu haben.
Mehr als 30 Jahre nach dem Ende der Militärdiktatur (1964-1985) müssen viele Brasilianer, die sich für Menschenrechte und die Rechte von Minderheiten einsetzen, mit ihrem Leben bezahlen. Laut Amnesty International wurden im vergangenen Jahr in Brasilien 62 Menschenrechtler ermordet. Knapp 30 Jahre ist es her, dass Chico Mendes an der Tür seines Hauses im Bundesstaat Acre erschossen wurde. Der Anführer der Landarbeitergewerkschaft, während der Diktatur verfolgt und inhaftiert, gehörte zu den Symbolfiguren des Widerstandes gegen das Regime. Er hatte sich für die Rechte der Indigenen und Kautschukzapfer eingesetzt.
Mendes war Mitglied des „Partido dos Trabalhadores“ (PT). Die Arbeiterpartei war 1980 um den Gewerkschaftsführer Luiz Inácio „Lula“ da Silva gegründet worden. Sie entstand als Sammlungsbewegung aus Linken, Umweltaktivisten, Befreiungstheologen und Gewerkschaftsmitgliedern, die sich auf den demokratischen Sozialismus als Ziel einigten. Unter anderem wurde sie von der Landlosenbewegung des „Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra“ (MST) unterstützt. Der PT unterschied sich mit seinem ausgeprägten ideologischen Parteiprofil von Anfang an von anderen brasilianischen Parteien. Diese sind bis heute vor allem Wahlvereine mit stark wechselnder Mitgliedschaft.
Aufstieg Lulas und der PT
Im Jahr 1988 errang die Arbeiterpartei ihren ersten großen Wahlerfolg, als ihr Kandidat Olivio Dutra zum Bürgermeister von Porto Alegre gewählt wurde. Fortan war die südbrasilianische Millionenstadt eine Hochburg des PT, der dort 16 Jahre lang das Stadtoberhaupt stellte. Indem sie den „Orçamento Participativo“ einführte, den sogenannten Beteiligungshaushalt, setzte die Partei Maßstäbe. Den Bewohnern der Stadt wurden Mitspracherechte in den Entscheidungen über Investitionen gewährt. Porto Alegre wurde zum Vorbild für viele andere Städte und richtete später das Weltsozialforum aus. Dutra wurde Gouverneur von Rio Grande do Sul, Brasiliens südlichstem Bundesstaat. Der PT gewann in den Neunzigerjahren weitere Kommunalwahlen, unter anderem in São Paulo, Belo Horizonte und Brasília. Bei der Präsidentschaftswahl 2002 gewann PT-Kandidat Lula schließlich im zweiten Wahlgang. Es war sein insgesamt vierter Anlauf.
Der Eintritt in die Regierung brachte für die Arbeiterpartei eine neue Situation: Sie musste verstärkt Bündnisse eingehen und schloss eine Koalition, was einige Parteilinke ablehnten. Zu ersten Parteiausschlüssen kam es, nachdem einige Mitglieder vom linken Flügel ihre Zustimmung zur Rentenreform verweigert hatten, weil sie diese zu neoliberal fanden. Im Zuge der Regierungsverantwortung setzte eine zunehmende Sozialdemokratisierung ein. Selbst Gründungsmitglieder kehrten dem PT den Rücken und schlossen sich zum PSOL zusammen, der mehr und mehr zum Auffangbecken ehemaliger PT-Mitglieder wurde.
Derweil setzt Lulas Regierung einen Schwerpunkt auf die wirtschaftliche Stabilisierung des Landes, einen anderen auf den Kampf gegen die Armut. Soziale Programme wie „Fome Zero“ (Null Hunger) oder „Bolsa Família“ (Familienbörse) sollten Verbesserungen der sozialen Situation bringen. Andererseits warfen einstige Verbündete wie der MST der PT-Regierung vor, ihre Prinzipien verraten und ihre Ziele aus den Augen verloren zu haben.
Andere gewannen an Einfluss, auch sie frühere Regimegegner: Einige hatten während der Diktatur den bewaffneten Untergrundkampf aufgenommen, darunter die spätere Präsidentin Dilma Rousseff. Andere waren aus dem Exil zurückgekehrt wie José Dirceu, später Stabschef unter Lula, dazu Menschenrechtler und Frauenrechtlerinnen wie Marty Suplicy, von 2001 bis 2004 Stadtpräfektin von Sao Paulo.
Während seiner beiden Amtszeiten gelang es Lula, sowohl die extreme Armut zu reduzieren, als auch die Wirtschaft zu stärken, indem er ein Vertrauensverhältnis zur Industrie aufbaute. Jedoch wurden in seiner ersten Amtszeit im großen Stil Stimmen von Parlamentsabgeordneten gekauft. Der PT soll öffentliche Gelder aus schwarzen Kassen an Parlamentarier anderer Parteien bezahlt haben, damit diese im Sinne der Partei abstimmten und der Regierung eine Mehrheit sicherten. Zur Aufdeckung des Schmiergeldskandals kam es 2005, als die konservative Zeitschrift „Veja“ über ein Video berichtete, das die Geldübergabe zwischen einem Abgeordneten und einem Mittelsmann zeigte. Der Begriff „Mensalāo“ machte die Runde, das zweite Monatsgehalt.
Weshalb Rousseffs Sturz?
Lulas Rolle im „Mensalāo“-Skandal ist bis heute unklar. Er selbst zählte nicht zu den 37 Angeklagten in jenem Gerichtsverfahren sieben Jahre später, jedoch sein ehemaliger Kabinettschef Dirceu und Ex-Parteichef Genoino sowie der frühere Schatzmeister des PT, Delúbio Soares. 25 wurden für schuldig befunden und zu Haft- und Geldstrafen verurteilt, darunter Dirceu. Ausgerechnet der PT, der einst mit seinen hehren ideologischen Zielen als Gralshüter der politischen Moral gegen die Korruption angetreten war, hatte schwarze Kassen geführt, Steuergelder veruntreut, sich Mehrheiten mit dem Scheckbuch verschafft und Volksvertreter bestochen. Lula hatte als Abgeordneter selbst einmal seine Kollegen als „Strauchdiebe“ und „Abstauber“ bezeichnet. Nun erlitt der PT einen „moralischen Schiffbruch“, wie es der deutsche Journalist Carl D. Goerdeler einmal bezeichnete.
Lulas Nachfolgerin Dilma Rousseff, einstige Untergrundkämpferin gegen das Militärregime und von den Schergen der Diktatur ins Gefängnis geworfen und gefoltert, trat ihr Amt 2011 an. Sie hatte es sich unter anderem zum Ziel gesetzt, die Korruption zu bekämpfen. Fünf Jahre später wurde sie von ihrem Stellvertreter Michel Temer aus dem Amt gejagt. Temer gehört dem „Partido do Movimento Democrático Brasileiro“ (PMDB), einer Zentrumspartei ohne klar definierte Ideologie.
Bereits mit der Übernahme der Regierungsgeschäfte von Michel Temer deutete sich der Rechtstrend an, nachdem Rousseff im Mai 2016 suspendiert worden war, offiziell aufgrund von Verstößen in der Führung der Staatsfinanzen. Als sie im August 2016 endgültig des Amtes enthoben wurde, bildete Temer eine liberal-konservative Regierung. Rousseff und ihre Anhänger sprachen von einem „kalten Putsch“.
Weshalb wurde Rousseff wirklich gestürzt? Die Präsidentin setzte sich vehement für die Bekämpfung der Korruption ein und für Ermittlungen im „Lava-Jato“-Schmiergeldskandal um den Erdölkonzern Petrobras: Gegen gut die Hälfte der Kongressmitglieder liefen oder laufen noch Ermittlungsverfahren, weil sie darin verwickelt waren. Mittendrin Temer und der damalige Parlamentspräsident Eduardo Cunha. Temer hatte in einer im April 2016 als Tondokument verbreiteten Ansprache zur Bildung einer „Regierung der nationalen Einheit“ aufgerufen. Die Tageszeitung „Folha de São Paulo“ berichtete aus geheimen Aufzeichnungen: In einem Gespräch zwischen Temers Parteifreund Romero Jucá und dem Petrobras-Manager Sérgio Machado sagte Jucá, Rousseff müsse aus dem Amt verschwinden, sonst gebe es keine Chance, die Ermittlungen in der „Lava-Jato“-Affäre gegen führende PMDB-Politiker und Petrobras-Funktionäre zu stoppen.
Zwar entließ Temer Jucá, nachdem bereits Cunha seines Amtes enthoben worden war. Der Präsident selbst weigerte sich jedoch zurückzutreten. Ein Amtsenthebungsverfahren gegen den heute 77-Jährigen wurde beantragt. Seine Suspendierung scheiterte jedoch im Parlament. Es kam zu Massenprotesten. Nicht nur wegen der Korruptionsvorwürfe forderten Tausende von Demonstranten Temers Rücktritt, sondern aufgrund seiner Wirtschaftspolitik: Die Regierung plant längere Arbeitszeiten, die Arbeitnehmerrechte einzuschränken und das Renteneintrittsalter zu erhöhen. Am 24. Mai vergangenen Jahres kam es zu Generalstreiks in mehreren Städten. In der Hauptstadt Brasilia ging die Polizei mit Tränengas und Gummigeschossen gegen die Demonstranten vor, mehrere Ministerien mussten evakuiert werden, das Agrarministerium wurde in Brand gesetzt.
Angriff auf Lula
In der Medienöffentlichkeit stand in letzter Zeit insbesondere wieder Lula: Die Ermittlungen gegen den 72 Jahre alten Ex-Präsidenten waren im April 2015 wegen des Verdachts der Bestechlichkeit im Amt aufgenommen worden. Der Vorwurf lautete, dass Lula sich als Präsident für den Baukonzern Odebrecht eingesetzt habe, damit dieser öffentliche Bauaufträge in verschiedenen Ländern bekam. Im Gegenzug hatte er dafür angeblich von Odebrecht Bestechungsgeld angenommen. Dem Konzern wird vorgeworfen, umgerechnet mehr als 230 Millionen Dollar an verschiedene Politiker bezahlt zu haben. Im März 2016 wurde Lulas Haus von der Polizei durchsucht, der Politiker festgenommen und zum Verhör auf eine Polizeistation gebracht.
Lula soll nicht nur in dem Skandal um Petrobras die Ermittlungen behindert haben. Er soll auch den Kauf einer Dreizimmerwohnung in der Küstenstadt Guarujá durch Schmiergeldzahlungen und Geldwäsche finanziert haben. Eine zu vernachlässigende Affäre, wenn er nicht deshalb am 12. Juli vergangenen Jahres zu neun Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt worden wäre. Das Berufungsverfahren bestätigte den Schuldspruch im Januar dieses Jahres, das Strafmaß wurde sogar auf zwölf Jahre und einen Monat Gefängnis erhöht. Während Bundesrichter Sérgio Moro am 6. April gegen ihn Haftbefehl erließ, befand sich Lula im Hauptquartier der Metallarbeitergewerkschaft in São Bernardo do Campo. Der frühere Gewerkschaftsführer und Ex-Präsident ließ die Frist, die Moro ihm gesetzt hatte, verstreichen und nahm an einer Gedenkmesse für seine verstorbene Frau teil. Daraufhin stellte er sich der Polizei. Ein Gesuch auf Haftprüfung hatte der Oberste Gerichtshof mit sechs gegen fünf Stimmen abgelehnt.
Viele Beobachter sehen in dem Prozess gegen Lula und in dem Urteil den Versuch, den nach wie vor populären Politiker von der Teilnahme an den Präsidentschaftswahlen am 7. Oktober abzuhalten. Denn Lula liegt in den Meinungsumfragen deutlich vorn. Im Falle einer rechtskräftigen Verurteilung darf er laut brasilianischem Wahlrecht acht Jahre lang nicht kandidieren. Allerdings gab es immer wieder Ausnahmen, über die die Oberste Wahlkommission zu entscheiden hat.
Der Oberbefehlshaber der Armee, General Eduardo Villas Boas, hatte am 3. April per Twitter verkündet, dass das Militär bereitstünde, „seiner institutionellen Verantwortung gerecht zu werden“, sollte Lula straffrei bleiben. Eine kaum verhohlene Putschdrohung. Tausende Brasilianer applaudierten Villas Boas in den sozialen Medien und forderten ein militärisches Eingreifen. Doch ebenso gingen in den brasilianischen Großstädten Tausende zur Unterstützung Lulas auf die Straße.
Villas Boas selbst wurde wegen seines Tweets von der Generalstaatsanwaltschaft vorgeladen; auch von Verteidigungsminister Joaquim Luna e Silva, selbst General der Reserve, verlangte die Behörde Auskunft über den Sinn der Aussagen des Generals.
Drohungen von Militärs
Im Falle eines Militärputsches würde das flächenmäßig fünftgrößte Land der Welt und mit 208 Millionen Einwohnern größte Land Südamerikas, für dessen Aufstieg in den Kreis der aufstrebenden politischen und wirtschaftlichen Mächte Lula stand, um 50 Jahre zurückfallen – in jene Zeit, als die Militärs Brasilien beherrschten. Doch das Land hat sich seither verändert. Heute gibt es auch eine demokratische Zivilgesellschaft, die sich den Anmaßungen der Militärs entgegenstellt. „2018 ist nicht 1964!“ twitterte etwa der PSOL-Abgeordnete Chico Alencar: „In einer Demokratie schickt ein Militärchef keine Nachricht an irgendeine Institution der Republik.“
Wie die Absetzung der Präsidentin Dilma Rousseff nährt das gerichtliche Verfahren gegen Lula Zweifel an der Unabhängigkeit der Justiz. Es konnte nicht einmal bewiesen werden, dass die besagte Wohnung ihm überhaupt gehört. Trotzdem kamen die Richter schnell zu ihrem Urteil. Rechtsspezialisten und Intellektuelle aus dem In- und Ausland kritisierten die Verurteilung zudem wegen Verfahrensfehlern. Die Juraprofessorin Carol Proner von der Universität Rio de Janeiro sprach von einer „Inkompetenz des Gerichts, einer Festlegung des Strafmaßes weit über dem allgemein Üblichen, Verleumdungen und Fehlen von kausalen Zusammenhängen, Missachtung der Unschuldsvermutung, Gebrauch von illegitimen Beweisen“.
Den Präsidentschaftskandidaten zu diffamieren und anzuklagen, erinnert den Historiker Paulo Cesar an den Fall von Juscelino Kubitschek, von 1956 bis 1961 Präsident. Die Justiz verhinderte die erneute Kandidatur Kubitscheks mit einem Verfahren wegen einer angeblich mit Hilfe von Schmiergeldern erworbenen Wohnung. Der als fortschrittlich geltende Präsident hatte mit seiner Mitte-Links-Regierung die brasilianische Autoindustrie begründet und unter anderem mit Straßenbauprojekten einen Wirtschaftsboom ausgelöst, sowie Sozialreformen durchgesetzt. Kubitschek war Initiator des Baus der neuen Hauptstadt Brasilia.
Wie heute spielten die Medien eine unrühmliche Rolle. Vor allem die national-konservative Zeitung „O Globo“ schädigte Kubitscheks Ruf. Als die Militärs 1964 durch einen Putsch an die Macht kamen, durfte er sich nicht mehr politisch betätigen und ging ins Exil. Neun Jahre nach seiner Rückkehr nach Brasilien starb Kubitschek 1976 bei einem Autounfall. Erst im Dezember 2013, also 37 Jahre nach Kubitscheks Tod, stellte sich heraus, dass der Ex-Präsident einem Mordkomplott zum Opfer gefallen war.
Mittlerweile erinnert in Brasilien wieder vieles an die dunkle Zeit der Militärdiktatur: Die hohen Wellen, die der Mord an Marielle Franco schlägt, verdeutlichen den tiefen Riss durch die brasilianische Gesellschaft. Auf der einen Seite entstand in den Wochen nach dem Mord eine starke Solidaritätsbewegung, andererseits gab es eine Verleumdungskampagne gegen die Politikerin. Franco wurde unter anderem bezichtigt, in den Drogenhandel verwickelt gewesen zu sein.
Brasilien ist polarisiert wie selten zuvor, der Stachel des Hasses sitzt tief. Der rechtsextreme Präsidentschaftskandidat Jair Bolsonaro hat mittlerweile 20 Prozent Zustimmung. Der rassistische, frauenfeindliche und homophobe Politiker von der christlich-konservativen PSC hat bereits Folterern der Militärdiktatur seine Ehre erwiesen. Einer seiner bekanntesten Unterstützer ist kein Geringerer als der Ex-Fußballprofi Ronaldinho.