Die Stichwahl um das brasilianische Präsidentenamt am 30. Oktober zwischen Jair Bolsonaro und Lula da Silva ist ein Duell zwischen zwei Politikern, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Bei den Parlaments- und Gouverneurswahlen Anfang Oktober zeigte sich zugleich, dass Bolsonaros Politik den Mitgliedern seiner Regierung nicht geschadet hat – im Gegenteil.
Vor der brasilianischen Botschaft in Brüssel hat sich am 2. Oktober eine lange Menschenschlange gebildet. Die Menschen, die vor dem Botschaftsgebäude am Boulevard Saint Michel ausharren, warten darauf, wählen zu können. Unter den Wartenden ist auch Elbia Chaves Leopold. Die in Luxemburg lebende Brasilianerin muss nicht überlegen, wem sie ihre Stimme gibt. Sie ist zwar keine Anhängerin von Luiz Inácio „Lula“ da Silva, aber davon überzeugt, für den linken Ex-Präsidenten zu votieren, um Jair Bolsonaro abzuwählen. „Schon vor den letzten Wahlen vor vier Jahren war das Land gespalten zwischen den Anhängern und Gegnern Bolsonaros“, sagt Elbia. „Der Riss durch die brasilianische Gesellschaft geht sogar durch die Familien. In meiner etwa gibt es nicht wenige, die für ihn sind. Mit denen kann man nicht mehr reden.“
Diese Kluft ähnelt jener zwischen Republikanern und Demokraten in den USA. Die Stimmung sei vergiftet, sagen manche Brasilianer. Eine Kommunikation, die über Beschimpfungen und Unterstellungen wischen den einzelnen Lagern hinausgeht, ist kaum noch möglich. Die beiden Kandidaten, die am 30. Oktober zur Stichwahl antreten, erheben schwere Vorwürfe gegeneinander, wie das Fernsehduell zwei Wochen vor dem großen Showdown an der Wahlurne zeigt. Sie bezichtigen sich gegenseitig der Lüge. Vor den Kameras des TV-Senders „Bandeirantes“ liefern sie sich einen harten Schlagabtausch. Beide zielen auf die jeweilige Achillesferse des anderen: Lula nimmt Bolsonaros nachlässigen Umgang mit der Corona-Pandemie aufs Korn, bei der in Brasilien nicht zuletzt aufgrund einer erratischen Regierungspolitik rund 700.000 Menschen starben: „Keine Regierung auf der Welt hat mit der Pandemie und dem Tod so gespielt wie Sie“, hält Lula seinem Gegner vor und bezeichnet ihn als „König der Fake News“. Dagegen beschimpft Bolsonaro seinen Kontrahenten ein ums andere Mal als Kriminellen und spielt auf die Korruptionsskandale rund um dessen „Partido dos Trabalhadores“ (PT) an.
Aus dem schon vor der ersten Runde von Schmutzkampagnen geprägten Wahlkampf ist eine Schlammschlacht geworden.
Aus dem schon vor der ersten Runde von Schmutzkampagnen geprägten Wahlkampf ist eine Schlammschlacht geworden. Eigentlich waren dies bisher vor allem die Methoden von Bolsonaros Team. Nun zielt auch Lulas Lager unter die Gürtellinie und bringt den amtierenden Präsidenten zum Beispiel mit Pädophilie in Verbindung. Lula spricht das Thema während des TV-Duells zwar nicht an, trägt aber den Anstecker einer Kampagne gegen Kindesmissbrauch am Revers. Vor dem ersten Wahlgang sah der bald 77-Jährige nach Umfragen lange Zeit wie der sichere Sieger aus. Einige Meinungsforschungsinstitute sagten ihm sogar einen zweistelligen Vorsprung voraus. Doch die Demoskopen lagen gewaltig daneben. Bolsonaro schnitt stärker als erwartet ab und zwang Lula ins Stechen. Dieser bekam 48,43 Prozent der Wählerstimmen. Für Bolsonaro stimmten 43,20 Prozent. Vor allem sicherte sich seine Partei, der „Partido Liberal“ (PL), die beiden bevölkerungsreichen Bundesstaaten São Paulo und Rio de Janeiro.
Obwohl Bolsonaro nicht gewonnen hat, sehen seine Anhänger in ihm den großen Sieger der ersten Runde. Im Lula-Lager hingegen waren manche geschockt, aber rasch machte sich unter ihnen wieder Optimismus breit: „Lula hat sechs Millionen Stimmen mehr als Bolsonaro. Der muss das erst einmal wettmachen“, sagt ein Uniprofessor aus Manaus, der im ersten Wahlgang Sofia Manzano, die Spitzenkandidatin der „Partido Comunista Brasileiro“ (PCB), gewählt hat, aber im zweiten für Lula votieren will. Er vertraut darauf, dass viele Wähler, die der drittplatzierten Simone Tebet aus Mato Grosso do Sul (4,16 Prozent) und dem viertplatzierten Ciro Gomes (3,03 Prozent) ihre Stimme gaben, nun für Lula stimmen. Doch Tebet kommt vom „Movimento Democrático Brasileiro“ (MDB), einer Catch-All-Partei ohne klare politische Ausrichtung, die stets mit der jeweiligen Regierung zu kooperieren versucht, egal von welcher Partei diese gestellt wird, und sich dabei erhofft, bei der Ämtervergabe berücksichtigt zu werden. Und Gomes ist als notorischer Parteiwechsler bekannt. Der „Partido Democrático Trabalhista“ (PDT) ist seine siebte Partei seit 2015.
Die Wahlen, zu denen 156 Millionen Brasilianer aufgerufen sind, gelten als die wichtigsten in der jüngeren Geschichte der größten Demokratie Südamerikas. Die Resultate vom 2. Oktober bei den gleichzeitigen Gouverneurs- und Parlamentswahlen zeigen, dass der hohe Stimmenanteil von Bolsonaro kein isoliertes Phänomen ist. Sein Verbündeter Cláudio Castro hat die Gouverneurswahl im Bundesstaat Rio de Janeiro mit fast 60 Prozent haushoch gewonnen. Er war bis zum vergangenen Jahr im rechtsgerichteten evangelikalen „Partido Social Cristão“ (PSC) und ist nun in Bolsonaros PL, der seit den Wahlen stärksten Partei im Senat. In São Paulo ist Tarcísio Gomes de Freitas, wie der Staatschef Absolvent der Militärakademie „Agulhas Negras“ und Infrastrukturminister unter Bolsonaro, klarer Favorit in der Stichwahl gegen Fernando Haddad (PT). Selbst Eduardo Bazello, Gesundheitsminister während der Pandemie, hat einen Sitz in der Abgeordnetenkammer gewonnen. Den hat auch Ricardo Salles sicher, als Umweltminister mitverantwortlich für den verheerenden Anstieg der Abholzungszahlen in Amazonien. Er holte dreimal so viele Stimmen wie Marina Silva, während Lulas Präsidentschaft Umweltministerin und die bekannteste Grünen-Politikerin in Brasilien.
Als Lula Präsident war, legte er Sozialprogramme wie „Bolsa Familia“ (eine Familienbeihilfe; Anm. d. Red.), „Fome Zero“ („Null Hunger“; ein Programm, um Hunger und extreme Armut zu bekämpfen; Anm. d. Red.) oder „Minha casa, minha vida“ („Mein Haus, mein Leben“; ein Förderprogramm zum Bau von einer Million Wohnungen; Anm. d. Red.) auf. In dieser Zeit schafften es Millionen Brasilianer aus der Armut. Brasilien profitierte damals von der weltweit hohen Nachfrage nach Rohstoffen. Mit einer Zustimmungsrate von mehr als 80 Prozent war Lula das beliebteste brasilianische Staatsoberhaupt aller Zeiten.
Seine Biografie klingt wie aus einem Märchen. Als siebtes von acht Kindern einer armen Familie wuchs er zunächst im armen Nordosten Brasiliens auf, ehe seine Mutter mit ihm und seinen Geschwistern auf der Ladefläche eines klapprigen Transporters nach 13-tägiger Fahrt in São Paulo ankam. Dort verkaufte der junge Lula Kekse aus Maniokmehl und verdingte sich als Schuhputzer. Ein Klassenzimmer sah er nur für kurze Zeit von innen. Mit 14 arbeitete er als Dreher in einer Fabrik. Bei einem Arbeitsunfall verlor er einen Finger. In jungen Jahren brachte er es zum Gewerkschaftsführer der Metallarbeiter, hielt flammende Reden und organisierte Streiks. Die Schergen der Militärdiktatur (1964-1985) steckten ihn für 31 Tage ins Gefängnis. Anfang der 1980er-Jahre gründete er die Arbeiterpartei PT mit, ein Sammelbecken der linken Opposition. Dreimal zog er als deren Spitzenkandidat in den Präsidentschaftswahlkampf, dreimal verlor er. Erst im vierten Anlauf, im Jahr 2002, als er moderatere Töne anschlug, gewann er die Wahl.
Lula war am Ziel seines märchenhaften Aufstiegs. Er wurde „zur Ikone, zu einer regelrechten Marke und einem internationalen Exportschlager der politischen Linken Brasiliens in Lateinamerika“, schreibt Andreas Nöthen in seiner unlängst erschienenen Lula-Biografie. Doch der linke Präsident erwies sich als erstaunlich pragmatisch. Die „Financial Times“ frohlockte 2006: „Die Wall Street liebt Lula.“ Das Wirtschaftswachstum betrug 7,5 Prozent, als er Anfang 2011 aus dem Amt schied. Seine Vertraute Dilma Rousseff, die einst als Militante einer Guerilla-Gruppe gegen die Diktatur gekämpft hatte und im Gefängnis gefoltert worden war, folgte ihm im Amt nach und wurde 2014 wiedergewählt. Die erste Frau an der Spitze Brasiliens fuhr einen Antikorruptionskurs, doch Mitglieder ihrer Partei waren selbst in den milliardenschweren Lava-Jato-Korruptionsskandal verstrickt. Gegen Lula wurde ermittelt. Der Ex-Präsident wurde festgenommen und durch den Richter Sérgio Moro zu neuneinhalb Jahren Haft wegen Korruption verurteilt. Er wurde beschuldigt, 1,1 Millionen US-Dollar für Bauarbeiten in seinem Appartement von dem Baukonzern Odebrecht erhalten zu haben. Rousseff wurde derweil per Amtsenthebungsverfahren – von ihr und ihren Anhängern als Putsch bezeichnet – wegen angeblicher Tricks bei der Budgetführung gestürzt. Ihr Nachfolger wurde Michel Temer, bis dahin Vizepräsident.
Recherchen der Enthüllungsplattform „The Intercept“ ergaben, dass das Verfahren gegen Lula eine Farce war. Der Ex-Präsident wurde wieder freigelassen. Das Oberste Gericht Brasiliens hob die Korruptionsurteile gegen ihn am 8. März 2021 auf. Lula will es nun noch einmal wissen. Zu seinem Stellvertreter im Falle eines Wahlsiegs hat er Geraldo Alckmin auserkoren, ein intelligenter Schachzug und womöglich wahlentscheidender Coup. Alckmin war 2006 gegen Lula angetreten und unterlegen. Er war mehr als 30 Jahre lang ein „Tucano“, ein Mitglied des „Partido Socialista da Social Democracia Brasileira“ (PSDB), der Partei des früheren Präsidenten Fernando Henrique Cardoso. Nach dem Scheitern der PSDB bei den Wahlen 2018 spaltete sich die Partei. Alckmin wechselte zur PSB, dem „Partido Socialisto Brasileiro“, einer Partei ohne klares politisches Profil. Seine Nominierung ist als Signal an das bürgerliche Lager zu deuten. Der studierte Anästhesist soll die Mittelschicht und die Wirtschaft beruhigen und steht auf den Bühnen des Wahlkampfs an Lulas Seite, während dieser, mit grauem Vollbart, funkelnden Augen und seiner berühmten rauen Kratzstimme, dazu noch heißer, ruft: „Wir werden das Land wieder aufbauen. Der derzeitige Präsident hat es zerstört.“
Dieser war in der Stichwahl am 28. Oktober 2018 gegen Fernando Haddad (PT) zum Präsidenten gewählt worden. Wenige Monate zuvor galt Jair Bolsonaro noch als Außenseiter, als Abgeordneter mit Nähe zum Militär und obskuren Ansichten, der sich offen rassistisch, frauenfeindlich und homophob äußert. Nun wird er von seinen Fans „Mythos“ gerufen. In seinem Buch über Bolsonaro nennt der deutsche Journalist Nilas Franzen Brasilien ein „besonders extremes Beispiel des rechtsradikalen Zeitgeistes“.
Die Wahlen, zu denen 156 Millionen Brasilianer aufgerufen sind, gelten als die wichtigsten in der jüngeren Geschichte der größten Demokratie Südamerikas.
Der Aufstieg des amtierenden Präsidenten ist damit allerdings noch nicht annähernd erklärt (siehe das Interview mit dem Psychoanalytiker Christian Ingo Lenz Dunker über den „Bolsonarismus“ in woxx 1696). Er hat eine komplexe Vorgeschichte und zahlreiche Ursachen: die wirtschaftliche Talfahrt und fehlende Auseinandersetzung mit der Militärdiktatur, der grassierende Rassismus und eine krasse gesellschaftliche Ungleichheit, zu der die Eliten bis heute beitragen.
Ähnlich wie Donald Trump in den USA gefällt sich Bolsonaro in der Rolle des Antipolitikers (siehe den Artikel „Ein Land sucht einen Retter“ in woxx 1698). Er beherrscht die sozialen Medien als Propagandainstrument wie kaum ein anderer. Er tritt für den freien Gebrauch von Waffen ein und hat damit die Gewalt in Brasilien noch verstärkt. Er verherrlicht das Militär und hat verschiedene Generäle in seine Regierung geholt. Er hat die Regenwälder zur Zerstörung freigegeben und verbreitet unsägliche Unwahrheiten. Und er greift die Presse an und huldigt den evangelikalen Freikirchen. „International sind wir nichts mehr“, beklagt Elbia Leopold. „Bolsonaro will eine Diktatur. Er manipuliert Menschen, bringt sie gegeneinander auf und nutzt dies aus.“ Viele bezweifeln, dass der Präsident eine mögliche Niederlage überhaupt eingestehen wird. Mehrmals in der Vergangenheit versicherte Bolsonaro: „Nur Gott holt mich aus dem Präsidentenamt.“