Corona-Pandemie in Portugal: Die Angst vor der Armut

Portugal ist schwer von der aggressiven britischen Coronavirus-Variante betroffen. Ausgezehrt durch Jahre der Austeritätspolitik, droht das Gesundheitssystem zu kollabieren. Die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie treiben zahllose Menschen in Armut und Existenznöte. Eine Reportage aus Lissabon.

Leergefegt: Lissabon im Lockdown. (Foto: Ralf Streck)

Die Stimmung in der portugiesischen Hauptstadt Lissabon ist noch schlechter als vor den Präsidentschaftswahlen am 24. Januar. Die Lage ist noch trauriger als das Wetter. Der Wind schiebt schwarze Wolken vom Atlantik über eine Stadt, die sich fest in der Hand der aggressiveren britischen Coronavirus-Variante befindet. Es scheint, als läge ein Angstschleier über der Stadt. Im gespenstisch wirkenden Zentrum vertreiben Regenschauer die wenigen Menschen, die sich hier aufhalten. Dass seit Mitte Januar ein verschärfter Lockdown herrscht, Homeoffice Pflicht ist, zeigt sich hier besonders. Touristen kommen nicht mehr ins Land. Zum Monatswechsel wurden auch die Landgrenzen geschlossen; der Flugverkehr wurde bis 1. März nahezu komplett eingestellt.

Krankenwagen, die mit heulenden Sirenen in Richtung überlasteter Krankenhäuser fahren, weisen optisch und akustisch auf die schwere Lage hin, in der sich Lissabon derzeit befindet. Das Gesundheitssystem ist am Limit, alle 850 Intensivstationsbetten auf dem Festland sind belegt, weshalb Patienten sogar auf portugiesische Inseln ausgeflogen werden. Kühltransporter wurden nahe der Hospitäler geparkt, da auch die Leichenhallen überlastet sind. Vor den Krankenhäusern bilden die anfahrenden Ambulanzen Warteschlangen, zwischenzeitlich fehlten auch Beatmungsgeräte, sogar der Sauerstoffvorrat wurde knapp. Pensionierte Ärzte und Medizinstudenten wurden mobilisiert, um den Kollaps der medizinischen Versorgung abzuwenden. Aus Deutschland flog ein 26-köpfiges Team aus Ärzten, Pflegefachkräften und Hygiene-Experten der Bundeswehr ein, um vor Ort zu helfen.

Das arme Land, dessen schwaches Gesundheitssystem durch Jahre der Austeritätspolitik weiter geschwächt worden war, kann solche Hilfe gut gebrauchen. Portugal, das sehr gut durch die erste und zweite Welle gekommen ist, wies mit 850 zeitweise weltweit die höchste 7-Tage-Inzidenz pro 100.000 Einwohner auf. In Lissabon, wo sich 70 Prozent aller neu entdeckten Infektionen finden, explodierte die Inzidenz sogar auf 2.000. Zum Vergleich: In Luxemburg lag die Inzidenz auf ihrem Höhepunkt Ende vergangenen Oktober bei 750. Während die britische Variante in ganz Portugal für gut 20 Prozent aller Neuinfektionen verantwortlich gemacht wird, sind es der Hauptstadt schon über 50 Prozent.

„Ich habe große Angst“, sagt die Brotverkäuferin Isabel Andrade. Auch sie hat sich nun die teureren FFP2-Masken zugelegt, hinter der sie beim Reden nur schwer zu verstehen ist. Sie weiß, dass derzeit rund 220 Tote täglich registriert werden und die britische Virus-Variante auch häufiger jüngere Menschen wie sie ins Krankenhaus, auf die Intensivstation oder gar in die Leichenhalle befördert. Im Januar stellte Portugal einen traurigen Rekord auf. 5.576 Covid-Tote wurden verzeichnet. Das waren fast 45 Prozent aller Todesfälle seit Beginn der Pandemie.

Andrade hofft, dass die neue Maske sie schützt, während der Arbeit in einem der wenigen Läden, die im Zentrum noch geöffnet sind. Trotz des Risikos ist sie froh, den Job zu haben, angesichts der steigenden Arbeitslosigkeit. Doch es wäre ihr nicht unlieb, ins Heer der Kurzarbeiter übernommen zu werden, um zu Hause bleiben zu können, bis die Zahl der Neuinfektionen wieder niedriger ist. Offiziell waren im Dezember in Portugal 402.000 Arbeitslose gemeldet, 30 Prozent mehr als im Jahr zuvor. Real sei die Zahl aber noch viel höher, meinen Experten. Da nur etwa ein Drittel der Betroffenen auch Anspruch auf Arbeitslosengeld haben, würden sich viele gar nicht melden. Saisonbereinigt liegt die Quote nach Angaben der Europäischen Statistikbehörde „Eurostat“ bei 6,5 Prozent. Seit September (7,9 Prozent) wäre sie damit sogar gesunken und weiterhin unter dem EU-Durschnitt. Im Land nimmt diese Zahlen niemand ernst.

Ein Gang durch Lissabon verdeutlicht, wie massiv auch die Obdachlosigkeit zugenommen hat.

Die Beschäftigten von Leonardo Coelho befinden sich im „Layoff“, wie Kurzarbeit auf Neuportugiesisch heißt. Coelho, ein netter älterer Herr, betreibt unweit der Bäckerei, in der Isabel Andrade arbeitet, eine größere Pension. Auch diese wurde Ende Januar wieder geschlossen. „Ich hatte nur noch einen Gast“, sagt er. Er und seine Leute haben das Glück, dass der Staat die Kosten für Lohn- und Sozialleistungen übernimmt, wenn die Umsätze um 75 Prozent einbrechen. Die Lage ist deutlich besser als in Spanien, wo Kurzarbeiter nur 75 Prozent des Lohns erhalten und auch Kleinunternehmer die Sozialversicherungsanteile bezahlen müssen.

„Unter spanischen Bedingungen hätte ich längst schließen müssen“, meint Coelho, der die Proteste der Kollegen im Nachbarland versteht. Auch der Lissabonner Hotelier weiß nicht, wie lange er noch durchhält, schließlich laufen andere Kosten weiter. Er hofft nun auf direkte Staatshilfe. Im Haushalt 2021 sind 375 Millionen Euro für Künstler, das Hotel- und Gaststättengewerbe vorgesehen. Wer in Portugal am Tourismusgeschäft hängt, hat es schwer. Die Zahlen der portugiesischen Statistikbehörde zeigen das auf. Im vergangenen Jahr ist die Zahl der Touristen und die der Übernachtungen im Vergleich zu 2019 um mehr als 60 Prozent eingebrochen.

Antonio hat längst existenzielle Probleme. Der Taxifahrer verlor schon im ersten Lockdown seinen Job. „Meine Lage ist sehr schwierig“, sagt er, und ergänzt: „Meine Frau ist sehr krank“. Er könnte nicht einmal arbeiten, wenn es Arbeit für ihn gäbe. Seit Monaten kommt er täglich in eine durchlüftete Halle, einst ein Pferdestall des nahegelegenen Königspalasts, um Essen für die Familie zu bekommen, das hier an bedürftige Menschen ausgegeben wird. Seine Lage wäre sonst noch verzweifelter. Er stünde vor der Frage, Essen oder Miete bezahlen.

Er fragt die Leiterin der Initiative mit dem sperrigen Namen „Vereinigung für soziale Aktivitäten im Stadtteil des 2. Mai“, ob er etwas mehr bekommen könne, da nun auch noch sein Sohn arbeitslos geworden sei und wieder bei den Eltern wohne. Die kleine Daniela Freitas schaut ihn mit ihren braunen Augen an, reicht ihm etwas mehr Obst über den Tisch, da die täglich frisch gekochten Mahlzeiten abgezählt sind. „Teile deine neue Lage der Behörde mit, damit auch dein Sohn aufgenommen wird“, erklärt ihm die junge Frau. Sie hält die Liste mit den Menschen hoch, denen nach Prüfung ihrer Lage die Versorgung zugestanden wurde.

Auch Freitas fürchtet sich vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus. Sie trägt eine OP-Maske über der FPP2-Maske. Ein Schutzschirm vor dem Gesicht schützt zusätzlich. Sie wechselt sich mit einer Kollegin an verschiedenen Tagen ab. Sie wollen nicht zusammentreffen, damit nicht beide Leiterinnen wegen einer Infektion ausfallen. Ihre Arbeit nehmen die Beschäftigten hier sehr ernst. Schließlich werden allein am Stadtrand von Lissabon 54 Familien täglich mit Essen versorgt, das sind deutlich mehr als 200 Menschen.

Gekocht wird in einer Küche, die zu einer Kindertagesstätte gehört. Deren Betrieb ist die eigentliche Aufgabe der Vereinigung. Doch auch diese Einrichtung wurde im Lockdown geschlossen und dient jetzt als Basis der Lebensmittelhilfe.

Alte oder kranke Menschen, die selbst nicht mehr vorbeikommen können, werden beliefert. Finanziert wird das alles von der Stadtverwaltung. Weder Lebensmittelspenden noch freiwillige Helfer werden eingesetzt, erklärt Freitas. Das ist anders als bei Tafeln der katholischen Kirche, die man in den Stadtteilen findet. Arbeitsplätze sollen erhalten oder geschaffen werden.

„Armut und Hunger haben sich massiv ausgebreitet“, meint Freitas. Mehr als 3.000 Familien würden allein in Lissabon von Einrichtungen wie ihrer mit Essen versorgt. Ein Gang durch die Stadt macht deutlich, wie massiv auch die Obdachlosigkeit zugenommen hat. Dass sie sogar Menschen wie Antonio oder Eugenia bedrohen würde, hätten die beiden sich noch vor einem Jahr nicht vorstellen können. Die Altenpflegerin Eugenia zählte sich eher zur Mittelschicht, worauf auch der schicke Kleinwagen hinweist, mit dem sie vorfährt, um ihr Essen abzuholen. „Alles ging sehr schnell“, sagt sie: „Ich bin an den Handgelenken operiert worden und kann nun meinem Beruf nicht ausüben.“ Dramatisch wurde die Situation der sechsköpfigen Familie, zu der nun auch eine Enkelin gehört, als Eugenias Mann Antonio während der Pandemie seine Stelle in einer Diskothek verlor.

Bald war der Anspruch auf Arbeitslosengeld abgelaufen, die Not wurde groß. Während der Kältewelle im vergangenen Januar habe das Geld schon nicht mehr gereicht, um die Wohnung zu heizen. Dass die Mehrwertsteuer auf Strom gesenkt und die Regierung zehn Prozent der Rechnung übernimmt, sei zwar schön, aber nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Antonio und Eugenia hoffen nun auf ein vom Parlament beschlossenes Sozialgeld. 250.000 Familien sollen bis zum Jahresende unterstützt werden, die sich in einer prekären Lage befinden.

Maßnahmen wie diese seien sehr knapp bemessen, kritisiert die Partei „Linksblock“ (BE). Eine Vielzahl von Kriterien sorge dafür, dass viele keine Hilfen bekommen, obwohl sie dieser bedürfen. Ein Grund, warum der BE den Haushalt abgelehnt hat. Zu zaghaft sei die Politik der sozialistischen Regierung unter Antonio Costa, kritisiert das Linksblock-Führungsmitglied Marisa Matias im Gespräch mit der woxx: „Neben Notmaßnahmen gegen Hunger und Energiearmut brauchen die Menschen sichere Arbeitsplätze mit Rechten und würdigen Löhnen.“ Prekäre Bedingungen seien längst in die Breite der Gesellschaft vorgedrungen. „Jetzt muss zukunftsorientiert investiert werden, damit die Wirtschaft wieder zum Laufen kommt, Steuern fließen und die Sozialkassen nicht ausbluten.“ Es gehe nicht darum, die Armut zu lindern, „sondern sie abzuschaffen“, erklärt Matias.

Menschen wie Antonio und Eugenia haben große Zukunftsängste. Sie hoffen aber, dass sich mit der Impfkampagne auch die ökonomische Situation wieder bessert und über zugesicherte EU-Gelder das Licht am Ende des Tunnels sichtbar wird. Viele Portugiesen glauben daran bislang nicht. Positiv ist aber, dass die Zahl der Neuinfektionen wieder deutlich gesunken ist. Der Lockdown zeigt Wirkung, immerhin.

Ralf Streck berichtet als freier Journalist aus Portugal und Spanien.

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