Demenzkranke und Senior*innen: Inklusive Kulturangebote auch im Lockdown

Viele Kulturinstitutionen sind auf einem Auge blind: Ihre Programme sind selten für Demenzkranke oder Senior*innen ausgelegt. Die Organisation „Momenter Intensiv Liewen“ schaffte vor der Pandemie Alternativen. Über Kultur, Alter und Covid-19.

Kulturangebote, die sich für Demenzkranke und Senior*innen eignen, waren schon vor der Pandemie rar. Für die Zeit während des Lockdowns versuchen Initiativen vereinzelt Abhilfe zu schaffen. (CC BY Anders Lejczak SA 2.0)

Als Dani Jung, die Präsidentin des 2019 gegründeten Vereins „Momenter Intensiv Liewen“ (MIL), ihren Text über das kulturelle Angebot für Demenzkranke und Senior*innen in Luxemburg für den diesjährigen Sozialalmanach der Caritas einreichte, sah die Welt noch anders aus. Covid-19 und ein Besuchsverbot in Alten- und Pflegeheimen? Kein Thema. Die Vereinsmitglieder steckten in den Vorbereitungen für das, was ihnen am Herzen liegt: Kulturprojekte, die auch Demenzkranken und Senior*innen zugänglich sind.

Diverse Studien belegen, schreibt Jung in ihrem Text, dass beispielsweise Musik eine wohltuende Wirkung auf Demenzkranke hat. Im Gespräch mit der woxx fügt sie dem hinzu, dass viele von ihnen nur noch über Melodie und Gesang erreichbar seien. Musik ist in dem Fall kein bloßer Zeitvertreib, sondern gewissermaßen einziges Fenster zur Außenwelt. Trotzdem werden sie selten bis gar nicht als potenzielle Publikumsgruppe wahrgenommen. Die kulturellen Angebote, die sich auch für Senior*innen und Demenzkranke eignen, waren vor der Pandemie rar in der luxemburgischen Kulturszene, sagt Jung. Ein Eintrag im Kulturentwicklungsplan 2018 bestätigt dies: „Les mesures culture les concernant se limitent souvent à quelques réductions tarifaires et aux activités de loisir pour „les occuper“ en tant qu’un groupe à part dans la société. Il faudrait envisager plus de collaborations entre les acteurs associatifs, les acteurs culturels et les services municipaux pour mettre en place une participation plus inclusive et intergénérationnelle.“

Die Ausgrenzung des betagten oder dementen Publikums beginnt mit dem gängigen Veranstaltungsstart um 20 Uhr, schreibt Jung in ihrem Beitrag im Sozialalmanach. „Das ist für viele Senioren schon ein Ausschlusskriterium“, sagt sie im Telefongespräch mit der woxx. „Sei es, weil sie nicht mehr autonom und mobil sind, sei es, weil sie an einen anderen Tagesrhythmus gewöhnt sind.“ Die Lösung: Veranstaltungen, die sich für die betroffene Altersgruppe eignen, auch mal vormittags oder am frühen Nachmittag anbieten. In ihrem Text nennt Jung ein Beispiel aus Köln. Dort wurden unter dem Titel „Oper für Jung und Alt“ bekannte Opern für Schulklassen, Familien und Demenzkranke inszeniert. Die Events begannen vor zwölf Uhr mittags, wurden auf eine Stunde gekürzt, blieben qualitativ jedoch unverändert. Ziel solcher Projekte sei es auch, Brücken zwischen den Bevölkerungsgruppen zu schlagen und Ängste vor Demenz oder Alter abzubauen, betont Jung.

Das Kulturerlebnis scheitert für Senior*innen und Demenzkranke aber nicht nur an der Uhrzeit. Eine zweite Hürde ist der Zugang zu den Kulturinstitutionen, der in Luxemburg oft nicht barrierefrei ist. Hinzu kommen Probleme mit der Lautstärke, den Lichtverhältnissen und der Dauer der Veranstaltungen. Auch in dem Kontext variieren die Bedürfnisse sowie die intellektuellen und physischen Kapazitäten je nach Alter und Gesundheitszustand. Jung verweist in ihrem Text erneut aufs Ausland: In England bieten Kulturinstitutionen „relaxed performances“ zu ihren Events an. Der Inhalt bleibt der gleiche, nur die Rahmenbedingungen werden an die jeweilige Zielgruppe angepasst.

CC-BY Rising Damp 2.0

MIL selbst feierte im Oktober 2019 mit dem Projekt „Kanner o Kanner, o quel bonheur“ im Wohn- und Pflegeheim Beim Goldknapp Premiere. Zwei weitere Vorführungen des Projekts im Foyer des Ettelbrücker CAPE waren ausverkauft. Die Besucher*innen waren begeistert. Jung zitiert in ihrem Text Stimmen von Senior*innen und deren Familienmitgliedern, die sich für die Erfahrung bedanken. Jung macht allerdings auch keinen Hehl daraus, dass die Organisation des Besuchs für die Heime schwer war. Für den reibungslosen Transport, das Bereitstellen von Personal und die Bezahlung der Eintrittskarten müsse man in Zukunft nach Lösungen suchen. Irgendwann später, denn momentan fällt das kulturelle Leben ohnehin flach.

Kultur in Altenheimen und Pflegestrukturen, volle Theatersäle und Opern bleiben vorerst eine Wunschvorstellung. Senior*innen und chronisch kranke Menschen tauchen im öffentlichen Diskurs fast nur noch unter „Risikogruppe“ auf. Die Prioritäten in den Alten- und Pflegeheimen liegen woanders als bei der Gestaltung kultureller Aktivitäten. Die Stimulation der Bewohner*innen, deren Gesundheitszustand sich durch die Isolation teilweise verschlechtere, sei dennoch wichtig, sagt Jung im Gespräch mit der woxx. Viele von ihnen können nicht auf Onlineangebote zurückgreifen. Andere sind generell nicht mehr fähig, sich autonom zu beschäftigen. MIL arbeitet deswegen nun Konzepte aus, die möglichst unkomplizierte und inklusive Kulturerlebnisse in den Alten- und Pflegeheimen ermöglichen.

Eine Idee konkretisiert sich: Die Aufzeichnung von „O Kanner o Kanner, o quel bonheur“ auf DVD. Die Musiker*innen wollen das Stück unter den nötigen Sicherheitsvorkehrungen live aufnehmen. Wenn alles im Kasten ist, werden die DVDs an interessierte Strukturen verteilt. Wann, das kann Jung noch nicht sagen. „Es ist klar, dass wir damit keinen Veranstaltungsbesuch ersetzen“, sagt sie. „Es ist vielmehr ein kleines Pflaster, das wir auf die Wunde kleben.“ Sie, deren eigener Vater an Demenz erkrankt ist, schreibt derweil zwecks möglicher Zusammenarbeit Alten- und Pflegeheime an. Wer will, soll sich bei MIL melden.

Während der Verein noch an möglichen Konzepten feilt, präsentiert das Projekt „Window Loving“ der NGO Grand H Kultur vorm Fenster. Auf dem Bürgersteig vor der Résidence Belle-Vallée in Luxemburg-Stadt treten seit dem 17. April zweimal wöchentlich Künstler*innen aus den unterschiedlichsten Bereichen auf – und das noch bis zum 20. Mai. Auf den sozialen Netzwerken kursieren außerdem Videos lokaler Orchester, die vor Alten- und Pflegeheimen Ständchen zum Besten geben. Die Fondation EME kooperiert hingegen landesweit mit den unterschiedlichsten Wohn- und Betreuungsstrukturen, unter anderem mit Krankenhäusern und Altenheimen, um deren Bewohner*innen ein kulturelles Angebot zu bieten. Mitte März folgten rund fünfzig Musiker*innen dem Aufruf der Fondation und nahmen zuhause Musik für das Projekt „Concerts contre la solitude“ auf. Die Aufnahmen wurden an alle Pflegeinstitutionen Luxemburgs verschickt. Die Fondation hat bis dato darüber hinaus zehn Konzerte vor Altenheimen und Krankenhäusern organisiert.

Siehe auch : Caritas-Sozialalmanach: Vor Corona, nach Corona.

An.d.R.: Der Absatz zu den Angeboten der Fondation EME wurde dem Artikel nachträglich beigefügt und erschien nicht in der Print-Ausgabe der woxx (1577).


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