Caritas-Sozialalmanach: Vor Corona, nach Corona

Soziale Herausforderungen gab es schon vor der Coronakrise. Der Caritas-Almanach bietet eine breite Übersicht – und eine kleine Aktualisierung für die Zeit nach der Epidemie.

Armut: ein „altes“ Thema, das auch mit der Coronakrise nicht verschwindet, im Gegenteil.
 (Gustave Doré, 1882/83)

Möchte man in Zeiten der Erderwärmung ein Buch lesen, das, vor 50 Jahren verfasst, die planetaren Herausforderungen im Licht einer heranbrechenden Eiszeit beschreibt? Nein? Oder den diesjährigen Sozialalmanach der Caritas, noch vor dem Ausbruch der Corona-Epidemie zusammengestellt? Vielleicht doch. Die Probleme bleiben zum Teil die gleichen – Erderwärmung hin, Massenerkrankung her. Wenn die Gegenwart uns einen Tunnelblick aufzwingt, kann eine Bestandsaufnahme aus der Vergangenheit helfen, die Sicht für entscheidende Veränderungen zu schärfen, aber auch Kontinuitäten zu erkennen. Bei der Lektüre des Sozialalmanachs 2020 wird jedenfalls klar: Viele sozialpolitische Fragen aus der Zeit vorher, der Zeit der (relativen) Unbekümmertheit und des Wachstums, werden sich weiterhin stellen, in dieser Zeit der Zweifel und der wirtschaftlichen Schwierigkeiten.

Wachstum war einmal

Seit 2007 erscheint der Sozialalmanach als eine Art Wortmeldung der Caritas kurz vor der alljährlichen Rede zur Lage der Nation. Wobei die meisten der mehreren Hundert Seiten jeweils einem Schwerpunktthema gewidmet sind. Mit dem „Vieillissement“, also dem „Altern“ befassen sich dieses Jahr 14 Beiträge, auf die wir weiter unten und im Artikel auf Seite 6 eingehen („Inklusive Kulturangebote auch im Lockdown“). Dass dabei die Gesundheit nur am Rande behandelt wird, erinnert daran, wie unvorbereitet die Corona-Epidemie unsere Gesellschaft getroffen hat.

Wird zu viel Wachstum jemals wieder ein Problem sein? Die Frage ist heute naheliegend, doch vor sechs Monaten lag der Fokus der Diskussion noch ganz woanders. „Qualitatives Wachstum“ war 2019 das Almanach-Thema, Bettels Rede in der Folgewoche war der Klimaproblematik gewidmet. Wobei die konkreten Inhalte der Rede für kritische Reaktionen sorgten. Denn wo Bettel den Klimaschutz als kompatibel mit Wachstum darstellte, konterte Blanche Weber vom Mouvement écologique mit einer grundsätzlichen Infragestellung des Wachstums („Le climat, nouveau dada !“).

Als „unkonkrete Absichtserklärung“ wird die Rede auch im diesjährigen Sozialalmanach bezeichnet, dessen erster Teil die jüngsten sozialen Entwicklungen bilanziert und Perspektiven aufzeigt. Der Koordinator des Almanachs Robert Urbé fasst sich kurz (8 Seiten): „Viel mehr ist zur Erklärung nicht zu sagen, denn unsere Schlussfolgerung kann ja nur ein Echo auf das sein, was vorgetragen wurde.“ Seine Analyse der „Lage der Nation am Vorabend des 28. April 2020“ (Datum der diesjährigen Bettel-Rede) klingt positiver: Die im Dezember vorgestellten Maßnahmen des Klimaplans zeigten in die richtige Richtung, müssten allerdings durch die richtigen sozialen Ausgleichsmaßnahmen ergänzt werden.

Dabei erwähnt Urbé die angekündigte Steuerreform, auf die er an anderer Stelle ebenfalls eingeht. Diese soll im Zeichen der „Individualisierung“ stehen, für den Almanach-Koordinator ein rotes Tuch: „Wir stellen geradeheraus in Frage, ob das das sein soll, was unsere Gesellschaft jetzt braucht.“ Die Individualisierung schaffe weder mehr soziale Gerechtigkeit, noch verbessere sie die Voraussetzungen für Frauen, einem eigenständigen Beruf nachzugehen. „Was wir bräuchten, wäre ein Weg heraus aus der immer größeren Individualisierung, in der jeder nur noch sich selber kennt und nach sich selber sieht“, so Urbé. Er verweist auf die Ungerechtigkeiten im Steuersystem, insbesondere die gegenüber der Einkommenssteuer niedrige Besteuerung von Kapitaleinkünften und Besitz.

Dass soziale Themen 2019 in der Rede zur Lage der Nation vernachlässigt wurden, ist Urbé nicht entgangen. Er bedauert, „dass Themen wie Wohnen und steigende Armut und Ungleichheit nicht zur Sprache kamen“. Dafür lobt er rückblickend die vielen Maßnahmen der vergangenen Monate in Sachen Wohnungsbau, insbesondere jene, die Mieten für als „logement abordable“ ausgewiesene Wohnungen nicht aufgrund des Marktwertes oder des Baupreises, sondern des Einkommens der Bewohner*innen festlegen. Und kommentiert: „Alle diese Maßnahmen sind zu begrüßen. Die Frage ist, ob es mit der Umsetzung klappt, und ob es ausreicht.“

Wohnungsnot forever

In seiner Vorabend-Analyse sieht er das Wohnen als zweitwichtigste „Baustelle“ und fordert „noch dirigistischere Maßnahmen“. Auch hier sieht Urbé rot: „Um dem Menschenrecht auf adäquaten Wohnraum Rechnung zu tragen, darf ein falsch verstandenes verfassungsmäßiges Recht auf Eigentum nicht zur Bremse werden.“ Baustelle Nummer 1 sind Armut und Ungleichheit: Hier fordert der Almanach mehr Unterstützung für Menschen, die vom Armutsrisiko betroffen sind, und eine Steuerreform, die im Zeichen der sozialen Gerechtigkeit steht.

Das Schwerpunktthema „Altern“ des Caritas-Sozialalmanachs 2020 wird von Urbé als Nebenthema der sozialen Gerechtigkeit eingeführt: Es bestehe die Gefahr, dass „ein immer größerer Anteil der Bevölkerung ausgeschlossen wird, weil die Gesellschaft die alten Leute nicht mitnimmt“. Tatsächlich geht es in den von Expert*innen und Akteur*innen verfassten 14 Beiträgen um so verschiedene Aspekte wie „aktive“ Senior*innen, Palliativbetreuung sowie Zugang zu Kunst und Kultur. Einer der interessantesten Beiträge stammt von Anne-Sophie Parent: Es geht darum, wie junge und alte Generation sich gemeinsam für eine bessere Zukunft einsetzen können, ob in der Berufswelt oder beim Klimaschutz. Das liest sich natürlich nochmal anders in einer Zeit, in der die Ansteckungsgefahr durch das Coronavirus ein besonders drastisches „distancing“ zwischen den Generationen erforderlich macht.

Wie nicht anders zu erwarten, sind viele Beiträge den finanziellen Aspekten des demografischen Wandels gewidmet. Der diesjährige Sozialalmanach verzichtet allerdings auf die, auch in alternativen Kreisen beliebte, Klage über die luxemburgischen „Renten auf Pump“. So bietet der Artikel des IGSS-Mitarbeiters Kevin Everard statt Alarmismus eine realistische Einschätzung der Finanzierungsspielräume und des Reformbedarfs (die allerdings aufgrund der jetzt steigenden Staatsverschuldung revidiert werden müsste). Und der Schweizer Experte Carlo Knöpfel sieht gar im demografischen Wandel eine Chance für die soziale Sicherheit. Mit der Investitionsstrategie des Reservefonds der Luxemburger Rentenversicherung befasst sich Martina Holbach von Greenpeace. Ein Divestment aus fossilen Energien wird aus ethischen Gründen, aber auch aus solchen der finanziellen Sicherheit gefordert. Dabei blendet Holbach allerdings die Gerechtigkeitsfragen aus, die sich grundsätzlich in Zusammenhang mit dem Kapitaldeckungsverfahren stellen, ganz gleich ob in saubere oder unsaubere Konzerne investiert wird.

Umdenken, aber wie?

Die Coronakrise als Anlass zum Umdenken ist ein beliebtes Motiv. Doch dieses durchaus vorhandene Potenzial könnte ganz schnell von einer bedrückenden Realität erstickt werden. Auf den zwei Seiten über die Folgen der Epidemie, die ins fast fertige Layout hinzugefügt wurden, zeigt sich Urbé wenig optimistisch. Die wirtschaftlichen Auswirkungen würden neue, weiter gehende Maßnahmen in den Bereichen Steuern, Sozialbeiträge, Subventionen, Investitionen notwendig machen, um negative Entwicklungen zu begrenzen. „Das kann an erster Stelle die geplante Steuerreform betreffen“, so Urbé, der damit wohl auf die Notwendigkeit von Netto-Steuererhöhungen anspielt. Auf die notwendigen Anstrengungen in den Bereichen Armut/Ungleichheit, Wohnungspolitik und Klima dagegen sollte die Krise keinen direkten Einfluss haben. Urbé plädiert für ein Win-win, zum Beispiel würden verstärkte Investitionen in den Wohnungsbau und in die Altbausanierung (zwecks Klimaschutz) zum Aufschwung der Wirtschaft beitragen.

Besorgt ist Urbé insbesondere darüber, dass die Auswirkungen der Epidemie sozial schwache Personen besonders hart träfen: 20 Prozent Einkommensverlust bei Kurzarbeit wirke sich bei niedrigen Einkommen besonders stark aus, die psychische Belastung durch das Lockdown sei in kleineren Wohnungen besonders groß. „Es ist zu befürchten, dass (…) wir mit mehr Armut und Ungleichheit aus dieser Krise herauskommen“, so Urbé. Die im Vorabend-Beitrag aufgestellten Forderungen seien umso dringender nach der Krise – oder gar schon jetzt – umzusetzen.

Siehe auch: Demenzkranke und Senior*innen: Inklusive Kulturangebote auch im Lockdown.


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