Douglas Stuart: Young Mungo

Was bedeutet es, als queerer Protestant und Kind einer alkohol-
kranken Mutter im Glasgow der 1990er-Jahre aufzuwachsen? 
In „Young Mungo“, dem zweiten Roman des schottischen Autors Douglas Stuart, ist es ein einziger Kampf ums Überleben.

„Young Mungo“ von Douglas Stuart ist eine brutale Geschichte über toxische Männlichkaeit, Queerness und Liebe in feindlicher Umgebung. (Copyright: Picador)

Der Jugendliche Mungo Hamilton sitzt im Bus in Richtung Nirgendwo, als einer seiner Begleiter die Wunden abtastet, die sich Mungo bei einem Straßenkampf zwischen Protestant*innen und Katholik*innen zugezogen hat. Als der Verwundete zusammenzuckt und sich windet, grinst sein deutlich älterer Mitfahrer Gallowgate und versichert ihm: „Dinnae worry. Weʼll have a proper boyʼs weekend. Make a man out of you yet, eh?“ Douglas Stuart schildert auf den nachfolgenden Seiten seines Romans „Young Mungo“, 2022 bei Picador erschienen, die fatalen Folgen dieses Ausflugs an einen See und was Gallowgate unter dem Wandel zum Manne versteht.

Das Buch beginnt allerdings mit einer anderen Szene: Mungo steht auf dem Trottoir und dreht sich nach seiner Mutter „Mo-Maw“ um, die am Fenster steht und ihrem Sohn beim Fortgehen mit zwei fremden Männern zuschaut. Wohin sie Mungo bringen, weiß sie nicht. Der Ort bleibt den gesamten Roman über unbekannt. Mo-Maw kennt Gallowgate und St. Christopher auch nur flüchtig, aus den Gruppentreffen der Anonymen Alkoholiker, die sie unregelmäßig besucht. Mungo soll mit den Männern zum See fahren, damit er auf andere Ideen kommt, damit aus ihm doch noch ein „richtiger Kerl“ wird. Was dem Ausflug vorangeht, erfahren die Leser*innen nach und nach in Rückblenden, die sich zwischen die Ereignisse am See mischen.

Wann ist ein Mann ein Mann?

Mungo erfüllt in den Augen seiner Familie keineswegs die soziale Rolle, die Männern zugeordnet wird. Doch worin besteht diese in Stuarts Roman genau? Eine Antwort darauf lautet zweifelsfrei: Ein Mann zu sein heißt, Gewalt anzuwenden. Gallowgate und St. Christopher sind verurteilte Straftäter und erst seit Kurzem auf freiem Fuß, als sie Mungo unter ihre Fittiche nehmen. Warum sie hinter Gittern saßen, erfahren die Leser*innen im Laufe der Erzählung, doch eins vorneweg: Es handelt sich bei ihren Verbrechen nicht um Kavaliersdelikte. Die Begegnung zwischen Mungo, Gallowgate und St. Christopher ist einer der aufreibendsten Erzählstränge und nichts für Leser*innen, die es vermeiden wollen von expliziten Gewalt- und Missbrauchserfahrungen zu lesen. Die Männer sind manipulative Charaktere, die ihre eigenen Unsicherheiten in Alkohol ertränken und durch Übergriffe zu vergessen versuchen. Anhand dieser beiden Figuren thematisiert Stuart sexualisierte Gewalt, die von männlichen Tätern ausgeht, bringt Macht und Sex ins Gespräch über Männlichkeit.

Mungos älterer Bruder Hamish mischt ebenfalls in Mungos Erziehung mit. Er wird von allen nur Ha-Ha genannt. Mit Achtzehn ist er unerwartet Vater geworden, lebt in Armut und ist ein Kleinkrimineller: Er stiehlt Autoradios, dealt mit Speed, führt die Straßenkämpfe zwischen Katholik*innen und Protestant*innen an, an denen sich in dem Roman übrigens auch eine Frau beteiligt, wenn auch nur am Rande. Es ist ein politischer und religiöser Kampf, der seit Jahrhunderten in Glasgow gefochten wird; „Sectarianism“, wie man ihn auch aus Nordirland kennt. Ha-Ha gehört einer protestantischen Schlägertruppe an und geistert durch den Roman wie ein Schreckensgespenst. Wie Gallowgate will auch Ha-Ha seinen kleinen Bruder zum Mann machen.

Für Ha-Ha bedeutet das die Abkehr von jeglicher Sanftheit. „Weʼre in this the gether, Mungo. Iʼm just hard on you because ah canna have ye turning out soft or nothing“, bringt er seine Absichten auf den Punkt. Ha-Ha versteht sich in zweifacher Weise als Familienoberhaupt: Er muss sich um den Halbwaisen Mungo ebenso kümmern wie um sein eigenes Kind und seine minderjährige Partnerin. Das tut Ha-Ha mit harter Hand, ist dabei jedoch vielschichtiger als Gallowgate oder St.Christopher. Ha-Ha öffnet sich Mungo gegenüber an manchen Stellen, indem er ihm von seinen Ängsten und Sorgen erzählt. Er entlockt seinem kleinen Bruder sogar ein zögerliches „I love you“, eine Szene die durch einen erneuten Einbruch körperlicher Gewalt ein jähes Ende nimmt. Ha-ha steht für ein falsches Ehrgefühl, das mit Männlichkeit assoziiert wird: Ein Mann muss seine Werte mit Fäusten verteidigen; ein Mann muss seine Familie ernähren, wenn auch durch Verbrechen; ein Mann muss hinter den Prinzipien eines Anführers stehen. So ist es nur logisch, dass Ha-Ha auf der vorletzten Buchseite hervortritt, wenn ein Polizist nach „bold Mungo“ fragt, und sich für seinen kleinen Bruder ausgibt, der Dreck am Stecken hat.

Queerness zum Kontrast

Ein grundsätzlich anderes Bild von Männlichkeit bieten nur die queeren Charaktere, die einen spannenden Gegenpol darstellen – vielleicht liegt genau darin die Stärke von Stuarts Roman begründet: Zu zeigen, dass die unterschiedlichsten Inszenierungen von Männlichkeit nebeneinander existieren, doch völlig unterschiedlich wahrgenommen werden. Immerhin gelten die gewaltbereiten Männer in dem Buch als Helden, als Vorbilder, während sanfte Männer wie Mungo umerzogen werden sollen. Sie werden als gefährlich bezeichnet, nicht etwa Typen wie Gallowgate und St. Christopher.

Zu den queeren Charakten zählen der alleinstehende Mister Calhoun, James und Mungo selbst. Calhoun ist ein Nachbar der Hamiltons, der in der Nachbar*innenschaft belächelt, beleidigt und gemieden wird. Manche sagen ihm nach, er vergreife sich an minderjährigen Jungen. Eine böswillige Unterstellung, weil Calhoun mit seinem queeren Auftreten eben nicht ins Bild passt. Der Autor führt Calhoun als den einzigen Mann ein, der Mungo tatsächlich in seiner Entwicklung weiterbringt und ihm eine Vorstellung von Geschlechterrollen vermittelt, mit der er etwas anfangen kann – und die darin enthaltenen Möglichkeiten haben nichts mit zerschlagenen Zähnen oder blutenden Nasen gemein. Calhoun und Mungo tauschen sich an einer Stelle über Mungos Liebesbeziehung zum Nachbarsjungen James aus. Es ist eines der wenigen Gespräche zwischen zwei männlichen Figuren, das sich auf Augenhöhe abspielt: Calhoun erzählt Mungo von seiner ersten Liebe zu einem Mann; Mungo vertraut dem Nachbarn seine Gefühle für James an. Keiner von beiden verurteilt, niemand mimt eine Rolle.

Vergleichbar mit dieser Beziehung sind nur die Treffen zwischen Mungo und James, der einen Taubenschlag unterhält. James ist, wie Mungo Halbwaise. Seine Mutter ist vor Jahren verstorben, sein Vater, ein Arbeiter, selten zuhause. Anders als Mungo weiß James schon länger, dass er auf Jungs steht, und geht seinen Gefühlen anfangs durch Anrufe bei einer teuren Bezahlhotline für queere Männer nach. James’ Lebensgeschichte ist geprägt von Traumata und Gewalt durch den Vater, für den er den heterosexuellen Frauenaufreißer spielt. Dabei will James nur eins: abhauen. Die Beziehung zu Mungo steht aus mehreren Gründen unter einem schlechten Stern. Neben der Queerfeindlichkeit des Umfelds kommt hinzu, dass James Katholik ist. Weder er noch Mungo stören sich an ihren unterschiedlichen Konfessionen. Kein Problem also, wäre da nicht Ha-Ha, der Mungo für die Straßenkämpfe rekrutiert und ihn vor ein Dilemma stellt.

Douglas Stuart drückt mit der Beziehung zwischen den beiden Jungen viel mehr als nur eine seichte Jugendliebe aus, oder wie der Autor selbst in einem Interview auf dem Internetportal „The Booker Prizes“ über seinen Roman schreibt: „It [the novel] is set in 1990s Glasgow, and is the tale of two teenage boys, who fall in love despite being divided along territorial, sectarian lines.” Manche Kritiker*innen vergleichen „Young Mungo“ deswegen mit Shakespeares „Romeo and Juliet“. Kein abwegiger Vergleich, immerhin geht es in dem Theaterklassiker ebenfalls um die Liebe zwischen Anhänger*innen verfeindeter Gemeinschaften. Doch es würde der Komplexität von „Young Mungo“ nicht gerecht, das Buch auf den queeren Handlungsstrang herunterzubrechen.

Treffender scheint, was Stuart dazu meint: „It takes a look at toxic masculinity and the pressure we place on working-class boys to ‘man up’. I wanted to show how young men growing up in extreme poverty can be some of the most victimised and overlooked people in British society. I am always looking for tenderness in the hardest places.” Wo Stuart das Verständnis für die Arbeiterjungen verortet, wo er Zärtlichkeit findet, ist allerdings fragwürdig – damit wären wir bei den Frauenfiguren in seinem Roman. Obschon es legitim ist, dass Stuart Männlichkeit in den Zentrum seines Buches stellt und sich demnach auf diese Charaktere konzentriert, sind seine Protagonistinnen dennoch eine Enttäuschung: Sie werden vorwiegend auf die männlichen Charaktere des Buches bezogen eingeführt, statt sie als eigenständige Figuren zu entwickeln. Da gibt es zum Beispiel Mrs. Campbell, Nachbarin und Nebenfigur. Es ist ausgerechnet sie, eine Betroffene häuslicher Gewalt, die über das Gefühlsleben ihres gewalttätigen Ehemannes sinniert und nach Entschuldigungen sucht. Sie setzt sich mit Mungo gleich, der seiner alkoholkranken Mutter Fehltritte verzeiht. Mrs. Campbell tritt zunächst selbstbestimmt auf, doch in einem verletzlichen Moment richtet sie den Blick auf das Schicksal ihres Ehemannes, der viele Jahre in der Schiffswerft geackert hat. „(…) A ton weight of steel dangling above his heid, and at any minute it couldʼve dropped and kilʼt him, and left me wiʼnothinʼ butthree weans and a divot in the mattress. And he knew it. Aw those men knew it“, erzählt sie Mungo und seiner Schwester Jodie, die Mrs. Campbell nach einem Angriff ihres Mannes aus der Wohnung locken. Sie nimmt Täter in Schutz, erklärt deren Verhalten mit Alkoholismus und unterdrückten Gefühlen: „Does that sound like happy men to you? (…) None of the men could tell ye how they really felt, because if they did, they would weep, and this fuckinʼcity is damp enough.“

Es ist sicherlich nicht verkehrt, die Lebensrealität dieser Männer darzustellen, doch warum ausgerechnet aus dem Mund einer Betroffenen häuslicher Gewalt, was die an ihr begangenen Misshandlungen zu rationalisieren droht? Zwar schneiden die Männer das Thema Arbeit und Perspektivlosigkeit in Glasgow ebenfalls an, doch selten führt das zu einem Gespräch über Emotionen oder einer tiefgründigen Überlegung zu Gewalt. Allgemein sind Stuarts Protagonistinnen stets darum bemüht, einem Mann zu gefallen oder Männer zu unterstützen.

Das gilt auch für Jodie, die als einzige aus der Hamilton-Familie ihr Leben auf die Kette kriegt und Stoff für so viel spannendere Erzählungen bieten könnte. Sie hat eine Affäre mit einem älteren, verheirateten Mann, der sie nur zur Befriedigung sexueller Fantasien ausnutzt und sie in einer denkbar undankbaren Situation alleine zurücklässt. Douglas Stuart bedient sich ihrer, um tabuisierte Sujets wie illegalen Schwangerschaftsabbruch anzusprechen, verfolgt solche Spuren aber nicht weiter. Stattdessen konzentriert er sich, abgesehen von kurzen Exkursionen in ihren Alltag, auf die Beziehung zu Mungo.

Jodie hält schützend die Hand über ihren fast gleichaltrigen Bruder und übernimmt dabei die Mutterrolle, die Mo-Maw wegen ihrer Sucht nicht ausüben kann. Das Verhältnis zwischen Mungo und Jodie hat trotz aller Zärtlichkeit, trotz Nähe und Vertrautheit etwas verstörendes, wirkt unausgeglichen. So sitzt Mungo in einer Passage auf Jodies Schoß und nuckelt an seinem Daumen, während sie feststellt: „My little baby is growing up.“ Die beiden sind sechzehn, siebzehn Jahre alt. Gleichzeitig springt Jodie aber nicht für Mungo in die Bresche, wenn es wirklich darauf ankommt. Darüber hinaus begegnet sie Mungo mit Wut und Enttäuschung, wenn er sich um Mo-Maw kümmert, sich nachts zu ihr ins Bett legt.

Mo-Maw selbst bleibt wohl das beste Beispiel für eine Frau, deren einziges Ziel es ist, von Männern geliebt, begehrt und umsorgt zu werden. Für die Aussicht auf eine Partnerschaft vergisst sie schon mal, dass sie Mutter von drei Kindern ist und verschwindet tagelang bei ihrem neuen Geliebten. Dass sie ihren minderjährigen Sohn zwei Unbekannten anvertraut, ist deswegen auch nicht erstaunlich. Stuart macht aus ihr eine verzweifelte Frau, die sich in den Dienst der Männer stellt, die sie umgeben. Das erinnert an die Mutterfigur in Stuarts Debüt „Shuggie Bain“ (2020), das ebenfalls bei Picador publiziert wurde. Über vierzig Verlagshäuser hatten das Manuskript abgelehnt, das später mit einem der renommiertesten Literaturpreise im englischsprachigen Raum, dem „Booker Prize“, prämiert wurde.

Generell gibt es einige Gemeinsamkeiten zwischen Shuggie und Mungo, die vom Autor aber nicht explizit als ein und derselbe Charakter präsentiert werden. Beide Jungen wachsen, wie der Autor übrigens auch, in Glasgow auf. Sie leben in schweren Familienverhältnissen, in denen sich allein die Geschwister gegenseitig Halt geben. Shuggies Geschichte spielt in den 1980er-, Mungos in den 1990er-Jahren. Beide sind die einzigen Familienmitglieder, die ihre alkoholkranke Mutter trotz deren ständiger Rückfälle bedingungslos lieben und eine innige, wenn auch problematische Beziehung zu ihr pflegen. Sowohl Shuggie als auch Mungo sind queer.

„Shuggie Bain“ ist im Vergleich vielleicht einen Tick weniger brutal, wobei Stuart auch in seinem ersten Roman nicht sparsam mit Gewalt-Szenen umgeht. „Young Mungo“ wirkt durch die zahlreichen Konfliktherde und die Vehemenz der geschilderten Gewalt stellenweise etwas überladen – eine Horrorgeschichte jagt die nächste. Insgesamt überzeugen beide Romane von Douglas Stuart dennoch durch ihre Komplexität und die mitreißenden Geschichten. Es ist besonders die Unausweichlichkeit der Umstände, die einen bleibenden Eindruck hinterlässt. In seinem literarischen Kosmos spielen alle eine klar definierte Rolle – daraus auszubrechen scheint unmöglich. Ob es Mungo doch gelingen wird, das lässt Stuart offen, denn das Buch endet, wo es beginnt: auf dem Bürgersteig, nur ist es dieses Mal James, der Mungo nachblickt.

Douglas Stuart: Young Mungo. Picador: 2022.

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