Gaye Su Akyol: Anatolische Psycho-Rock-Diva

Gaye Su Akyol ist eine Musikerin aus Istanbul, die – wenn man eine Schublade bräuchte – in die Abteilung psychedelischer Rock passen würde. Allerdings ist unüberhörbar, dass sie in der Türkei verwurzelt ist, was längst nicht nur daran liegt, dass sie in ihrer Muttersprache singt.

Gaye Su Akyol und ihre Band haben ihre Welttournee nach dem Erdbeben in der Türkei vorerst auf Eis gelegt. (Copyright: Aytekin Yalçın)

Es ist gar nicht verwegen zu behaupten, dass psychedelische Musik zumindest auch anatolische Wurzeln hat, denn schon in der Musik der Derwische – türkisch Mevlevi –, einem mystischen Sufi-Orden, geht es um die Erzeugung von Trance durch Musik und Tanz. Zu den Pionier*innen der türkischen Rockmusik gehört Erkin Koray, der in den 1960ern und 1970ern bereits deutliche psychedelische Elemente in seine Musik mit aufnahm. Später dann hat die Gruppe Baba Zula diese Tradition fortgesetzt. Viele haben Baba Zula durch Fatih Akins Musikdokumentation „Crossing the Bridge“ von 2005 kennengelernt, in der die quirlige Musikszene Istanbuls ausführlich beleuchtet wurde. Leider ist das im Westen weitgehend ohne Folgen geblieben. Gaye Su Akyol hat das Zeug dazu, jetzt mehr Neugierige in Westeuropa für sich und solche Musik zu gewinnen.

Geboren wird sie im Istanbuler Stadtteil Kadıköy, wo sie auch heute noch lebt. Der Vater ist ein angesehener Maler. Sie wächst auf mit der Musik, die die Eltern schätzen, klassische Musik der Türkei sowie des Westens und anatolischer Folk. Später beeindrucken sie der provokante frühe Star der türkischen Salonmusik Müzeyyin Senar und türkischer Rock unter anderem von Erkin Koray. Nirvana ist ihr erster Kontakt mit westlicher Musik. Weitere Einflüsse kommen von Nick Cave, Tom Waits, The Doors, Pink Floyd. Die erzwungene Pause durch die Pandemie nutzte Akyol, um die Ohren auch in Richtung Afrika und Naher Osten auszurichten und sich vom dortigen Rock und Pop inspirieren zu lassen. Ihre Verwurzelung in anatolischen Traditionen bleibt aber auch auf ihrer aktuellen Platte unüberhörbar.

Sie kreiert ihren ganz speziellen eigenen Stil, der insbesondere von ihrer beschwörenden, oft intimen Gesangsstimme geprägt ist. In ihren Videos und auf der Bühne findet man eine Frau in ausgefallener Kostümierung, die geheimnisvolle Exotik und Erotik miteinander verbindet. Dass es hier nicht um platte Effekthascherei geht, erklärte die Künstlerin kürzlich im „Songlines Magazine“ im Zusammenhang mit ihrer neuen Platte, die Ausdruck „der sinnlichen Beziehung einer Frau zu ihrem Körper, ihrer Liebe und Sexualität ist, während heute im Nahen Osten sexuelle Orientierung immer noch geleugnet wird.“ Im Interview mit „Based Istanbul“ sagte sie zudem: „Ich weiß, dass ich keine Angst vor meiner Sexualität, meinem Körper, meiner Existenz (…) haben oder sie hinter verschlossenen Türen verstecken muss (…). Die Willkür mit der die Welt und sexuelle Identitäten in Männer und Frauen aufgeteilt wurden, neigt sich endlich dem Ende. Gemeinsam mit der Akzeptanz unterschiedlicher sexueller Identitäten, werden wir eine ausgewogene und gerechte Welt schaffen.“ Diese Haltung drückt die Künstlerin auch auf der Bühne und mit ihren Kostümen aus. In dem Kontext ist es außerdem wichtig zu wissen, dass in Teilen der populären türkischen/Istanbuler Popmusik Provokation und das Spiel mit Sexualität eine jahrzehntelange Tradition haben. Das Auftreten von Gaye Su Akyol spiegelt also einerseits ihre Selbstdefinition als Frau und andererseits ist es als Statement gegen gesellschaftliche und politische Positionen in der Türkei zu verstehen, die Frauen in die devote, sich verhüllende Rolle drängen wollen.

Generell verbittet sich Akyol jegliche Einmischung in ihre Kunst und geht deshalb den großen Plattenmultis aus dem Weg. Zusammen mit ihrem Gitarristen und Partner Ali Güçlü Şimşek hat sie vier Alben auf ihrem eigenen Label Dunganga Records veröffentlicht und dabei die Fäden in der Hand behalten. Die drei letzten Platten, inklusive der ganz aktuellen, werden international vom feinen Label Glitterbeat Records vertrieben.

In ihren Texten ist, wenn auch lyrisch verpackt, unschwer zu erkennen, dass sie die Politik Erdogans ablehnt. Anadolu Ejderi (Anatolischer Drache) ist der Titel ihres neuen Albums. Der Drache schläft zwar, aber wenn er sich erhebt, werden sich die Verhältnisse ändern. Im britischen Magazin Songlines bekannte sie vor einiger Zeit: „Wenn du heute Kunst machst und nicht merkst, dass du eingebunden bist in Politik, ist das wie ein sinkendes Schiff zu bemalen.“ Da trifft faszinierende Musik auf eine engagierte Haltung. Abgesehen von Tarkans Hit „Kiss Kiss“ vor mehr als einem Vierteljahrhundert ist türkische Musik, in welcher Form auch immer, in Europa fast immer nur der Sound für Spezialist*innen und für die Migrant*innen-Communities in ihren sogenannten Salonus gewesen, doch Gaye Su Akyol könnte das endlich ändern: eine starke, politische Frau mit druckvollen, anatolischen Rocksounds und provokanter Bühnenpräsenz.

Das Konzert von Gaye Su Akyol am 26. Februar in der Escher Kulturfabrik wurde kurzfristig auf den 8. April 2023 verschoben. Weitere Informationen: kulturfabrik.lu


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