Ein Jahr russische Invasion in der Ukraine: Sparen und siegen

Der russischen Invasion der Ukraine haben die westlichen Nationen neben Waffenlieferungen nicht zuletzt mit Sanktionen zu begegnen versucht. Über deren Wirksamkeit wird viel gestritten. Doch es geht nicht nur um kurzfristige Auswirkungen auf die russische Wirtschaft, sondern auch darum, wie deren Transformation die dortige Gesellschaft prägt.

Mobilisierung der Bevölkerung: Ausbildung an der Waffe im militärisch-patriotischen Klub ‚Jaropolk‘ bei Moskau. (Foto: EPA-EFE/Maxim Shipenkov)

Als Wladimir Putin sich am Dienstag an die russländische Nation richtete, um über die Lage derselben zu informieren, hatte er, auf die wirtschaftliche Situation bezogen, ein scheinbar leichtes Spiel. Mit ihren Sanktionen führten Europa und die USA einen Wirtschaftskrieg gegen Russland, so der Präsident, „aber sie haben nichts erreicht und werden auch nichts erreichen“. Alles laufe nach Plan, das russische Bruttoinlandsprodukt (BIP) sei nur um 2,1 Prozent gefallen. Für 2023 sagte er ein Wachstum der Wirtschaft seines Landes voraus.

Das entspricht ziemlich genau der Entwicklung, die auch das englische Nachrichtenblatt „Economist“ Anfang Februar für Russland beschrieben hatte: Dort wurde eine Schrumpfung des russischen BIP um 2,2 Prozent konstatiert, viel weniger also als der Einbruch von zehn Prozent oder mehr, den kurz nach Inkrafttreten der ersten Sanktionen manche westlichen Analyst*innen erhofften. Die Arbeitslosigkeit ist niedrig. Der Internationale Währungsfonds (IWF) rechnet für das Land mit einem Wachstum von 0,3 Prozent – mehr als Großbritannien und Deutschland in diesem Jahr erwarten dürfen.

Was also ist aus all den vollmundigen Aussagen geworden, wonach die russische Ökonomie infolge der Sanktionen regelrecht „implodiere“, wie es etwa eine Forschungsgruppe der Universität Yale vergangenen Sommer zahlengestützt behauptet hatte? Hat man die wirtschaftliche Widerstandskraft des Landes tatsächlich unterschätzt, wie Putin in seiner Rede meinte? Die Antwort darauf ist mehrschichtig.

Einige hatten damit gerechnet, dass es bereits infolge der ersten nach der Invasion verhängten Sanktionen in Russland zu einer massiven Finanzkrise kommt, die Russland zahlungsunfähig macht und die Inflation im Land in die Höhe treibt. Letztere jedoch konnte nach einem massiven Kurssturz des Rubel im März 2022 wieder aufgefangen werden, auch wenn sie weiterhin problematisch bleibt. Die Diskussion um eine drohende „Staatspleite“ war im Sommer ebenfalls verstummt, als deutlich wurde, dass ein weitgehend abgekoppeltes Russland an Weltmarktkriterien nicht mehr gemessen werden kann. Das Staatsdefizit von umgerechnet 44 Milliarden Euro bleibt im Vergleich mit westlichen Industrienationen durchaus überschaubar und entspricht rund 3,2 Prozent des BIP.

Crash blieb aus

Dass der Crash also ausblieb, ist in erster Linie der russischen Zentralbank zu verdanken. Sie steuerte der Inflation und dem Kursverfall mit einer aggressiven Zinspolitik entgegen, führte Kapitalverkehrskontrollen ein und verpflichtete russische Exporteure, 80 Prozent ihrer eingenommenen Devisen in Rubel zu konvertieren. Auch mit der Bildung von Reserven hatte sich die Zentralbank gut auf die jetzige Situation vorbereitet, seit es infolge der Annexion der Krim 2014 die ersten Sanktionen gegen das Land gegeben hat. Orientiert an einem ausgeglichenen Staatshaushalt und der Schaffung des monetären Polsters, basierte die Geldpolitik auf austeritätspolitischen Kriterien. Das hatte Konsequenzen, nicht nur was die soziale Dimension des Staatshaushalts betrifft.

Es seien diese strikten sparpolitischen Maßstäbe, „die zunehmend die Parameter von Putins Herrschaft bestimmen“, meint der britische Wirtschaftshistoriker Adam Tooze auf der Online-Plattform „Substack“: „Gefangen in einer selbst erdachten Spar-Zwangsjacke hat sich Putins Regime in eine sozioökonomische Sackgasse manövriert, die eher dem Nullsummenspiel des Rent-Seeking als dem Wachstum Vorschub leistet.“

Rent-Seeking bedeutet, dass man statt auf die Verbesserung der Bedingungen zur Kapitalakkumulation, die Steigerung der Produktivität und die Diversifizierung der Wirtschaft lieber auf eine Verteilung der Öl- und Gasrenten unter die verschiedenen Seilschaften und Günstlinge setzt. Dies jedoch ist nicht erst die Folge der Politik der Zentralbank, sondern konstitutiv für das von Putin geschaffene System (siehe den Artikel „Die Souveränität der Seilschaften“ in woxx 1407), in dem die Bank allerdings eine zentrale Rolle spielt. Das hat sich in den vergangenen Monaten deutlich gezeigt.

Die Bank von Russland sorgt dafür, dass die ökonomische Basis dieses Herrschaftssystems erhalten bleibt. Andernfalls droht es, im Gerangel der rein kurzfristigen Interessen von konkurrierenden Machtfraktionen unterzugehen. Sie stabilisiert also Putins System, stellt aber kein Gegengewicht zu ihm dar. Denn sie hat nicht den politischen Spielraum, sich jenseits des Rent-Seeking an einer langfristigen wirtschaftlichen Perspektive für das Land zu orientieren. Die Frage ist jedoch, ob die Zentralbank selbst diese stabilisierende Funktion noch lange übernehmen kann.

Umbau in Kriegswirtschaft

Das hat viel mit der tatsächlichen Basis der angeblichen wirtschaftlichen Widerstandkraft Russlands zu tun, die derzeit die westliche Sanktionspolitik Lügen zu strafen scheint. Sie resultiert zum einen aus der Importsubstitution, die durch die Sanktionen nötig wurde: Viele Produkte und für die Endfertigung benötigte Bauteile gelangen nicht mehr oder nicht in ausreichenden Mengen ins Land. Die russische Industrie musste daher neue Importquellen finden, neue Lieferketten aufbauen und nicht zuletzt versuchen, die fehlenden Teile auf technologisch weniger anspruchsvollem Niveau selbst zu produzieren. Was die russische Zentralbank als „umgekehrte Industrialisierung“ bezeichnet (siehe den Text hierzu in woxx 1697), führte zu einer Investitionssteigerung von immerhin sechs Prozent im vergangenen Jahr. Eine tatsächliche Steigerung der Produktivität der russischen Wirtschaft bedeutet diese kompensatorische Maßnahme aber nicht.

Zwar wirkt sich der Umbau der Produktion unmittelbar positiv auf die Situation am Arbeitsmarkt aus. Die Arbeitslosgenquote lag im Dezember bei 3,7 Prozent und damit auf einem Rekordtief. Die Rüstungsindustrie arbeitet im Dreischichtbetrieb, braucht Arbeitskräfte und soll nach Auskunft des britischen Geheimdienstes bereits auf Strafgefangene zurückgreifen. Allerdings haben auch Hunderttausende das Land verlassen, während zugleich über 300.000 Männer einberufen wurden und damit ebenfalls als arbeitstätig gelten. Verdeckte Arbeitslosigkeit wie bezahlter Urlaub taucht in der Statistik ebenfalls nicht auf.

Foto: EPA-EFE/Alessandro Guerra

Zum anderen orientiert sich ein Großteil der russischen Wirtschaft mittlerweile komplett an den Anforderungen an die Rüstungsindustrie. Es dürfe „keine Limits“ geben, was die für die russischen Streitkräfte erforderlichen Ressourcen anbelangt, hatte Putin im Dezember verkündet. Dafür wurde im vergangenen Jahr offenbar das Staatsbudget gesprengt. Für das russische Haushaltsjahr 2022 waren insgesamt 23,7 Billionen Rubel (335 Milliarden Dollar) eingeplant. Nach Angaben der russischen Regierung beliefen sich die tatsächlichen Ausgaben im Jahr 2022 allerdings auf mindestens 31 Billionen Rubel. Nur 2,5 Billionen Rubel der Mehrausgaben gingen in Sozialleistungen, wie der „Economist“ die russische Wirtschaftsexpertin Natalja Subarewitsch zitiert. Von den restlichen fünf Billionen Rubel floss Subarewitsch zufolge wohl der Großteil in die Rüstung und die Rüstungsindustrie.

Vor allem über die Türkei, Indien und China, die sich nicht an den Sanktionen gegen Russland beteiligen, werden die hierfür erforderlichen Bauteile aus dem Westen unter Umgehung des Embargos importiert. „Asien wird zunehmend zur Drehscheibe für russische Rüstungskomponenten“, schreibt das „Redaktionsnetzwerk Deutschland“. In den ersten sieben Monaten des Krieges seien elektronische Bauteile für Rüstungsgüter im Wert von mindestens 2,6 Milliarden US-Dollar nach Russland eingeführt worden, davon im Wert von mindestens 777 Millionen US-Dollar aus dem Westen. Zudem hätten russische Staatskonzerne bereits vor Kriegsbeginn große Mengen an Elektronikbauteilen gehortet.

Die scheinbar stabile wirtschaftliche Situation ist also vor allem der Umstellung auf eine Kriegswirtschaft geschuldet, während langfristig keinerlei ökonomische Perspektiven mehr existieren. Zudem hatten die hohen Rohstoffpreise des vergangenen Jahres Russland zunächst noch in die Karten gespielt. Mittlerweile jedoch ist der Ölpreis stark gesunken, der Gaspreis seit Dezember regelrecht eingebrochen. „Je schlimmer die Lage wird, desto notwendiger wird der Krieg“, wird einer der ehemaligen Nutznießer des Systems Putin im „Economist“ zitiert.

Zentralbank in Bedrängnis

Das wirkt sich auch auf den Staatshaushalt aus. Russland hat zum ersten Mal in seiner modernen Geschichte die Staatsausgaben drastisch erhöht, während die Einnahmen stark abnehmen. Angesichts dieser Entwicklung gerät die russische Zentralbank unter ihrer Präsidentin Elvira Nabiullina, der bisher vom Kreml relativ freie Hand gelassen wurde, offenbar immer stärker in Bedrängnis, den bisherigen austeritären Kurs zu verlassen und angesichts bröckelnder Einnahmen den Staatshaushalt aktiver zu stützen.

„Die Regierung von Wladimir Putin setzt die russische Zentralbank unter Druck, die Wirtschaftsaussichten positiver zu beurteilen und zu signalisieren, dass sie bereit ist, die Geldpolitik zu lockern“, schrieb Anfang des Monats das Wirtschaftsnachrichtenportal „Bloomberg“. Putin erwarte einen deutlichen Hinweis darauf, „dass die Zinssätze im Laufe des Jahres gesenkt werden könnten, so Personen, die mit den internen Beratungen vertraut sind“. Die Zentralbank gerät also immer stärker unter das Diktat einer Politik, deren Folgen sie bislang abzufedern versucht.

Wirtschaftshistoriker Tooze hält es für entscheidend, welche Fraktion sich in den kommenden Monaten am Ende durchsetzen kann, die Technokraten um Nabiullina oder die Anhänger einer kompromisslosen Kriegswirtschaft: „Zwischen der kurzfristigen Finanzkrise, die im Frühjahr 2022 drohte, und der langfristigen Stagnation, die Russland jetzt erwartet, kommt es im laufenden Jahr auf die mittelfristige makroökonomische Steuerung an.“

Von einem bislang geltenden „Waffenstillstand“ zwischen „Kriegsökonomen“ und den „konservativen Anwälten“ einer restriktiven Geldpolitik, wie Tooze ihn konstatiert, kann allerdings kaum die Rede sein. Nabiullinas Gegenspieler, wie etwa Sergej Glasjew, warten nur darauf, dass sie endlich entmachtet wird. Der frühere wirtschaftliche Berater Putins ist derzeit als Kommissar für Integration und Makroökonomie bei der Eurasischen Wirtschaftskommission tätig und würde die Zentralbankvorsitzende nur allzu gerne auf ihrem Posten beerben. Seit langem vertritt Glasjew die Idee einer weitgehend autarken „Mobilisierungswirtschaft“ als Alternative zur „liberalen Utopie“ des Westens. Die durch Krieg und Sanktionen erzwungene Abkoppelung von den westlichen Finanzmärkten und die Stärkung der heimischen Produktion spielen ihm direkt in die Hände.

Russland habe sein gesamtes wirtschaftliches Management den politischen und militärischen Zielen untergeordnet, meint der sozialistische britische Historiker Simon Pirani, der sich seit vielen Jahren mit der wirtschaftspolitischen Entwicklung des Landes beschäftigt: „Jener Teil des Staatsapparats, der Krieg führen, die Militärausgaben erhöhen und einen nationalistischen Appell an die Bevölkerung richten wollte, hatte sich durchgesetzt“, so Pirani in einem Interview mit der Schweizer Wochenzeitung „WoZ“: „Der andere Teil, der dem russischen Kapitalismus seinen Platz in der Welt verschaffen wollte, hatte sich diesen Zielen zu fügen.“

Krieg und soziale Kontrolle

Ob allerdings Leute wie Glasjew tatsächlich die Oberhand gewinnen werden, liegt nicht zuletzt daran, ob die jetzige Führungsriege der Zentralbank Putin weiterhin die finanziellen Mittel an die Hand geben kann, die er zur Fortsetzung des Krieges und zur Aufrechterhaltung seines auf Rentenverteilung basierenden Herrschaftssystems benötigt. So oder so wird das Resultat eine Aufzehrung der finanziellen Mittel Russlands bedeuten, die der Handel mit China, Indien und anderen kurz- und mittelfristig nicht kompensieren kann. Um den jetzigen politischen Kurs weiterzuführen, bleibt also wirtschaftlich bloß eine Ausweitung des Haushaltsdefizits oder eine Kürzung ziviler öffentlicher Ausgaben wie der Sozial- und Gesundheitsversorgung.

Der eingeschlagene Weg wird nicht nur sozialpolitisch drastische Auswirkungen auf die russische Bevölkerung haben. „Wie aber übt man soziale Kontrolle über die Bevölkerung aus, wenn der Lebensstandard nicht mehr steigt?“, fragt Historiker Pirani rhetorisch im bereits zitierten Interview, und gibt sich selbst die Antwort: „Am einfachsten geht das bekanntlich noch immer mit Fahnenschwenken und Nationalismus.“

Der Soziologe Lew Gudkow vom immer noch unabhängigen russischen Meinungsforschungsinstitut „Lewada-Zentrum“ hebt dies in seinen Schriften bereits seit Jahren hervor. „Das alltägliche Gefühl der Erniedrigung und der Wehrlosigkeit gegenüber der Willkür des Staates wird durch einen Kult der Stärke und der Gewalt kompensiert“, schrieb Gudkow im Jahr 2013: „Die Symbole der kollektiven Einheit – ‚das riesige Land‘ – rufen dazu auf, stolz auf die Militärmacht des Imperiums zu sein, sie verlangen Rituale des nationalen Ruhms, festigen das Gefühl der Überlegenheit über andere Völker und fordern Bereitschaft zur Mobilisierung.“ Gleichzeitig, so Gudkow, „schützen sie vor einer rationalen Kritik am sakralen Status des Machtstaats, der von seinen Untertanen Opfer und Leidensfähigkeit verlangt“.

Neben den Rohstoffreserven und der massiven Repression gegen Protestierende ist nicht zuletzt diese Haltung in der Bevölkerung eine Ressource, die es Putin erlaubt, den Krieg gegen die Ukraine trotz westlicher Sanktionen bis auf weiteres fortzuführen.


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