Russland und die Sanktionen
: Umgekehrte Industrialisierung


Eine Studie der Universität Yale spricht den Sanktionen gegen Russland eine desaströse Wirkung zu. Dort ist man eifrig bemüht, das Land von westlichen Importen unabhängig zu machen. Dies wird einen massiven technologischen Rückschritt bedeuten, wie inzwischen auch die russische Zentralbank offen eingesteht.

War in den vergangenen Jahren an einem ausgeglichenen Staatshaushalt und einer Verringerung der Staatsschulden orientiert: die russische Zentralbank in Moskau. (Foto: EPA-EFE/YURI KOCHETKOV)

Der Streit darum, ob die Sanktionen gegen Russland tatsächlich wirksam sind, hat sich jüngst auf fast schon kuriose Weise zugespitzt. Ende Juli veröffentlichte eine Forschungsgruppe der Universität Yale eine Studie, wonach die russische Wirtschaft regelrecht „implodiere“. Wenige Tage später machte der Internationale Währungsfonds (IWF) seine eigene Einschätzung publik, die der Universitätsexpertise deutlich wiedersprach: Russlands Wirtschaft sei im zweiten Quartal des Jahres weniger stark geschrumpft als prognostiziert. Die Energieexporte liefen weiter, die inländische Warennachfrage sei robust und auch der Arbeitsmarkt weit weniger geschwächt als erwartet. Demgegenüber sei die Rückwirkung der Sanktionen auf die europäische Ökonomie erheblich, vor allem was Energiepreise und die Störung der Lieferketten anbelangt.

Die Reaktion aus Yale kam postwendend und war scharf: „Jemand sollte den faulen IWF-Ökonomen die Fakten schicken“, wetterte Jeffrey Sonnenfeld, der die an der „Yale School of Management“ angesiedelte Forschungsgruppe leitet. Die Expert*innen der IWF hätten „naiv Putins Propaganda akzeptiert, indem sie sich auf ungeprüfte, widersprüchliche Statistiken“ aus Russland stützten, so der Universitätsprofessor im Gespräch mit dem Wirtschaftsnachrichtenportal „Investment Monitor“.

Das entspricht in etwa den Vorwürfen, die die Forschungsgruppe in ihrer Studie einer ganzen Reihe von Expert*innen macht: Einschätzungen, wonach die russische Wirtschaft sich angesichts der Sanktionen als erstaunlich widerstandsfähig erweise, basierten häufig allein auf Statistiken der russischen Regierung. Diese würden aber in den vergangenen Monaten nicht mehr vollständig veröffentlicht. So flössen eigentlich unverzichtbare Daten immer häufiger gar nicht in die Bewertung ein; andere würden nicht kritisch hinterfragt. Zudem resultierten fast alle der für Russland schmeichelhaften Vorhersagen unverständlicherweise aus einer Analyse der Wirtschaftsdaten, die sich auf die ersten Tage der Invasion der Ukraine beziehen.

Demgegenüber will das 42-köpfige Forschungsteam aus Yale „eine der ersten umfassenden Wirtschaftsanalysen“ vorgelegt haben, die der Realität der russischen Ökonomie gut fünf Monate nach Beginn der Invasion entspricht. Dazu habe man auch private russischsprachige und direkte Datenquellen, darunter hochfrequente Verbraucherdaten sowie Veröffentlichungen von Russlands internationalen Handelspartnern verwendet und ein komplexes Data-Mining-Verfahren angewandt.

Beispiele hierfür seien allerdings „in dem Text schwer zu finden“, wendet Alexander Isakow vom Wirtschaftsnachrichtenportal „Bloomberg“ ein. Auch das auf Energiemärkte spezialisierte Nachrichtenportal „BNE Intellinews“ kritisiert manches Detail der 118 Seiten umfassenden Studie, kommt jedoch zu dem Schluss, dass „seine grundsätzliche Botschaft richtig“ sei.

Die russischen Gasexporte sind 2022 zwar eingebrochen, doch wegen der hohen Preise sind die russischen Einnahmen trotz des Sturzes im Juni noch annähernd auf dem Niveau der vergangenen Jahre, wie diese Grafik von Anfang August zeigt. (Quelle: Janis Kluge/Twitter)

In diesem Falle sähe die Zukunft der russischen Wirtschaft tatsächlich alles andere als rosig aus. Zum einen habe sich Russlands strategische Positionierung als Rohstoffexporteur deutlich verschlechtert, da das Land nun aus einer Position der Schwäche heraus handle, so die Expertise aus Yale: In China und Indien wisse man genau, dass für Russland der Kreis der Öl- und Gasabnehmer stark im Schwinden begriffen ist und habe daher bereits saftige Rabatte ausgehandelt. Zum anderen seien die Versorgungsengpässe in der russischen Wirtschaft aufgrund der ausbleibenden Importe enorm; wichtige Bestandteile für die industrielle Fertigung würden nicht mehr geliefert.

Mehr als 1.000 international agierende Unternehmen hätten sich zudem mittlerweile ganz oder teilweise vom russischen Markt zurückgezogen, was laut den Forscher*innen einem Anteil von 40 Prozent des russischen Bruttoinlandsprodukts entspricht. Um die russischen Finanzmärkte sei es nicht besser bestellt: Hier widerspiegele sich die wirtschaftliche Schwäche des Landes, aller Kapitalverkehrskontrollen und weiteren „dramatischen fiskal- und geldpolitischen Interventionen“ zum Trotz. An dieser Situation würden auch „Putins Wahnvorstellungen von Autarkie und Importsubstitution“ nichts ändern, heißt es in dem Papier: „Die russische Inlandsproduktion ist völlig zum Erliegen gekommen, da es keine Kapazitäten gibt, um verlorene Unternehmen, Produkte und Talente zu ersetzen.“

„Strukturelle Transformation“

Obwohl der russische Präsident wirtschaftliche Autarkievorstellungen in den vergangenen Wochen immer wieder weit von sich gewiesen hat (siehe den Artikel „Weltmarkt oder Autarkie“ in woxx 1690), werden derzeit eilig Schritte unternommen, um den Ausfall bislang importierter Waren und für die industrielle Produktion benötigter Technologie zu kompensieren. Mitte Juli wurde bekannt gegeben, dass Putins Tochter Katerina Tichonowa die Koordinierung des Rates für Importsubstitution beim einflussreichen Russischen Industriellen- und Unternehmerverband RSPP übernehmen wird. Auch die Ernennung des bisherigen Handels- und Industrieministers Denis Manturow zum stellvertretenden Premierminister hat laut der russischen Zeitung „Kommersant“ zum Ziel, Russland rascher von westlichen Importprodukten abzukoppeln. Manturow, der bereits seit den Sanktionen infolge der Annexion der Krim und dem Vormarsch prorussischer Truppen in der Ostukraine 2014 mit Fragen der Importsubstitution beschäftigt war, übernimmt mit seinem neuen Amt die Verantwortung nicht nur für die zivile, sondern auch für die Rüstungsproduktion.

Einem jüngst erschienenen Bericht der russischen „Higher School of Economics“ zufolge liegt der Anteil der ausländischen Wertschöpfung am russischen Verbrauch von Elektronik bei fast 70 Prozent, bei Arzneimitteln, Elektrogeräten und Autos sind es über 50 Prozent, bei Industrieanlagen ebenfalls nahezu 50 Prozent. „Etwa die Hälfte der ausländischen Wertschöpfung stammt aus der Europäischen Union, den USA und Kanada, die die schärfsten Sanktionen gegen Russland verhängt haben“, so hierzu die „Washington Post“.

Bislang hat er ihr viel Spielraum gelassen: Präsident Wladimir Putin mit der Direktorin der russischen Zentralbank, Elvira Nabiullina. (Foto: EPA/MIKHAIL KLIMENTYEV / SPUTNIK/ KR MANDATORY CREDIT)

Die Russische Föderation hat also eine enorme technologische Aufholjagd zu bewältigen, wenn sie diese Importabhängigkeit auch nur ansatzweise bewältigen will. Des Öfteren wird daher der Vergleich mit der Sowjetunion bemüht. Auch in den 1920er- und 1930er-Jahren, als der Weltmarkt in Folge der globalen Wirtschaftskrise komplett zusammenbrach, hatte man mit massiven Importausfällen zu kämpfen. Im Vergleich zu damals ist Russland heute jedoch noch weitaus stärker in globale Wertschöpfungsketten integriert.

Laut dem Wirtschafts- und Osteuropaexperten Alexander Libman von der Universität München ist es vor allem bei Technologiegütern sehr unwahrscheinlich, dass Russland eine Importsubstitution gelingen wird: „Es ist heute grundsätzlich für jedes Land kaum mehr möglich, alle Güter der komplexen Produktionsketten im Technologie- und Hochtechnologie-Bereich vollständig aus eigener Produktion bereitzustellen“, so Libman im Interview mit der Zeitschrift „Osteuropa“.

Auch bei der russischen Zentralbank gesteht man mittlerweile offen ein, dass die von deren Vorsitzenden Elvira Nabiullina angekündigte „strukturelle Transformation“ des Landes mit einem massiven technologischen Rückschritt einhergehen wird. Innerhalb weniger Jahre werde Russland eine „umgekehrte Industrialisierung“ erleben, wenn „weniger fortschrittliche“ und daher auch umweltschädlichere Technologien die industrielle Entwicklung vorantreiben, so der Leiter der Forschungsabteilung der Zen-
tralbank, Alexander Morosow in einem Artikel für das Wirtschaftsnachrichtenportal „Econs“. Um das Investitionsklima zu fördern, schlägt er eine weitreichende wirtschaftliche Liberalisierung, den radikalen Abbau staatlicher Regulierung und Kontrolle sowie eine geringere Steuerbelastung vor.

Bislang waren die Maßnahmen der russischen Zentralbank zur Stützung der russischen Wirtschaft an austeritätspolitischen Gesichtspunkten und damit auf die Konkurrenzfähigkeit am Weltmarkt sowie auf die Schaffung eines monetären Polsters und die Vermeidung einer Inflation orientiert. Wenn die wirtschaftlichen Probleme zunehmen oder gar die Energiepreise fallen, dürfte sich Nabiullina jedoch gezwungen sehen, aktiv den Staatshaushalt zu stützen und sich damit letztlich einem Diktat der Politik zu unterwerfen, während Putin ihr bisher offenbar freie Hand gelassen hat. Sogar in den Reihen der Zentralbank selbst wird die Rolle der eigenen Institution angeblich schon mit jener von Hjalmar Schacht verglichen. Der hatte als Präsident der Deutschen Reichsbank (1933 bis 1939) und Reichswirtschaftsminister (1934 bis 1937) der von Adolf Hitler und Hermann Göring vorangetriebenen Autarkiepolitik vergeblich entgegenzuwirken versucht – und zugleich Deutschlands künftige militärische Expansion finanziert.


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