Europawahlen: Rechte profitieren weiter vom Credo der Alternativlosigkeit

Laut Umfragen wird die populistische und autoritäre Rechte bei den Europawahlen jeden vierten Sitz im Europaparlament erringen. Doch auch das Zentrum rückt immer weiter nach rechts. Über einen 2014 begonnenen Trend.

Der Platz links im Bild bleibt frei: Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán und Marine Le Pen vom französischen „Rassemblement National“ – zwei Aushängeschilder der europäischen autoritären Rechten. (Foto: EPA-EFE/MARCIN OBARA POLAND OUT)

Schon wieder eine Umfrage, die einen massiven Stimmzuwachs rechtsextremer Parteien bei den Europawahlen im Juni prognostiziert: Am vergangenen Montag veröffentlichte das Nachrichtenmagazin „Politico“ die Ergebnisse einer im Januar durchgeführten Telefonumfrage, wonach dies in vier der fünf beteiligten Länder zu erwarten ist – in Italien, Frankreich, Deutschland und den Niederlanden. Lediglich in Polen ergibt sich ein etwas anderes Bild.

In Frankreich würde der „Rassemblement National“ dieser Vorhersage nach ein Drittel aller Stimmen einfahren, während Éric Zemmours „Reconquête“ sechs Prozent erhielte. Das von Präsident Emmanuel Macron gegründete Parteienbündnis „Ensemble“ würde 14 Prozent der Stimmen erhalten. In Deutschland würde die „Alternative für Deutschland“ (AfD) im Vergleich zu den Europawahlen von 2019 von 11 auf 17 Prozent der Stimmen klettern.

Zu den Gründen für ihr Votum befragt, gab der Großteil der Befragten an, die Situation im eigenen Land sei dafür ausschlaggebend. Nirgends war die europäische Ebene den Befragten wichtiger als in Deutschland, und auch da nannten nur 15 Prozent die EU-Politik als Grund für ihre Entscheidung. In Frankreich, Deutschland, Italien und Polen sind die erdrückenden Lebenshaltungskosten das maßgebliche Thema, in den Niederlanden ist es die Wohnungskrise. Als zweitwichtigstes Problem nannten die Menschen in Italien und Polen die Gesundheitsversorgung; in Frankreich, Deutschland und den Niederlanden die Migrationspolitik.

Bereits Ende Januar hatte der „European Council on Foreign Relations“ (ECFR) eine Prognose veröffentlicht, aus der sich ein ähnliches Bild ergibt. Demnach werden in allen oben genannten Ländern außer Deutschland antieuropäisch orientierte populistische Parteien als Siegerinnen aus den Wahlen zum Europaparlament hervorgehen. Das selbe gilt für Österreich, Belgien, die Tschechische Republik sowie die Slowakei. Das könne für künftige europapolitische Entscheidungen einen „scharfen Rechtsruck” bedeuten, so der Thinktank. Dies gelte insbesondere für umweltpolitische Vorhaben wie den „European Green Deal“.

Zwar wird die „Europäische Volkspartei“ (EVP) der Studie zufolge die stärkste politische Gruppe im Europäischen Parlament bleiben. Doch die großen Gewinnerinnen werden die Parteien der populistischen Rechten. Mit 59 Sitzen bislang die zweitkleinste Fraktion, könnte „Identität und Demokratie“ (ID) auf 99 Sitze kommen. Damit wäre die am weitesten rechts stehende Fraktion die drittstärkste Kraft im EU-Parlament, nach der EVP und der Fraktion der „Progressiven Allianz der Sozialdemokraten“ (S&D). In ID sind neben dem „Rassemblement National“ und der AfD unter anderem auch Gert Wilders‘ „Partei für die Freiheit“ (PVV; derzeit ohne Sitz im EU-Parlament), die „Freiheitliche Partei Österreichs“ (FPÖ) und der belgische „Vlaams Belang“ organisiert.

Der Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR), die bislang 68 Sitze innehat, wird ein Zuwachs von 18 Sitzen vorausgesagt. In ihr sind Parteien wie die ehemalige polnische Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) zusammengeschlossen.

Buhlen um Orbán

Beide Gruppen bemühen sich derzeit, Ungarns Fidesz an Bord zu bekommen. Die Partei des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán hatte die EVP 2021 verlassen, nachdem sie zuvor wegen der Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit nahezu zwei Jahre suspendiert gewesen war. Wer von den beiden Fidesz für sich gewinnen kann, wird vermutlich zur drittgrößten Gruppe im EU-Parlament avancieren, da die ungarische Partei laut der ECFR-Prognose weitere 14 Sitze mit sich bringt.

(Foto: EPA-EFE/TIAGO PETINGA)

Orbán selbst gab zuletzt zu verstehen, dass er sich auf die EKR orientiert und hat Anfang Februar gegenüber den italienischen Tageszeitungen „La Repubblica“ und „La Stampa“ einen Beitritt nach den EU-Wahlen in Aussicht gestellt. Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, deren „Fratelli d’Italia“ ebenfalls im EKR sind, hatte sich zuletzt als dynamisches Duo mit ihrem ungarischen Amtskollegen präsentiert und dessen Verzicht auf eine weitere Blockade der Ukraine-Hilfen auf ihren Einfluss zurückgeführt. Sie hofft, ihn auf diese Weise an ihre Fraktion im EU-Parlament anbinden zu können und sich als große Strippenzieherin zu präsentieren. Dennoch bleibt Orbáns grundsätzlich russlandfreundliche Haltung ein Grund, weshalb auch die ID sich noch Hoffnungen auf die Sitze macht, die er mit sich bringen würde, da man in der Ukraine-Frage einer Meinung ist.

Gunnar Beck von der AfD, der stellvertretender Vorsitzender der ID-Gruppe ist, hält es nicht einmal für ausgeschlossen, dass sich die beiden Gruppen am Ende in einer Fraktion zusammenfinden. „Mit der EKR haben wir ja schon erhebliche inhaltliche Übereinstimmungen“, so Beck im Interview mit dem europapolitischen Nachrichtenportal „Euractiv“: „Im Grunde gibt es nur einen Bereich, nämlich die Außenpolitik – insbesondere der Ukraine-Krieg – wo die Zusammenarbeit etwas schwieriger ist.“

Wer auch immer Orbán und Co. schließlich für sich gewinnen wird: Gemeinsam werden ID und EKR nach den Wahlen über ein Viertel der Sitze im Parlament verfügen, sofern sich die Prognosen bewahrheiten. Das wird die üblichen themengebundenen Abstimmungskoalitionen gehörig durcheinander wirbeln und Auswirkungen nicht nur auf Themen wie Umweltpolitik und Migration haben, wo die Rechte weitere Restriktionen fordert und den einzelnen Mitgliedsstaaten diesbezüglich auch mehr Freiraum gewähren will. „Nach Juni 2024 wird es für die Abgeordneten der Mitte und der linken Mitte (…) wahrscheinlich schwieriger sein, sich gegen die fortgesetzte Aushöhlung der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der bürgerlichen Freiheiten in Ungarn und jedem anderen Mitgliedstaat, der sich in diese Richtung bewegen könnte, zu wehren“, so die Autor*innen der ECFR-Studie.

Dahinter steht eine fundamentalere Entwicklung, die mit dem Wahlergebnis im Juni vermutlich nur ihre Fortsetzung finden wird. Bereits nach den Europawahlen von 2019 hatte der niederländische Politikwissenschaftler Cas Mudde in einem Aufsatz für das „Journal of Democracy“ analysiert, das Erstarken der populistischen radikalen Rechten sei „nur der sichtbarste Aspekt eines grundlegenderen Wandels in der europäischen Politik – eines Wandels, zu dem auch eine Verschiebung der Wählerprioritäten, eine deutliche Veränderung der Programme der etablierten Parteien und der wachsende Einfluss des ungarischen Ministerpräsidenten und Förderers der ‚illiberalen Demokratie‘ Viktor Orbán gehören“.

Grundlegender Wandel

Diese Entwicklung hat laut dem Wissenschaftler mit den Europawahlen 2014 ihren Anfang genommen. Damals habe der Aufstieg des Populismus im weiteren Sinne begonnen, angeheizt durch die Wirtschafts- und Finanzkrise von 2008 und die nachfolgende Große Rezession. Das Flüchtlingsaufkommen im Jahr 2015 und die islamistisch motivierten Terroranschläge in Brüssel, Berlin, Paris und London im selben Jahr und den Jahren danach hätten für die rechtspopulistischen Parteien dann einen „perfekten Sturm“ ergeben. Dazu hätten auch die Medien beigetragen. Statt die Flüchtlingssituation nüchtern als politische Aufgabe darzustellen, die es zu bewältigen gelte, habe man bereitwillig von einer „Krise“ und damit von einer außer Kontrolle geratenen Situation gesprochen. Das habe die Menschen empfänglicher für populistische und autoritäre Rhetorik gemacht. Auch Orbáns Aufstieg zum migrationspolitischen Widersacher in der EU habe damals begonnen.

Damit war das Feld bereitet für den Erfolg der populistischen und extremen Rechten bei nationalen und auch bei den Europawahlen 2019. Zuvor sei auch medial eine Stimmung aufgebaut worden, als stünde ein Kräftemessen epischen Ausmaßes zwischen einer erstarkten Rechten und einem umkämpften Establishment bevor. Mudde erinnert jedoch daran, dass der Durchmarsch rechter Parteien längst nicht so vollständig war wie prognostiziert. So hätten der „Rassemblement National“ und die FPÖ bei der genannten EU-Wahl Prozente eingebüßt und Wilders’ PVV gar alle vier Sitze im Europaparlament verloren.

Den wichtigsten Aspekt sieht Mudde jedoch im Rechtsruck der etablierten rechten Parteien. Deren „fehlgeleitete Strategie“, die rechtsextremen und populistischen Parteien zu kopieren, habe den längst wieder abgeflauten Anstieg der Asylbewerberzahlen überdauert. Die Wählerschaft jedoch habe sich häufig lieber fürs Original anstatt für die Kopie entschieden. Dies gilt umso mehr bei den Europawahlen. Zwar ist das Europaparlament das gesetzgebende Organ, doch hängt die Exekutive – die Europäische Kommission und wichtiger noch: der Rat der Europäischen Union – vorrangig von den in den jeweiligen Mitgliedsstaaten verfolgten Politiken ab. Der Einfluss des gewählten Gremiums ist also sehr reduziert. Solche Wahlen „zweiter Ordnung“, wie Mudde sie bezeichnet, werden erfahrungsgemäß besonders gern für den Protest per Wahlzettel genutzt.

Zweierlei Extremismus

Allen migrationspolitischen Debatten zum Trotz wurden jedoch auch in Umfragen vor den EU-Wahlen 2019 sozioökonomische Themen wie Arbeitslosigkeit, steigende Lebenshaltungskosten und öffentliche Gesundheitsversorgung als drängendste Probleme genannt – Themen also, wie sie auch bei der jüngsten ECFR-Studie angeführt worden sind. Das verweist auf einen weiteren wichtigen Punkt des von Mudde beschriebenen grundlegenden Wandels: das Aufbegehren gegen eine Politik, die ihren Wähler*innen kaum noch eine echte Wahlmöglichkeiten bietet. Das Credo der pragmatischen Zwänge und der wirtschaftspolitischen Alternativlosigkeit, das seit Jahrzehnten nicht nur die Politik in der EU, sondern auch vieler nationaler Regierungen dominiert, wurde von dem Rechtsphilosophen Johan van der Walt im Interview mit dieser Zeitung als „ordo-liberaler Extremismus“ bezeichnet. Dieser sei „wesentlich technokratisch, denn er propagiert die Einrichtung eines wohlfunktionierenden Marktes, und jenseits dessen soll man keine Fragen stellen“ (woxx 1357).

Ganz in diesem Sinne hat Cas Mudde den Aufstieg der populistischen Rechten als „illiberal-demokratische Kritik an einem undemokratischen Liberalismus“ interpretiert. Dieser Aufstieg wird wohl weiter andauern, auch dank Regierungen wie der französischen, die darauf baut, egal was sie macht, am Ende doch wiedergewählt zu werden, weil die Mehrzahl der Wähler*innen letztlich jede Kröte schlucken wird, um den Einzug von Marine Le Pen in den Élysée-Palast zu verhindern.

Allerdings wäre es ein Trugschluss zu glauben, die meisten derer, die rechts wählen, seien Grunde ihres Herzens demokratisch gesinnt. Eine im vergangenen Jahr ebenfalls im „Journal of Democracy“ erschienene Studie zeigt, dass ein nicht unerheblicher Teil der Wähler*innen rechtsextremer und autoritärer Parteien grundsätzlich bereit ist, demokratische Prinzipien über Bord zu werfen, wenn eine jeweilige Partei ihre Interessen zu vertreten verspricht. „Die Ablehnung der illiberalen Rechten gegenüber der Demokratie beschränkt sich nicht auf ihre liberalen Komponenten, sondern ist allumfassend“, heißt es dort. In ganz Europa repräsentierten Wähler*innen, die mit der extremen Rechten sympathisieren, ein noch weitgehend „ungenutztes autoritäres Potenzial“ (woxx 1720).

Nun könnte man sich natürlich damit beruhigen, Entwicklungen wie der Regierungswechsel in Polen würden zeigen, dass es auch einen Weg zurück von ganz rechts ins Zentrum gibt. Doch lässt sich etwa an der EU-Klima- und der Asylpolitik ablesen: Das Zentrum ist schon weit nach rechts gerückt.


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