Neben Griechenland steht derzeit Italien im Mittelpunkt der Euro-Krise. Doch die Länder sind wirtschaftlich kaum vergleichbar – was auch für die Europa-Haltung ihrer Regierungen gilt. Ein Gespräch mit dem Rechtswissenschaftler Emilios Christodoulidis über die Lehren aus dem Umgang der EU mit Griechenland.
woxx: Der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras meint, sein Land benötige ab diesem Sommer keine neuen Kredite mehr. Kommt Griechenland langsam raus aus dem Schlamassel?
Emilios Christodoulidis: Ich glaube nicht. Die Schulden sind so atemberaubend hoch, dass ich mir nicht vorstellen kann, wie es zu einer Lösung der Krise kommen soll.
Die „Süddeutsche Zeitung“ schrieb vor kurzem, die deutsche Regierung wolle aus Angst vor der Opposition jede Schuldenerleichterung gegenüber Griechenland verhindern, sogar gegen den Rat des Internationalen Währungsfonds (IWF). Lernt man in Deutschland nie dazu?
Der IWF sagt das ja nun schon eine ganze Weile, und wir reden immerhin über die Bastion des Neoliberalismus, die inzwischen fordert, dass es eine Umschuldung geben muss. In der Tat war die deutsche Regierung über die gesamte Zeit hinweg ein Schlüsselfaktor der Krise. Man sieht dort nicht, dass Länder wie Griechenland mit dem Euro Gefangene einer Währung sind, die viel zu teuer für sie ist, für eine Wirtschaft, die nicht produktiv genug ist. Der Import übersteigt den Export bei weitem und das einzige, was passiert ist, sind Kürzungen von Löhnen und Pensionen und die Entwertung der Arbeit.
Was bedeutet das konkret?
In einer Situation, in der man keinerlei Kontrolle über die Währung hat, ist das einzige, was bleibt, die Aushöhlung der Arbeitsrechte, um auf diese Weise die Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen. Und das ist in Griechenland in massivem Umfang passiert. Beispielsweise hatte die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) eine Kommission nach Griechenland entsendet und eine Verletzung internationalen Rechts von niederschmetterndem Umfang, etwa der Europäischen Sozialcharta, festgestellt.
Kann man dagegen nicht rechtlich vorgehen?
Die Gerichte in Griechenland verschaffen sich nicht so viel Gehör wie beispielsweise jene in Portugal, aber dann und wann gab es tatsächlich Versuche, Löhne und Pensionen zu schützen. Von der Troika (bestehend aus Europäischer Zentralbank, Internationalem Währungsfonds und Europäischer Kommission, verhandelte die „Troika“ mit der griechischen Regierung über Kreditprogramme; Anm. d. Red.) wurde das immer einzig vor dem Hintergrund der Schulden behandelt. Die Gläubiger interessiert es nicht, was die griechischen Gerichte sagen, das wird als innenpolitische Sache abgetan, selbst wenn es sich um das Verfassungsgericht handelt. Die griechische Regierung ist in dem Dilemma gefangen, dass sie verfassungsmäßig handeln soll, zugleich jedoch diese Verfassungsmäßigkeit als rein innenpolitische Frage betrachtet wird.
Die Marktlogik genießt also Vorrang gegenüber der Verfassungslogik?
Es ist sogar noch zynischer. Was Sie gerade beschrieben haben, trifft zwar vollkommen zu, ist aber zu allgemein gefasst. In Griechenland wird eine wirtschaftliche Sprache der Schulden angewandt, die alles übertönt, was in irgendeiner Form über die Legalität der bestehenden Zustände gesagt werden könnte. Es handelt sich also nicht nur um eine Konstellation Märkte versus Verfassung, in der die Märkte sich nun durchsetzen, sondern um eine Konstellation, in der die Forderungen der Gläubiger absolut jede Frage nach der Verfassungsmäßigkeit des Vorgehens vom Tisch wischen.
„Die Forderungen der Gläubiger wischen jede Frage nach der Verfassungsmäßigkeit des Vorgehens vom Tisch.“
Derzeit wird in Griechenland eine Verfassungsänderung diskutiert. Um was geht es dabei genau?
Einige der prominentesten Verfassungsrechtler haben einen Vorschlag für einen Verfassungszusatz unterbreitet. Die griechische Verfassung stammt ja aus dem Jahr 1975, wurde also im Jahr nach dem Fall der Junta verabschiedet und damals als großer Schritt in Richtung eines liberalen Projekts gesehen, mit einem soliden Schutz der Grundrechte und sozialer Rechte verknüpft. Doch mit dem jetzigen Ergänzungsvorschlag soll vor allem die komplette Liste geschützter Sozialrechte vollständig aus der Verfassung getilgt wird. Lediglich ein unverbindlicher Bezug soll erhalten bleiben, wonach Griechenland eben weiterhin dem Sozialstaat verpflichtet bleibe. Gerechtfertigt wird das damit, und ich zitiere jetzt direkt aus dem Entwurf, dass dies „im Namen ethischer und politischer Aufrichtigkeit“ geschehen soll. Es ist einfach unbequem, dass diese Rechte noch immer in der Verfassung verbrieft sind. Die Diktate der Troika und der Gläubiger haben wie gesagt zu einem radikalen Niedergang des Arbeitsschutzes in Griechenland geführt. Wenn jedoch Arbeitsschutz und die Freiheit, sich zu organisieren, verfassungsmäßig verbrieft sind, bekommt man ein verfassungsrechtliches Problem.
Die Verfassung würde also an die bereits bestehende Realität angepasst?
So könnte man es nennen. Jeder Anspruch, den man fortan vor lokalen und auch internationalen Gerichten gelten machen wollte, wäre quasi ohne rechtliches Fundament, ich denke hier auch an den Europäischen Gerichtshof.
„Ein Staat, der nicht frei über seinen Haushalt verfügt, kann kaum ernsthaft Souveränität beanspruchen.“
Die Opposition gegen einen weiteren Abbau sozialer Rechte wäre damit ohne legale Basis?
Zumindest unter Bezug auf griechisches Recht. Man kann sich dann natürlich immer noch auf europäisches Recht beziehen, aber es wird viel schwieriger, auf nationaler Ebene eine Lösung zu finden, unter Bezug auf die Verfassung. Denn diese wäre sozialrechtlich vollkommen ausgehöhlt. Über diesen Verfassungszusatz wurde noch nicht abgestimmt, aber der Vorschlag ist doch ein deutliches Zeichen, wo die Reise hingehen soll.
Wie realistisch ist es, dass er im griechischen Parlament eine Mehrheit findet?
Das kann ich nicht einschätzen. Dass er von einigen der einflussreichsten Verfassungsrechtlern und Politikern Griechenlands unterstützt wird, hat allerdings schon Wirkung gezeigt. Ich habe vor kurzem in Athen einen Vortrag gehalten, und einer der wichtigsten Aspekte, über die ich sprechen wollte, war die Bedeutung der Solidarität als eines verfassungsmäßigen Werts. Es war unglaublich, wie ein Teil des akademischen Publikums reagiert hat. Für diese Menschen ist Solidarität offenbar bloßer Utopismus und hat in der Verfassung nichts verloren.
Wie lautete der Tenor der Kritik?
Wenn man etwa über Wettbewerbsfähigkeit sprechen will und diese nicht in dem beschriebenen neoliberalen Sinne fasst, wird man als gefährlicher Sozialist abgestempelt. Ich habe versucht, Wettbewerbsfähigkeit als Eigenwert vorzustellen, weil ich denke, dass ein zentraler Aspekt dessen, was in den vergangenen Jahren nicht nur in Griechenland, sondern im europäischen Denken zur Wettbewerbsfähigkeit passiert ist, eine Umkehr der Rationalität darstellt. Selbst für die Ordoliberalen (eine ökonomische Schule, die tendenziell der neoliberalen Theorie entspricht, von manchen ihrer Vertreter*innen aber mit sozialstaatlich orientierten Elementen verknüpft wird; Anm. d. Red.) in Europa war Wettbewerbsfähigkeit noch ein Mittel, um soziale Werte und Zwecke zu verwirklichen: Vollbeschäftigung, Arbeitsrechte, gute Bildung und so weiter. Natürlich immer in dem Kontext, am Markt bestehen zu können. Nun jedoch geht es nur mehr darum, wie man Wettbewerbsfähigkeit erreichen kann, und zwar, indem man den Arbeitsschutz zerstört. Früher war Wettbewerbsfähigkeit also ein Mittel des Arbeitsschutzes, heute ist die Zerstörung des Arbeitsschutzes ein Mittel, um wettbewerbsfähig zu werden. Das ist verrückt, selbst wenn man mit den Prinzipien des Ordoliberalismus ohnehin nicht übereinstimmt, der ja die Basis der Verfassung Europas bildet.
Die Griechenland-Politik Deutschlands und der Troika wurde von Kritikern häufig so interpretiert, dass an Griechenland ein Exempel statuiert werde, um Ländern wie Italien und Frankreich sparpolitisch eine „Lektion“ zu erteilen.
Die Rücksichtslosigkeit, mit der man vorgegangen ist, war beeindruckend. Griechenland war natürlich ein einfaches Opfer, um die Lektionen, von denen Sie sprechen, zu erteilen. Wirtschaftlich betrachtet ist das Land im europäischen Vergleich unbedeutend. Außerdem war es für Griechenland sehr schwer, dem Druck standzuhalten. Man muss sich anschauen, wie die Europäische Zentralbank (EZB) ihre Rolle verstanden hat: versehen mit einem Freibrief, um Griechenland die Zahlungsfähigkeit zu verweigern. Dieses Vorgehen war in keiner Weise durch die Europäischen Verträge gedeckt. Die Aufgabe der EZB ist es eigentlich, die Zahlungsfähigkeit zu unterstützen, nicht jedoch sie zu unterbinden. Das alles scheint für die Entscheider in Europa keinerlei Rolle gespielt zu haben. In meinen Augen ist es aus verfassungsrechtlicher Sicht ein einmaliger Vorgang, der EZB eine Machtposition anzumaßen, in der sie über die Zahlungsfähigkeit eines Mitgliedsstaates befinden kann. Und letztlich war es ja diese Entscheidung, die die griechische Regierung in die Knie zwang. Der Spott und die Demütigungen, mit denen Griechenland übergossen wurde, hatten ein Ausmaß, mit dem keine andere europäische Regierung je konfrontiert war. Das war politisch wie verfassungsrechtlich inakzeptabel. Die Tatsache, dass ein Partner innerhalb eines gemeinsamen Projektes auf diese Weise gedemütigt werden kann, ist vielleicht die wichtigste Lektion, die daraus gelernt werden muss.
Wird man mit Italien ähnlich verfahren?
Da sind die Dinge etwas komplizierter. Italien hat genügend wirtschaftliche Macht für eine Blockadehaltung und ich sehe nicht, wie die europäischen Institutionen diese aushebeln könnten.
„Die jüngsten Schritte der europäischen Institutionen haben auf mich einen recht panischen Eindruck gemacht.“
Ist die italienische Regierung mächtig genug, um die Euro-Zone zu sprengen?
Ich glaube, das ist eine ernstzunehmende Gefahr. Die jüngsten Schritte, die von Seite der europäischen Institutionen unternommen wurden, haben auf mich einen recht panischen und unkoordinierten Eindruck gemacht. Das zeigt, wie alarmiert man ist. Die Herausforderung und die Bedrohung durch Italien sind in keiner Weise mit Griechenland vergleichbar. Im Falle Griechenlands war man bereit, das Land mit blanker Erpressung aus der Euro-Zone zu drängen. Mit Italien kann man das nicht machen. Wie wir sehen, kehren nun die alten nationalistischen Denkmuster wieder, rund um die Frage, wer die Wirtschaft eines jeweiligen Landes kontrolliert. Das ist eine andere Basis des Nationalismus als wir sie bisher gekannt haben.
Welche Auswirkungen hat diese Entwicklung auf den Begriff der Souveränität?
Ich meine, dass ein Staat, der nicht frei über seinen Haushalt verfügt, nicht ernsthaft Souveränität beanspruchen kann. Ohne Haushaltssouveränität fehlen elementare Bestandteile, die Politik eines Landes zu bestimmen und über ein bestimmtes Maß an sozialer Umverteilung zu entscheiden. Man hat keinerlei Kontrolle. Das einzige was dann noch bleibt, sind reaktionäre Demonstrationen von Souveränität, wie wir sie in Griechenland aktuell im Namensstreit mit Mazedonien gesehen haben. Die wahre Substanz der Souveränität jedoch, die die politische Selbstbestimmung einer Gesellschaft zum Inhalt hat, wurde ausgehöhlt.
Sehen Sie irgendeinen Ausweg aus der aktuellen Situation?
Der frühere griechische Finanzminister Yanis Varoufakis hat jüngst von der Möglichkeit fluider Allianzen des Südens gesprochen, also von einer Art politischer Bewegung, wie sie 2015 gegründet worden ist, aber nie wirklich Fahrt aufgenommen hat. Damals war ein grundlegender Gedanke, dass Syriza alleine nie in der Lage sein würde, innerhalb der EU etwas zu verändern. Man wollte daher eine Allianz mit den Sozialisten in Italien und Podemos in Spanien schaffen, eine linke Front des Südens. Doch der ehemalige italienische Ministerpräsident Matteo Renzi erwies sich für eine solche Verbindung als ungeeignet, und Podemos scheiterte an der Regierungsbildung. Also hat sich diese linke Front nie realisiert. Varoufakis möchte nun wieder in diese Richtung aktiv werden, für eine Allianz, die zwingend eine supranationale werden muss, um wirklich eine Veränderung herbeizuführen und nicht wieder auf die alten nationalen und nationalistischen Strukturen und Denkmuster zurückzufallen. Es gilt, innerhalb Europas eine Form der Opposition schaffen, die nicht auf der Logik der Rechtsextremen und sogenannten Rechtspopulisten basiert und zugleich die Belange der Länder stark macht, die am meisten unter einem starken Euro zu leiden hatten.
„Man darf nicht fatalistisch werden, denn die Situation ändert sich oft recht schnell.“
Wie kann das gehen?
Varoufakis hat meiner Ansicht nach ein paar sehr vernünftige Vorschläge gemacht, etwa dass die Länder mit starker Wirtschaftskraft, allen voran Deutschland, den Euro besser verlassen sollten, damit dieser sich auf einem realistischen Niveau einpendeln kann. Es hat auch einige sehr ernstzunehmende Vorschläge gegeben, wie eine Umschuldung Griechenlands funktionieren könnte. Ein Grund, warum Europa heute in dieser Sackgasse steckt, liegt darin, dass niemand bereit und in der Lage ist, auch nur ansatzweise auf der Ebene über die Probleme nachzudenken, auf der eine Lösung unter Umständen möglich wäre. Weil niemand weiß, wie man das innerhalb der jeweils eigenen Gesellschaft vertreten und verkaufen könnte. Jeder, der es versucht, müsste einen hohen Preis bei den Wahlen bezahlen. Niemand ist bereit, irgendein Risiko einzugehen, um eine Lösung auf europäischer Ebene zu finden. Das schafft eine furchtbare Ausweglosigkeit.
Wo bedeutet das für eine proeuropäische Linke?
Man darf nicht fatalistisch werden, denn die Dinge ändern sich oft recht schnell. Eine antiinstitutionelle Haltung kann grundsätzlich auch von einer politischen Kraft aufgegriffen werden, die nicht reaktionär, neofaschistisch oder antieuropäisch ausgerichtet ist. Die Mobilisierung insbesondere der jungen städtischen Bevölkerung kann interessante Alternativen schaffen. Die Frage ist jeweils, ob man diese Impulse wirklich für einen Vorstoß in Richtung Veränderung nutzen kann.
Emilios Christodoulidis ist Professor für Rechtswissenschaft an der Universität Glasgow. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen unter anderem Demokratietheorie, kritische Rechtstheorie und die Verankerung sozialer Rechte in der Verfassung. Dabei geht es ihm nicht nur um die Einklagbarkeit positiver Rechte, sondern auch um die Möglichkeit, gesellschaftliche Widersprüche zu thematisieren und zu radikalisieren. Die Euro-Krise hat der gebürtige Grieche von Anfang an kritisch begleitet und hat mehrfach mit öffentlichen Vorträgen zum Schutz von Arbeitsrechten in die griechische Debatte interveniert. Eine Diskussion, die er mit dem französischen Rechtswissenschaftler Alain Supiot dazu führte, hat in Griechenland breite Aufmerksamkeit erlangt. Vor kurzem hat er im „Megaron“, dem Konzerthaus in Athen, einen Vortrag zum „Verfassungsdefizit in Europa“ gehalten. Christodoulidis war auch bereits mehrfach als Vortragsredner an der Universität Luxemburg zu Gast.