Der Sozialwissenschaftler Alex Demirovic hat einen Sammelband herausgegeben, der angesichts des drohenden Auseinanderbrechens der Europäischen Union den verbleibenden Handlungsspielraum auch der Linken ausloten will.
woxx: Wie bewerten die AutorInnen des von Ihnen herausgegebenen Bandes die Krise der Europäischen Union?
Alex Demirovic: Die Antworten fallen unterschiedlich aus. Einige äußern sich skeptisch und bezweifeln, dass die politischen Instrumente innerhalb der EU für einen Demokratisierungsprozess geeignet sind. Denken Sie etwa an den Euro und die sich daraus ergebenden Handlungszwänge. Mit seiner Hilfe wird Druck auf die einzelnen Länder ausgeübt, um die nationalen Märkte zu stabilisieren; es wird Einfluss auf die Arbeitsmärkte, die Gesundheitssysteme und die Rentensysteme genommen. Dadurch werden die sozialen Konflikte in europäischen Gesellschaften angeheizt. Das schließt eine weitere Stärkung der politischen Rechten und nationalistischer Orientierungen mit ein. Die Integration wird gefährdet. Zudem ist der Euro das Medium, mit dem Deutschland seine überlegene Posi- tion ausspielen kann.
Wie drückt sich diese Überlegenheit aus?
Wenn Deutschland seine Export- politik weiter fortsetzt, können andere Länder damit gar nicht konkurrieren. Mittlerweile ist es so, dass die deutsche Industrie eine derartig hohe Produktivität hat, dass sie einen großen Teil Europas versorgen könnte. Das bedeutet für die anderen Regionen und Länder, dass sie sich zunehmend verschulden müssen, weil sie nicht in gleicher Weise wettbewerbsfähig sind. Denn mit dem Euro als Einheitswährung können die Länder nicht mit Abwertung reagieren und damit auch den entscheidenden Mechanismus nicht benutzen, der ihnen relative Vorteile im Verhältnis zur deutschen Wirtschaft bringen würde: niedrigere Arbeitslöhne, niedrigere Lohnstückkosten. Angesichts dessen sagen einige, dann muss man eben aus dem Euro raus oder man muss überhaupt auf den Euro verzichten.
Ist das auch Ihre Konsequenz aus der Entwicklung?
Nein. Wie einige Autoren des Buches plädiere ich für eine Stärkung des Europäischen Parlaments sowie der europäischen Perspektive in den nationalen Parlamenten. Wir müssen auch für eine stärkere Wirtschafts-, Fiskal- und Sozialunion eintreten.
Wie könnte das aussehen?
In der Europäischen Sozialcharta steht ja, dass die Produktivkraftentwicklung an die Menschen in der EU verteilt werden muss, und wir haben heute höheren stofflichen Reichtum, höhere Produktivität. Der müsste jetzt auch umverteilt werden. Weniger Arbeitszeit, bessere Rentenversorgung, mehr Sozialtransfers und Unterstützung. Man kann nicht einerseits ganze Länder deindustrialisieren und sie andererseits nicht unterstützen; also muss man auch über eine neue europäische Arbeitsteilung nachdenken.
Wie könnte diese europäische Arbeitsteilung aussehen?
Wir könnten etwa die Energieversorgung anders regeln, indem wir sie sehr viel stärker dezentralisieren, wir könnten auch auf den Transport von Produkten über weite Strecken verzichten, wir könnten Anreize geben, damit Industrien anders angesiedelt werden, um weite Fertigungs- oder Marktwege abzubauen. Das ist jedoch eine der schwierigsten Fragen, weil es natürlich bedeutet, dass man europaweit eine gemeinsame Vorstellung davon haben müsste, wie man Industrie und Dienstleistung künftig entwickeln will.
„Ich hoffe, der Druck auf Deutschland wird so groß, dass es von seiner bisherigen Politik Abstand nimmt.
Worin könnte der Anreiz für so ein Umdenken entstehen?
Wenn man sich überlegt, dass heute in manchen europäischen Regionen 25 oder gar 50 Prozent der Menschen arbeitslos sind, dann stellt das ja auch einen Reichtum an Zeit dar. Diese Zeit könnte umverteilt, die Arbeitszeit reduziert werden, gleichzeitig könnten die Menschen beruflich und allgemein fortgebildet werden. Aber real schlägt sich diese Situation für die Einzelnen als Armut und Perspektivlosigkeit nieder. Daher muss man über neue Verteilungsmechanismen nachdenken. Dazu bedarf es natürlich einer Demokratisierung der europäischen Institutionen, einer Stärkung des Parlaments, sowie einer engeren Verzahnung der verschiedenen Politikebenen.
Die europäischen Institutionen sollen also noch stärker in die Nationalstaaten eingreifen?
Wenn man es so formuliert wie Sie, dann resultiert das sofort in der Warnung vor Souveränitätsverlust und einer Stärkung der Bürokratie in Brüssel. Wir müssen uns ja klarmachen, dass die Integration stattfindet, aber unter der Vormacht der Unternehmen, also gewinn- und wettbewerbsorientiert. Aus meiner Sicht müssen die politisch-demokratischen Entscheidungen auf dieses Integrationsniveau gebracht werden; es geht darum, Konvergenz herbeizuführen. Entscheidungen werden auf vielen verschiedenen Ebenen und teils auch in informellen Gremien getroffen. Solche Mechanismen müssen wir transparenter gestalten und dafür sorgen, dass die lokalen, regionalen, nationalen und europäischen Mechanismen besser ineinandergreifen. Es geht nicht einfach nur darum, die Brüsseler Bürokratie zu stärken.
Wo soll der gesellschaftliche Druck für eine solche Umgestaltung herkommen? Selbst Teile der Linken können sich mittlerweile eine Rückkehr zum Nationalstaat vorstellen.
Aus meiner Sicht ist das Gegenstand einer kontroversen Diskussion. Es gibt in der Linken, wenn man an die Debatten in Frankreich oder Deutschland denkt, aber auch in den Fraktionen der Vereinten Europäischen Linken/Nordischen Grünen Linken (GUE–NGL) sowie bei den Grünen (Grüne/EFA) im Europaparlament ja sehr unterschiedliche Standpunkte hierzu. Darunter solche, die nationale Lösungen befürworten, und andere, wie etwa das Netzwerk „transform!“, die eher für eine stärkere Europäisierung eintreten. Die öffentliche Meinung in den Ländern ist gespalten, das hat man jetzt auch in Großbritannien gesehen. Große Akteure, wie die Gewerkschaften und die großen Sozialverbände haben sich in dieser Auseinandersetzung noch gar nicht oder nur wenig positioniert. Aber wenn wir diese Diskussion nicht führen, bedeutet das de facto eine Stärkung der auseinandertreibenden Kräfte.
Mit welcher Konsequenz?
Es kommt zu einer drastischen Schwächung der EU. Doch Länder wie Italien, Griechenland, Spanien oder auch Polen werden nicht stärker, indem sie sich wieder stärker national orientieren. Sie werden auch weiterhin von Ländern wie Deutschland abhängig bleiben und davon, dass diese einen Teil der Produktion in diese Regionen verlagern. Dem entgegenzuwirken, heißt, sich für eine stärkere politische Union und damit auch für eine Stärkung der Wirtschaftspolitik und der Demokratie einzusetzen.
Sehen Sie irgendwelche Anzeichen hierfür?
Aus meiner Sicht befinden wir uns gerade in einer schwierigen und unklaren Übergangssituation. Das Bewusstsein über die Notwendigkeit einer weiteren Integration ist auch bei den verantwortlichen Politikern vorhanden. Es werden nun auch Themen wie eine gemeinsame Fiskalpolitik und ein gemeinsames Finanzministerium diskutiert – wie zuletzt von Macron.
Aber wird sich Deutschland nicht auch genau hiergegen wenden? Der Euro ist ja vor allem ein deutsches Machtinstrument.
Wenn Deutschland die Rolle einer gesamteuropäischen Führungsmacht wahrnimmt, was es faktisch aufgrund seiner ökonomischen Macht ja tut und wozu es zunehmend gedrängt wird, dann muss es Zugeständnisse machen und aufhören, Interessenpolitik für einen kleinen Teil der deutschen und europäischen Unternehmen zu betreiben. Meine Hoffnung ist, dass der Druck, der von den Entwicklungen in den Mitgliedstaaten ausgeht, so hoch wird, dass Berlin Abstand von dieser Politik nehmen muss. Es wird sonst maßgeblich zur Zerstörung der EU beitragen.
Welche Perspektive bleibt der Linken also?
Ich würde nicht so weit gehen zu sagen, dass Europa neu gegründet werden muss. Aber wir brauchen neue Regelwerke und müssen bestimmte Institutionen demokratisieren und stärken. Außerdem brauchen wir – das ist für mich von großer Bedeutung – ein Verständnis von Europa, eine europäische Diskussion darüber, sich selbst demokratisch weiter zu gestalten. Aus meiner Sicht geht es zum Teil um banale Dinge. Wir brauchen einen europäischen Wahlkampf, ein europäisches Wahlrecht und eine stärkere europäische Öffentlichkeit. Die vorhandenen öffentliche Kanäle wie Arte und Euronews müssen ausgebaut werden, damit die EU zum Gegenstand öffentlicher Meinungsbildung wird und die Leute verstehen, dass sie selbst Europa sind, dass das die Gesellschaft ist, in der sie leben, und nicht allein in Bayern, Deutschland oder Luxemburg.
Alex Demirovic ist außerplanmäßiger Professor an der Goethe-Universität in Frankfurt und Senior Fellow der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen Demokratie- und Staatstheorie sowie die kritische Theorie der Gesellschaft. Gemeinsam mit Mario Candeias hat er den Sammelband „Europe – what’s left? Die Europäische Union zwischen Zerfall, Autoritarismus und demokratischer Erneuerung“ herausgebracht, der im Verlag Westfälisches Dampfboot erschienen ist. Online kann der Band kostenlos unter folgender Adresse heruntergeladen werden: https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/sonst_publikationen/candeias_Demirovic_europe.pdf