Flüchtlinge im Mittelmeerraum: Erdoğans Libyen

Der türkische Präsident Erdoğan hat sich in den Libyen-Konflikt eingemischt und ist dort jetzt auch flüchtlingspolitisch am Drücker. Einmal mehr ist die EU von ihm abhängig. Derweil spitzt sich die Situation der Flüchtlinge auf der zentralen Mittelmeerroute vor Malta zu.

Keine Rettung in Sicht: Derzeit ist kein Schiff einer NGO auf 
dem Mittelmeer unterwegs, um in Seenot geratenen Flüchtlingen 
zu Hilfe zu kommen; die neu gestartete EU-Mission „Irini“ sieht Einsätze nur fernab der üblichen Fluchtrouten vor. (Foto: EPA-EFE/Hannah Wallace Bowman)

Innenpolitisch steht dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan das Wasser längst bis zum Hals. Bereits vor der Coronakrise war die Wirtschaft des Landes arg gebeutelt. Durch die Pandemie ist sie vollends ins Trudeln geraten. Die Staatspleite droht, und regierungsnahe Medien fantasieren von einem „Angriff auf die Türkei“, da ausländische Finanzinstitutionen den Kurs der Währung manipulierten. Gegenüber der Opposition wurden wiederholt Putschvorwürfe laut.

Außenpolitisch jedoch hat Erdoğan diesen Monat einen Sieg errungen. Dank türkischer Militärhilfe sieht es in Libyen so aus, als habe die international anerkannte Regierung mit Sitz in der Hauptstadt Tripolis die vom Osten des Landes aus operierenden Rebellentruppen um den abtrünnigen General Chalifa Haftar fürs erste in die Schranken verwiesen. Erdoğan hat sich dadurch in dem nordafrikanischen Land in eine ähnliche machtpolitische Rolle manövriert, wie sie der russische Präsident Putin in Syrien ausübt. Was sich derzeit in Libyen abspielt, wird auch für die EU-Flüchtlingspolitik nicht ohne Folgen bleiben. Hier laufen mehrere afrikanische Fluchtrouten zusammen; es kommen Menschen aus der Sahelzone, aus Nigeria und von der Elfenbeinküste, aus Somalia, Äthiopien, Eritrea und Südsudan. Und sie landen inmitten eines mit immer mehr Feuerkraft geführten militärischen Konflikts.

Monatelang hatte es so ausgesehen, als sei ein Sieg Haftars nur noch eine Frage der Zeit. Auch eine von der deutschen Bundesregierung im vergangenen Januar anberaumte Konferenz unter Beteiligung der Konfliktparteien hatte daran nichts geändert. Nun jedoch hat sich das Blatt offenbar deutlich zu Ungunsten Haftars gewendet. Im Windschatten der Coronakrise und unter Missachtung des von den Vereinten Nationen verhängten Waffenembargos haben beide Kriegsparteien aufgerüstet und den Konflikt eskaliert.

Von türkischen Soldaten, türkischem Kriegsgerät und Kämpfern der Syrischen Nationalarmee seit vergangenem November massiv unterstützt, haben die Truppen der Einheitsregierung von Ministerpräsident Fajis al-Sarradsch am Montag vergangener Woche einen Luftwaffenstützpunkt westlich von Tripolis zurückerobert und dabei auch nagelneue Luftabwehrsysteme erbeutet. Das Material stammt aus Russland, das Haftar den Rücken stärkt. So wurden die Truppen des Generals bislang durch Personal der kremlnahen russischen Sicherheitsfirma „Wagner Group“ verstärkt. Verschiedenen Angaben zufolge handelte es sich dabei um zwischen 1.200 und 2.000 Mann. Nach der jüngsten Niederlage Haftars haben sich die Söldner jedoch von der Front nahe Tripolis zurückgezogen und nach Aussagen lokaler Behörden inzwischen sogar das Land verlassen.

Neben Russland wurde Haftar unter anderem von Ägypten und Saudi-Arabien unterstützt. Aber auch Frankreich mischte zu seinen Gunsten mit, obwohl die Europäische Union die Einheitsregierung für legitim erklärt. In Paris traute man insgeheim offenbar eher Haftar zu, das Land zu kontrollieren und damit auch islamistischen Terrorbanden den Boden zu entziehen. Die offizielle Regierung kontrolliert weiterhin nur kleine Teile des Landes. Außerdem werden mit Blick auf den Mineralölkonzern Total auch wirtschaftliche Interessen als Grund für das französische Engagement genannt. Russland indes sieht wie schon in Syrien vor allem die Möglichkeit, den geopolitischen Einflussbereich der EU zu destabilisieren und Flüchtlingsbewegungen in Richtung Europa triggern zu können.

Mit der vorläufigen Niederlage Haftars hat statt Putin nun allerdings Erdoğan die Fäden in der Hand. „Es ist jetzt das Libyen der Türkei“, spitzte ein Kommentator des „European Council on Foreign Relations“ die Analyse der derzeitigen Lage zu. Wie schon an der Grenze zu Griechenland, kann Erdoğan jetzt Druck auf die EU ausüben, die Migration aus Nordafrika und der Subsahara um jeden Preis unterbinden will. Die Migrant*innen im Mittelmeerraum werden somit einmal mehr zum geopolitischen Spielball zwischen der Europäischen Union und dem türkischen Präsidenten.

Luxemburg beteiligt

Daran wird auch die Anfang Mai mit zweimonatiger Verspätung gestartete EU-Mission „Irini“ nichts ändern. Eine Seenotrettung von Flüchtlingen sieht die Nachfolgeoperation zu der im Streit um genau dieses Thema gestoppten Mission „Sophia“ ohnehin nicht vor. Statt dessen soll in erster Linie das Waffenembargo der Vereinten Nationen für Libyen durchgesetzt werden, außerdem will man Menschenschmuggel und illegale Öl-Exporte unterbinden sowie weiterhin die umstrittene libysche Küstenwache ausbilden. Auch Luxemburg beteiligt sich mit einem zur Seeraumüberwachung eingesetzten Flugzeug an der Mission. Waffenexporte jedoch können auch über Luft- und Landwege abgewickelt werden. Davon profitiert vor allem der von der ostlibyschen Hafenstadt Bengasi aus agierende Haftar, wie die libysche Einheitsregierung kritisierte. Deren Unterstützer Türkei hat der EU daher bereits signalisiert, man möge ihr mit „Irini“ nicht vor der Küste bei Tripolis in die Quere kommen.

Ohnehin soll sich „Irini“ laut Einsatzplanung von den Migrationsrouten am Mittelmeer fernhalten, um Seenotrettungseinsätze und den damit verbundenen Streit zu vermeiden. Die sogenannte „zentrale Mittelmeerroute“ verläuft hauptsächlich von Tripolis über Malta nach Sizilien. Wer von der Gegend um Bengasi aus in See sticht, muss es bis nach Kreta oder ans griechische Festland schaffen, ein deutlich längerer, gefährlicherer und daher seltener gewählter Weg. Recht abseits von allem maßgeblichen Geschehen befindet sich vor der östlichen Küste Libyens nun das „Irini“-Operationsgebiet.

Bildquelle: Wikimedia/CC-BY-SA-4.0/Mstyslav Chernov

Während die militärische Seenotrettung somit eingestellt wurde, wird ziviles Engagement auf der zentralen Mittelmeeroute von den Staaten der EU weiterhin erfolgreich torpediert. Bereits im Juni 2018 hatten Malta und Italien ihre Häfen erstmals für private Seenotretter geschlossen. Im selben Monat war die Koordination aller Rettungsaktionen in internationalen Gewässern von der Seenotrettungsleitstelle in Rom an die libysche Küstenwache übergeben worden, die seither die Geretteten wieder zurück nach Libyen und in die dortigen Lager bringt. Dort herrschen nach wie vor schreckliche Zustände. Den Schiffen der Mission „Sophia“ und europäischen Küstenwachbooten war diese Praxis des „refoulement“ verboten.

Dieser Tage erreicht die Entwicklung einmal mehr einen traurigen Höhepunkt: Zum Stand des Redaktionsschlusses dieses Artikels befand sich dank der Blockadehaltung der EU-Staaten kein einziges Rettungsschiff einer NGO im Mittelmeer auf See. In einer gemeinsamen Erklärung drückten die Internationale Organisation für Migration IOM und die UN-Flüchtlingskommission UNHCR ihre große Sorge über eine wachsende Anzahl von Berichten aus, wonach verschiedene Regierungen „verspätet auf Seenotrufe reagieren oder diese komplett ignorieren, insbesondere vor dem Hintergrund eines drastischen Rückgangs staatlich und NGO-geführter Rettungskapazitäten“.

Malta am Pranger

Seit der Coronakrise sind die Häfen von Malta und Italien für private Seenotretter dicht, entsprechende Quarantäne-Bestimmungen werden auf deren Besatzungen angewandt. Im Hafen von Palermo werden die „Aita Mari“ und die „Alan Kurdi“ darüber hinaus am Auslaufen gehindert, offiziell wegen „Sicherheitsbedenken“. Die von den Besatzungen zuletzt geretteten Flüchtlinge wurden zur Quarantäne auf einer Fähre untergebracht.

Dieses Schicksal teilen auch 162 Flüchtlinge in internationalen Gewässern vor Malta. Seit nunmehr vier Wochen müssen sie auf zwei kleinen Ausflugsbooten ausharren, wie sie für touristische Tagestouren verwendet werden. Sie waren zuvor von Fischereibooten und einem Küstenwachschiff gerettet und dann an den Betreiber der Ausflugskähne übergeben worden. Die dort Internierten berichten laut „Human Rights Watch“ (HRW), dass es bereits zu mehreren Selbstmordversuchen gekommen sei. „Angst, Wut und Depression nehmen zu“, wird einer der Betreffenden zitiert, der auch über einen Mangel an Nahrung und medizinischer Versorgung berichtet. Asyl konnten die betroffenen Personen nicht beantragen, und auch eine Begründung für die über die Quarantänezeit von zwei Wochen hinaus andauernde Internierung hat die maltesische Regierung bislang nicht geliefert. Mit dem Vorgehen sollen die anderen EU-Mitgliedsstaaten zum Handeln erpresst werden, vermutet HRW-Vizedirektorin Judith Sunderland, die die maltesische Regierung scharf kritisierte. Bisher hat sich lediglich Frankreich bereit erklärt, einige dieser Flüchtlinge aufzunehmen.

Auch wegen weiterer Vorfälle steht der kleine Inselstaat derzeit am Pranger. So soll die maltesische Regierung in großem Stil Schiffe privater Eigner einsetzen, um Migrant*innen im Mittelmeer aufzugreifen und nach Libyen zurückzuführen. Der maltesische Fischtrawler „Dar Al Salam 1“ etwa habe vor seinem Eingreifen in Seenot geratene Flüchtlinge tagelang beobachtet, während einige von ihnen ertrunken seien. Schließlich habe man die Überlebenden an Bord genommen, unter Deck eingesperrt und nach Libyen zurückgebracht. In einem anderen Fall habe die maltesische Marine ein Flüchtlingsboot mit defektem Antrieb mit einem neuen Außenbordmotor, Sprit, einem Kompass und der Route nach Sizilien versorgt und jede weitere Hilfe verweigert.

Die maltesische Regierung versuchte sich vorige Woche durch Angriff zu verteidigen. So rechnete sie in einem Statement vor, dass von den 3.405 nicht regulären Migrant*innen, die im Verlauf des Jahres 2019 in Malta angekommen seien, lediglich 610 in andere Mitgliedsstaaten verteilt worden seien. Auch von den seit dem Jahr 2005 angekommenen über 21.000 Personen gelte das für lediglich acht Prozent. „Je größer das Problem wird, desto weniger Solidarität erhalten wir“, ergänzte der maltesische Außenminister Evarist Bartolo und betonte, dass man schließlich nicht nur die eigene, sondern die Außengrenze der EU verteidige.

Er wies außerdem darauf hin, dass sich die Zahl der Neuankömmlinge auf Malta aus Libyen gegenüber dem Vorjahr ungefähr vervierfacht habe. Wie sich das weiterentwickelt, liegt nun auch in den Händen des türkischen Präsidenten Erdoğan. Grund zur Hoffnung für die betroffenen Migrant*innen gibt es in der derzeitigen Konstellation bislang nicht.


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