Belgien hat die Präsidentschaft im Rat der EU übernommen, die dort nicht nur mit dem Kampf um den Einzug ins Europäische, sondern auch um die nationalen Parlamente zusammenfällt. Das könnte die Agenda auf EU-Ebene mitprägen.
Zum Jahreswechsel hat Spanien den Vorsitz im Rat der Europäischen Union an Belgien übergeben. Doch obwohl der Turnus wie üblich sechs Monate dauern wird, ist für viele Kommentator*innen schon wieder ein Ende in Sicht: Beim französischen Wochenblatt „Courrier International“ beispielsweise gibt man der belgischen Präsidentschaft zwei, drei Monate, „bestenfalls“, ehe keine vernünftige Arbeit mehr möglich sein wird. Grund dafür sind die Wahlen zum Europäischen Parlament am 9. Juni dieses Jahres, an dem in Belgien zudem über die Sitzverteilung auf kommunaler und regionaler Ebene sowie im föderalen Parlament abgestimmt wird. Es gilt also, auf die Tube zu drücken und möglichst viele der rund 150 noch offenen Gesetzesvorhaben abzuschließen, ehe die aktuelle Legislaturperiode zu Ende geht und alles in den Taumel des Wahlkampfes gerät. Was liegen bleibt, wird an ein neu zusammengesetztes EU-Parlament und eine neue EU-Kommission weitergereicht.
Ganz oben auf liegt der im September 2020 von der EU-Kommission auf den Weg gebrachte EU-Migrationspakt (siehe Artikel „Pakt der Abschiebung“ in woxx 1599). Im Juni vergangenen Jahres wurde in Luxemburg über die strittigen Punkte ein „Kompromiss“ erzielt (siehe Artikel „Schlimmer geht immer“ in woxx 1740), der Ende vergangenen Dezember zum Abschluss des „Trilogs“ zwischen EU-Parlament, Kommission und Rat bestätigt wurde. Der belgischen Präsidentschaft obliegt es nun, zu finalisieren, was sich de facto als Einschränkung des Rechts auf Asyl darstellt. Insgesamt zehn Gesetze umfasst die Erneuerung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS). Im Zentrum stehen sogenannte Schnellverfahren an den EU-Außengrenzen, für das den Betroffenen, so fürchten Kritiker*innen, nur eingeschränkte Rechtsmittel zur Verfügung stehen werden. „Wenn man den freien Personenverkehr in der EU will, von dem jeder ein Fan ist, dann funktioniert das nur, wenn wir unsere Außengrenzen angemessen verteidigen“, bekräftigte Belgiens Premierminister Alexander De Croo in einem Interview mit den belgischen Tageszeitungen „Le Soir“ und „De Standaard“ diese Politik. Seine eigene Regierung steht wegen des Umgangs mit Asylsuchenden seit langem unter Druck, weil längst nicht ausreichend Unterkünfte für die Flüchtlinge zur Verfügung stehen, die in ihrer Not inzwischen zur Besetzung von Häusern übergegangen sind.
Vivaldi: bald ausgespielt?
Als weitere Schwerpunkte hat De Croos Regierung unter anderem die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit, eine grüne und gerechte Transition, sowie eine Stärkung der sozialen und der Gesundheits-Agenda ausgerufen. Viel Rhetorik also, wo echte Fortschritte wohl kaum zu erwarten sind. Vielmehr scheint De Croo, Mitglied der flämischen liberalen Partei „Open Vlaamse Liberalen en Democraten“ (Open VLD), die ihm gebotene Plattform bereits für den Wahlkampf im eigenen Land zu nutzen. Um die von ihm angeführte „Vivaldi“-Koalition, die sich aus Sozialisten, Grünen, Liberalen und Christdemokraten aus allen Landesteilen zusammensetzt, ist es nämlich gar nicht gut bestellt. In Flandern würde die rechtsextreme Partei „Vlaams Belang“ laut jüngsten Umfragen von vergangenem Dezember 25,1 Prozent der Stimmen bekommen, dicht gefolgt von der gemäßigteren, wirtschaftsliberal-separatistischen „Nieuw-Vlaamse Alliantie“ (N-VA). De Croos Open VLD läge mit 7,1 Prozent abgeschlagen auf Platz sieben. Und in Wallonien schickt sich der marxistisch-leninistisch orientierte „Parti du travail de Belgique“ (PTB) mit 19,3 Prozent der Umfragestimmen an, die dortigen Liberalen (Mouvement Réformateur; MR), Grünen (Ecolo) und „Parti Socialiste“ (PS) hinter sich zu lassen.
Ende Juni, wenn De Croo sein Amt als Premierminister mit einiger Wahrscheinlichkeit abgeben muss, wird er auch das Zepter der EU-Ratspräsidentschaft weitergeben: an seinen ungarischen Amtskollegen Victor Orbán (siehe Artikel „Orbán als Gesicht Europas“ in woxx 1739). Von Vorschlägen, dessen Präsidentschaft zu verhindern, hält der Belgier im Übrigen nichts. „Einige neigen zu dem Gedanken, wer die ‚Präsidentschaft‘ innehabe, könne alles alleine entscheiden“, so De Croo: „Das Gegenteil ist der Fall! Die Präsidentschaft zwingt einen dazu, derjenige zu sein, der im Zentrum steht und den Konsens schmiedet. Das wird eine interessante Erfahrung für Viktor sein!“