Gespräch mit dem Historiker Enzo Traverso: „Derselbe rachsüchtige Blick“

Kann die Justiz zum Hindernis der Aufarbeitung der Vergangenheit werden? Der Historiker Enzo Traverso über den Umgang mit der Geschichte der Roten Brigaden und den „bleiernen Jahren“ in Italien.

„Die politische Gewalt der 1970er-Jahre war Teil einer politischen Ära, die mit einer Niederlage der Linken, der Arbeiterbewegung und der alternativen Bewegungen endete – diese Niederlage ist nie aufgearbeitet worden“: der Historiker Enzo Traverso. (Foto: Gemma Planell/Flickr)

woxx: Am 28. April wurden ehemalige Mitglieder der Roten Brigaden, die vor Jahrzehnten nach Frankreich geflüchtet waren, bei der Polizeiaktion „Rote Schatten“ in Paris verhaftet. Die italienische Justiz lastet ihnen eine Reihe von Verbrechen an, die sie zwischen 1972 und 1982 begangen haben sollen – von Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung bis zu Mord. Geht es darum, „mit dem 20. Jahrhundert abzuschließen“, wie die Tageszeitung „La Repubblica“ schreibt?


Enzo Traverso: Das 20. Jahrhundert ist seit 1989 abgeschlossen. Seither hat sich die Welt verändert und mit ihr Italien. In vielerlei Hinsicht ist es schlimmer geworden. Dennoch bleibt das Erbe des 20. Jahrhunderts überwältigend, viele grundsätzliche Probleme plagen unser Land weiterhin, darunter die Mafia, der Rassismus und die Korruption. Einige dieser Probleme haben sich verschlimmert, zum Beispiel die Jugendarbeitslosigkeit und der postkoloniale Rassismus, der viel weiter verbreitet ist, seit Italien ein Einwanderungsland ist. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gehörte Italien zu den reichsten Ländern der westlichen Welt. In den vergangenen 30 Jahren hat sich das geändert. Das Land erlebt einen ständigen Rückgang der Bevölkerung, will aber keine Einwanderer inte-
grieren und gewährt nicht einmal den Einwanderern der zweiten Generation die Staatsbürgerschaft; seine Führungsschicht altert, inzwischen gibt es eine beeindruckende intellektuelle italienische Diaspora, ähnlich wie bei Ländern des globalen Südens. Die wirtschaftlich führenden Kreise sind sehr reich geworden, ohne Wohlstand für alle zu produzieren. Die Zeitung „La Repubblica“ ist eine der treuesten Vertreterinnen dieser Kreise, denn inzwischen gibt der CEO von Fiat die Ernennung von Redakteuren dieser Zeitung bekannt. Mit dem 20. Jahrhundert abzuschließen, bedeutet, sich diesen Problemen zu stellen.

Die Reaktionen auf die Verhaftungen in der italienischen Politik und den Medien waren überraschend einstimmig: Von einer „Pflicht zur Vergangenheitsbewältigung“ und „besonders schmerzhaften Wunden“ war die Rede. Was halten Sie davon, und gibt es wirklich Wunden zu heilen?


Für diejenigen meiner Generation, die diese Jahre miterlebt haben, besteht kein Zweifel, dass es schmerzhafte Wunden gibt, die noch nicht verheilt sind. Die in Frankreich verhafteten Personen sind die Ersten, die das erkennen. Die Frage ist, wie man die Geschichte aufarbeitet. Mario Calabresi, der Sohn des 1972 ermordeten Polizeikommissars, hat gesagt, dass die Nachricht von der Verhaftung Giorgio Pietrostefanis (1991 als mutmaßlicher Auftraggeber des Mordes an Calabresi zu 22 Jahren Haft verurteilt, nutzte eine Haftunterbrechung zur Flucht nach Frankreich; Anm. d. Red.) in ihm keine Gefühle der Erleichterung, Genugtuung, Wiedergutmachung oder Gerechtigkeit wecke, sondern nur Kummer und Verlegenheit. In Italien haben die Medien und die offizielle Kultur nicht gewusst, wie sie die „anni di piombo“ (bleierne Jahre, Anm. d. Red.) aufarbeiten sollen, vor allem aber wollten sie das nicht. Sie haben über Sondergesetze und Verhaftungen berichtet und diskutiert sowie die sogenannten Staatsfeinde als Monster dargestellt. Die ehemaligen Brigadisten und einige Historiker – ich möchte Giovanni de Luna erwähnen – gehören wahrscheinlich zu den wenigen, die einen wirklichen Beitrag zum Verständnis jener Jahre und zu einer kritischen Erinnerung an sie geleistet haben. Die ehemaligen Brigadisten haben ihre Verbrechen zugegeben, über ihre Fehler nachgedacht und versucht, die Gründe für ihre Entscheidungen zu verstehen und zu erklären. Wer ein Minimum an intellektueller Ehrlichkeit besitzt, ­sollte erkennen, dass die sogenannte Pflicht zur Vergangenheitsbewältigung etwas anderes fordert als eine verspätete Repression. Es scheint mir, dass in Italien der Terrorismus und die politische Gewalt der 1970er-Jahre noch immer mit demselben kurzsichtigen und rachsüchtigen Blick betrachtet werden wie vor einige Jahrzehnten: Terroristen sind Ungeheuer, die ihre Schuld vor der Justiz begleichen müssen. Wenn das die Botschaft ist, die man denjenigen vermitteln will, die diese Jahre nicht erlebt haben, dann ist das die schlechteste Art, die Pflicht zur Vergangenheitsbewältigung zu erfüllen.

„Der italienische Staat hat kaum etwas getan, um Putschversuche, die sogenannte Strategie der Spannung und die neofaschistische Gewalt jener Jahre aufzuklären.“

In einem Essay über Geschichte, Erinnerung und Politik befassen Sie sich mit dem Verhältnis von Wahrheit und Gerechtigkeit. Die „Verrechtlichung der Vergangenheit“ (Henry Rousso) verhalte sich umgekehrt proportional zur Rede vom „Ende der Ideologien“, auf der der „kapitalistische Realismus“ (Mark Fisher) gründet. Ist das ein Schlüssel, der uns ermöglicht, die Polizeiaktion in Paris zu erklären?


Zu glauben, man könne juristisch auf die Ermordung Aldo Moros und seiner Leibwächter 1978 (Moro war damals Vorsitzender der Christdemokratischen Partei, Anm. d. Red.) sowie auf die von Calabresi reagieren, indem man die letzten aus Italien Geflohenen ins Gefängnis steckt, ist vor allem ein Ausdruck der Blindheit und des Unverständnisses. Südafrika schuf nach dem Ende der Apartheid eine Wahrheits- und Versöhnungskommission, die gerichtliche Untersuchungen und strafrechtliche Verurteilungen im Austausch für die Wahrheitsfindung ausschloss. Dem südafrikanischen Beispiel folgten viele Länder, vor allem in Lateinamerika. Diese historischen Erfahrungen sind natürlich nicht direkt mit der Situation in Italien vergleichbar, aber das Modell bleibt nützlich, um, wie es heißt, die Vergangenheit zu bewältigen. In Italien ist das nie diskutiert worden. Die Einzigen, die über ihre Erfahrungen berichtet haben, sind die ehemaligen Brigadisten. Der Staat hat auch kaum etwas getan, um Putschversuche, die sogenannte Strategie der Spannung und die neofaschistische Gewalt jener Jahre aufzuklären, die viel mehr Opfer forderte als der Terrorismus der Linken.

In einem Essay von 2007 erinnern Sie sich an Ihre Erfahrungen als „revolutionärer Militanter“ in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Fehlt in der gegenwärtigen Debatte der Kontext? Gegen wen und warum kämpften diese Männer und Frauen?


Ja, der Kontext fehlt: Wir sprechen über Ereignisse, die mehr als 40 Jahre zurückliegen, also zwei Generationen, die aber noch nicht historisiert sind. Sie sind nicht Teil einer Vergangenheit geworden, deren Profil bekannt ist und der man einen Sinn zuschreiben kann. Die aus Italien Geflohenen haben ihre Existenz unter schwierigen Bedingungen neu aufgebaut und ihre Erfahrungen reflektiert. Die Opfer und ihre Familien werden mit ihrer Trauer alleingelassen. Aber Historisierung bedeutet, über Gefühle hinauszugehen. Das ist die Voraussetzung dafür, dass dieselben Gefühle in einem kollektiven Raum Akzeptanz finden, im historischen Bewusstsein, dass ein Zyklus abgeschlossen ist. Mein Eindruck ist, dass in Italien die Justiz ein Hindernis für diese Art der Aufarbeitung der Trauer war. Die politische Gewalt der 1970er-Jahre war Teil einer politischen Ära, die mit einer Niederlage der Linken, der Arbeiterbewegung und der alternativen Bewegungen endete. Diese Niederlage ist nie aufgearbeitet worden. Diese Vergangenheit wurde entfernt. Dadurch sind die bleiernen Jahre verschluckt worden, sie sind in die Chroniken sowie in unvollständige oder unerforschte Archive eingegangen, nicht in unser historisches Bewusstsein. Ich möchte der persönlichen Frage nicht ausweichen, auch wenn sie zweitrangig ist. Ich habe 1973 an meiner ersten Demonstration teilgenommen, da war ich 16 Jahre alt. Ich habe den bewaffneten Kampf immer kritisiert, nicht aus Prinzip, sondern weil er mir strategisch und taktisch falsch erschien. Ab 1979 bestand ein großer Teil meiner politischen Tätigkeit in der Teilnahme an Versammlungen und Demonstrationen gegen die Repression. Rückblickend ist es nicht nur offensichtlich, dass der Schritt zum bewaffneten Kampf verheerend und selbstmörderisch war, sondern auch, dass er erheblich dazu beigetragen hat, die damaligen Protestbewegungen zu begraben und einen diffusen politischen Konflikt einzufrieren. Die „Roten Brigaden“ verstanden sich als Avantgarde und praktizierten die sogenannte Propaganda der Tat, um die sozialen Kämpfe zu radikalisieren. Nach und nach verwandelten sie sich in eine klandestine, von den Bewegungen getrennte Organisation, die ihren Krieg allein gegen den Staat führte. So gerieten sie in eine Spirale, deren Ergebnis nur ihre Vernichtung durch den Staat sein konnte.

Haben die Verhaftungen vom 28. April in Ihren Augen mit den bevorstehenden französischen Präsidentschaftswahlen zu tun oder ergeben sie sich aus der inneren Dynamik der italienischen Politik?


Ich glaube, dass die aus Italien Geflohenen Gegenstand eines sehr niederträchtigen politischen Kuhhandels sind. Ministerpräsident Mario Draghi will beweisen, dass er in wenigen Wochen etwas erreichen kann, was italienische Regierungen seit Jahren gefordert hatten – ein kluger Schritt im Hinblick auf seine mögliche baldige Wahl zum Staatspräsidenten. Emanuel Macron will im Hinblick auf eine mögliche Wiederwahl bekräftigen, dass er eine autoritäre Wende vollzieht. Das bringt ihn dazu, sich repressiver zu zeigen als die Rechte, sogar als die extreme Rechte. Keine Nachsicht für Terroristen, auch nicht für solche, die seit über 40 Jahren keine Terroristen mehr sind, nie untergetaucht sind und die Gesetze Frankreichs respektieren, des Landes, in dem sie seit Jahrzehnten legal leben. Niemand in Frankreich, nicht einmal Marine Le Pen, hat ihn gebeten, die italienischen Geflüchteten auszuliefern.

Der 1957 im italienischen Piemont geborene Enzo Traverso ist Historiker und arbeitet an der Cornell University in Ithaca, New York. Zuvor lebte und arbeitete er seit den 1980er-Jahren in Paris. Dort war er Mitglied der „Ligue communiste révolutionnaire“ (LCR). Zuletzt veröffentlichte er unter anderem das Buch „Left-Wing Melancholia: Marxism, History, and Memory“ bei Columbia University Press (2017).

Das Interview wurde gekürzt und redaktionell bearbeitet. Es wurde zuerst auf der Website des Vereins „Storie in Movimento“ (Geschichte in Bewegung) veröffentlicht (storieinmovimento.org). Übersetzung aus dem Italienischen: Federica Matteoni.

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