Der Kampf der Kartelle prägt die Gesellschaften Mexikos und Zentralamerikas auf kaum noch zu durchschauende Weise. Der Band „TerrorZones“ bündelt Reportagen, Interviews und Analysen und ermöglicht so einen umfassenden Einblick.
In der Nacht vom 26. auf den 27. September 2014 stoppen Polizisten in der Stadt Iguala im mexikanischen Bundesstaat Guerrero 43 Studenten. Es sind die Teilnehmer eines Lehramtsseminars aus dem Dorf Ayotzinapa. Die Polizisten schießen. Sechs Menschen sterben. Die anderen werden festgehalten und den Mitgliedern eines Drogenkartells überlassen. Seither sind sie verschwunden. Die Gangster sollen die Studenten getötet und ihre Leichen auf einer Müllhalde verbrannt haben. So lautet die offizielle Version.
Aus der Sicht der Polizei ist der Fall abgeschlossen. Doch das ist er noch lange nicht. Die spanische Tageszeitung „El Pais“ findet heraus, dass der militärische Geheimdienst Mexikos in die Aktion der Polizei eingeweiht war. Die Nachricht von den schlampigen und verschleppten Ermittlungen führt in Ciudad de Mexico zu ersten Demonstrationen. Es werden nicht die letzten sein.
Der Fall Iguala beziehungsweise Ayotzinapa ist der Ausgangspunkt von „TerrorZones – Gewalt und Gegenwehr in Lateinamerika“. Die Geschichte vom Schicksal der getöteten und „verschwundenen“ Lehramtsstudenten zeigt, wie die „violencia“ in Mexiko eskaliert ist. Das aus 23 Beiträgen bestehende Buch beschreibt auf 251 Seiten in Form von Reportagen, Interviews, Berichten und Analysen das Phänomen fortschreitender Gewalt in Mexiko und anderen lateinamerikanischen Ländern. Schon der 2012 erschienene Band „Narco-Zones. Entgrenzte Märkte und Gewalt in Lateinamerika“ thematisierte den mexikanischen Drogenkrieg. Mit „TerrorZones“ haben die HerausgeberInnen ihre Arbeit auf bewährte Art und Weise weitergeführt.
Ayotzinapa hat über die Grenzen Mexikos hinaus Aufsehen erregt und die dramatische Situation des Landes verdeutlicht. Gottseidank habe es die Entführung der Studenten gegeben, wird die Frau eines Polizisten zitiert, der seit Jahren „verschwunden“ ist. Die mexikanische Menschenrechtsanwältin Ana Lorena Delgadillo sagt, die Attacke von Iguala zeige „nichts anderes“ als das, was man seit Jahren in ihrem Land erlebe. Im Laufe der Proteste heißt es immer wieder „Fue el estado“ („Es war der Staat“). Für die Demonstranten ist klar, wer für das Massaker verantwortlich ist: die Staatsmacht, also Polizisten, Soldaten und Politiker, nicht zuletzt Präsident Enrique Peña Nieto.
Rund 25.000 Menschen gelten in Mexiko nach offiziellen Statistiken seit 2007 als „verschwunden“. Zum einen sind Mexikaner die Opfer, oft trifft es jedoch Männer und Frauen aus Guatemala, Honduras oder El Salvador, die auf ihrem Weg in die USA von Gangs entführt werden. Manche tauchen später in Massengräbern auf, andere gar nicht mehr.
All dies ist „keine grundlegend neue Qualität des Terrors“, heißt es in der Einleitung des Buches. Neu sei vielmehr, „dass der Terror diesmal ins grelle Scheinwerferlicht der Weltöffentlichkeit geriet. Und er hat erstmals ein Gesicht. Oder vielmehr 43 Gesichter.“ Zum Jahrestag von Ayotzinapa sind wieder Tausende auf die Straße gegangen, um zu demonstrieren.
„Die Kartelle sind systematisch in alle Teile des Staates eingedrungen.“
Der Begriff „Drogenkrieg“ reicht nicht mehr aus, die Gewalteskalation zu beschreiben. Es ist nicht mehr „nur“ ein Kampf konkurrierender Kartelle um Einflusszonen. Die mexikanische Wirklichkeit ist komplexer und kaum noch zu durchschauen. Es handelt sich um ein korruptes Geflecht aus Drogenkartellen, Politik, Polizei und Militär. Die Kartelle sind systematisch in alle Teile des Staates eingedrungen. Dabei stellt sich die Frage, ob die Regierung ihre Bürger nicht mehr schützen kann oder nicht mehr schützen will. Das Land steckt jedenfalls tief in einer institutionellen Krise.
Wenn bei den Demonstrationen „Todos somos Ayotzinapa“ (Wir alle sind Ayotzinapa) zu hören ist, bedeutet das „die Gewissheit, dass es jeden treffen kann“. Alle können Opfer werden. Die Gewalt ist willkürlich. Und sie ist unglaublich grausam: „Anfang 2009 wurde in Tijuana ein Mann festgenommen, der sich als el pozolero, ‚der Suppenkoch‘, ausgab. Er arbeitete für eine der kriminellen Organisationen, die in Tijuana ins Drogengeschäft verwickelt sind und sagte aus, mehr als 300 Menschen in Säure aufgelöst zu haben. Die Details, mit denen el pozolero die angewandten Vernichtungstechniken beschrieb, übersteigen jedes Maß an Grausamkeit.“
Die Täter begnügen sich nicht mehr damit, ihre Opfer auszulöschen, sondern führen sie regelrecht vor. Der Leichnam eines der Studenten wurde entsetzlich zugerichtet. Die Kulturwissenschaftlerin Anne Huffschmid, Mitherausgeberin des Buches, spricht von einer „Terrorkommunikation“ und „Spektakularisierung“ der Gewalt. Dies entspringe der Logik des Terrors, um „Dinge zu kommunizieren, Grenzen zu markieren, Botschaften zu versenden“, stellt die Autorin fest. Mord diene als Botschaft, mit der demonstrativ gezeigt werden solle, wer in Mexiko das Sagen hat.
Einerseits wird die Gewalt inszeniert, wie bei dem öffentlichen Zuschaustellen verstümmelter Leichen. Das Gegenstück ist das Verschwindenlassen der Opfer. Regierungsunabhängige Spezialisten der Forensischen Anthropologie aus Argentinien helfen in Mexiko, die Verbrechen zu rekonstruieren und den Toten ihren Namen zurückzugeben. Ihre „Knochenarbeit“ wird zur subversiven Praxis gegen das Vergessen. Erinnern wird zur Form des Widerstands. Im nordmexikanischen Tijuana hat das Projekt RECO aus einem Massengrab einen Ort des Erinnerns und schließlich auch des Widerstands geschaffen. Wo vorher Menschen in Säure aufgelöst worden waren, entstand ein Gemeinschaftszentrum, dessen Wände mit Kunstwerken versehen sind.
Wie gehen die Menschen in Mexiko mit der allgegenwärtigen Gewalt um? Wie beeinflusst der Terror ihren Alltag? Diesen Fragen geht das Buch nach. Aber auch jenen, wie es weitergeht. Droht Mexiko ein zweites Kolumbien zu werden? In Mexiko, „wo wir es zunehmend mit Bürgermilizen und Selbstbewaffnung zu tun haben“, schreibt Anne Huffschmid, ist ein dritter Akteur entstanden, wie einst die Paramilitärs in Kolumbien. Wie dort gehen die mexikanischen „autodefensas“ schwer bewaffnet gegen die Drogenkartelle vor. „Wo keine rechtsstaatlichen Verhältnisse bestehen und Verbrechen nicht verfolgt werden, wird sich Selbstjustiz notwendigerweise immer mehr durchsetzen“, schreibt der Journalist Wolf-Dieter Vogel, ebenfalls einer der Herausgeber. Die Milizen agieren außerhalb des Gesetzes. Sie sind selbst kriminell geworden, ein Beispiel der ambivalenten Dynamik von Gewalt und Gegengewalt.
Die verschiedenen Kapitel des Buches ergeben einen Überblick über die mexikanische Realität und erlauben zugleich eine tiefer gehende Auseinandersetzung mit einzelnen Themenbereichen. So ist Wolf-Dieter Vogel den Verbindungen des deutschen Waffenlieferanten Heckler & Koch nach Mexiko auf der Spur. Sowohl Polizisten als auch Drogenmafia verwenden die Gewehre des Rüstungskonzerns. Der Firma wird vorgeworfen, Anträge für den Export der Gewehre frisiert zu haben, indem sie Krisenregionen wie Guerrero durch friedliche Regionen ersetzten, für welche die Lieferungen angeblich bestimmt seien.
„Das Mexiko der Waffen fürchtet diejenigen, die anderen Lesen und Schreiben beibringen“, stellt Juan Villoro in seinem Beitrag „Hölle im Paradies“ fest. Der Autor reflektiert die Geschichte von Gewalt und Widerstand in Mexiko. Er erzählt von dem früheren Lehrer Lucio Cabañas. Das Massaker von Atoyac 1967 hatte ihn dazu gebracht, sich der Guerilla anzuschließen. Cabañas starb 1974 bei einer Schießerei mit der Armee. Schon damals war der Bundesstaat Guerrero der Schauplatz. Der Frage, „ob wir es in Mexiko mit einer gezielten Politik der Angst zu tun haben“, geht die Politikwissenschaftlerin Mariana Berlanga Gayón nach, während in Interviews mit drei Journalisten gezeigt wird, wie diese ihren lebensgefährlichen Beruf sehen, mit ihrer Verantwortung umgehen sowie die Gewalt darstellen können, ohne in Voyeurismus abzurutschen – und wie sie sich selbst schützen.
Zwangsläufig taucht die Frage auf, inwiefern es sich bei Ländern wie Mexiko um „failed states“ handelt.
Der Journalist Roberto Valencia beschreibt die Situation in El Salvador. Sein Text handelt von einer umstrittenen Befriedung in Acajutla. Dort, wo sich der wichtigste Hafen des kleinen zentralamerikanischen Landes befindet, das zugleich eines der gefährlichsten ist, ist die Mordrate gesunken. Allerdings ist nicht erwiesen, ob es der staatliche Friedensprozess war, der dazu führte oder die vorausgehende Liquidierung der Mara 18 durch die verfeindete Mara Salvatrucha. Nach wie vor gelten die Gesetze der Maras, der berüchtigten Gangs, die ein bestimmender Gewalt- und Machtfaktor in El Salvador sind. Unter anderem erpressen, entführen und ermorden sie Migranten auf deren Weg nach Mexiko und in die USA. Oft arbeiten korrupte Militärs und Polizisten mit ihnen zusammen. Auf diese Weise sollen schon mindestens 20.000 Migranten „verschwunden“ sein. Sie wurden Opfer von Raubmord und Sexualverbrechen. Es heißt, Mexiko sei ein „Massengrab für Transitmigranten“.
Ein Aspekt der Gewaltthematik ist die weit verbreitete Straflosigkeit. Darüber sprechen zwei der Herausgeber mit dem deutschen Menschenrechtsanwalt Wolfgang Kaleck, dem Generalsekretär des European Center for Constitutional and Human Rights. Der spanische Journalist José Luis Sanz beschreibt die Parallelwelt eines Gefängnisses in Honduras, in dem der Anführer ein Sozialsystem aufgebaut hat. Dessen Motto lautet: „Wenn einer den Frieden bricht, machen sie mit ihm auf der Stelle kurzen Prozess.“ Die Gefängnisleitung ist hauptsächlich damit beschäftigt, die Außenmauern abzusichern. Diese Parallelwelt und die damit verbundene Ohnmacht des Staates wirft zwangsläufig die Frage auf, inwiefern es sich bei den beschriebenen Ländern um „failed states“ handelt.
Wie schon „NarcoZones“ überzeugt „TerrorZones“ durch seine Vielfalt an Autoren, Gesichtspunkten und Blickwinkeln, mit denen die Thematik analysiert wird. Die Material- und Faktenfülle beeindruckt. Trotzdem bleibt manches ausgespart, zum Beispiel die Rolle des Militärs und die gesamtgesellschaftlichen Zusammenhänge der Gewalt in Lateinamerika. Es gibt noch weitere Aspekte aus anderen lateinamerikanischen Ländern wie die der Favelas in Brasilien oder der Gewaltsituation in den Cono-Sur-Staaten. Dies hätte womöglich den Rahmen gesprengt, bietet für die HerausgeberInnen aber vielleicht den Anlass für einen weiteren facettenreichen Band.
Wo bleibt noch Hoffnung? Sie keimt auf in den Demonstrationen, in der unermüdlichen, gefährlichen Arbeit der Menschenrechtsaktivisten und Journalisten. Organisiert oder im Handeln Einzelner. Die mexikanische Journalistin Marcela Turati beschreibt, wie der Lehramtsstudent Bernardo in Ayotzinapa allein in einem Gruppenschlafsaal wohnt. Seine sieben früheren Zimmergenossen gehörten zu den 43 Studenten, die in jener Nacht im September 2014 verschwanden. „Ich warte darauf, dass sie kommen“, rechtfertigt er sein Ausharren. „Deshalb bin ich nicht weggegangen. Ich weiß, dass sie dasselbe tun würden, wenn ich verschwunden wäre.“