Gewalt in der Medizin: Drahtseilakt Gynäkologie und Geburtshilfe

Gewalt in der Gynäkologie und bei der Geburtshilfe erfolgt sowohl psychisch als auch physisch. Die Betroffenen neigen zu Selbstzweifeln, während der Sektor auf die erschwerenden Umstände hinweist.

Wo liegen die Grenzen zwischen Small Talk, gut gemeinten Ratschlägen und der Missachtung des Entscheidungsrechts der Patient*innen? Die Meinungen der Gynäkolog*innen und der Patient*innen weichen oft voneinander ab. (Copyright: Internet Archive Book Images/Jentzer, A Bourcart, Maurice)

„Ich habe schon so viel von Ihnen gehört“, begrüßt ein Gynäkologe seine neue Patientin. „Ich freue mich, Sie endlich kennenzulernen. Ich kannte Ihren Vater.“ Er blättert durch ihre Akte. „Da wohnen Sie? Ein guter Freund wohnt gleich um die Ecke.“ Die Patientin hält das für Small Talk, damit das Eis bricht. Auch wenn ihr die Aussagen über ihr Privatleben zu weit gehen.

Der Arzt nennt sie bei einem zweiten Besuch eine wunderschöne Frau. „Schade, dass Sie keine Mutter sind“, sagt er während der Untersuchung. „In zwei, drei Jahren suchen Sie sich einen hübschen Kerl und kriegen Kinder.“ Dabei will sie keine Kinder. Sie will auch nicht mit Spirale verhüten. Der Arzt geht nicht auf ihre Frage nach Alternativen ein. Nein, er verschreibt ihr die Spirale trotzdem. Für alle Fälle. Das Rezept wirft die Patientin zuhause in den Müll. Sie ist wütend, verunsichert, stellt ihre eigene Wahrnehmung in Frage. Übertreibt sie? Sie sucht Rat bei Freund*innen und Familie, die ihre Bedenken herunterspielen. „Typisch Frau: Nie darf man euch Komplimente machen“, wirft ihr jemand vor. Sie fühlt sich ohnmächtig, obwohl sie im Alltag eine Person ist, die Paroli bietet. In der Praxis nicht. Dort ist sie angreifbar, den Beurteilungen des Arztes unterworfen. Dadurch, dass es keine körperliche Gewalt gab, hat sie den Eindruck, nichts gegen ihn in der Hand zu haben. Sie hat sich für einen Praxiswechsel entschieden, weil ihr eine Beschwerde sinnlos erschien.

So wie ihr geht es vielen Frauen. Unter dem Hashtag „Paye ton gynéco“ oder „Balance ton médecin“ tragen sie sexistische, physische oder psychische Gewalt- und Missbrauchs-erfahrungen bei gynäkologischen Untersuchungen auf unterschiedlichen sozialen Netzwerken nach außen. Nach einer Definition des französischen „Haut Conseil à l’Égalité entre les femmes et les hommes“ (HCE) kann sich solche Gewalt in Gesten, Kommentaren, Behandlungsvorschlägen oder Praktiken äußern, die das Entscheidungsrecht der Patient*innen über den eigenen Körper einschränken. Sei es durch die Wertung ihrer Lebensweise, sei es durch Eingriffe, die nicht abgesprochen oder durch die Weitergabe von Informationen, die nicht erfragt wurden. Die Gewalt wird oft unbewusst vom medizinischen Personal verübt, wie der HCE in einem 2018 veröffentlichten Bericht zum Thema festhält. Dies wird auch in Nina Faures Dokumentarfilm „Paye (pas) ton gynéco“ deutlich, der gynäkologische Gewalt in Frankreich darstellt.

Faure gibt Betroffenen, aber auch Gynäkolog*innen das Wort. In dem Film wehrt sich Israël Nisand, Präsident des „Collège national des gynécologues et obstétriciens français“ gegen die erhobenen Vorwürfe. „Wenn ich das Radio einschalte und höre, dass Gynäkologen und Geburtshelfer morgens wach werden, um Frauen zu missbrauchen“, sagt er, „habe ich den Eindruck, eine kollektive Schuldzuweisung zu erleben.“ Pit Duschinger, Präsident der „Société luxembourgeoise de gynécologie et d‘obstétrique“ (SLGO) sieht das anders: „Wir nehmen uns Kritik sehr zu Herzen.“ Medizinisches Personal sei heute viel besser für die Problematik sensibilisiert. „Vorwürfe, dass Menschen sich von ihrem Gynäkologen vergewaltigt, misshandelt oder verletzt fühlen, treffen uns hart. Es ist uns wichtig, auf angemessene Weise darauf zu reagieren.“ Für die Empörungswelle, die zurzeit in den sozialen Netzwerken zu beobachten sei, habe er Verständnis, sie solle aber nicht als „einzige Wahrheit“ angesehen werden, weil es immer mal Phasen gebe, in denen sich mehr beschwert werde, in anderen wieder weniger. Die Sensibilitätsschwelle der Patient*innen sei in den letzten Jahren stark gesunken: „Menschen fühlen sich viel schneller angegriffen, missverstanden oder belästigt.“ Diese Tendenz zeige sich nicht nur in der Geburtshilfe, sondern in allen medizinischen Bereichen.

Umgang mit queeren Patient*innen

Auch wenn die Sensibilität für die Problematik generell angestiegen ist, so besteht unter anderem für queere Personen immer noch ein erhöhtes Risiko, gynäkologische Gewalterfahrungen zu erleben. Das führt etwa dazu, dass sich manche Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder ihrer Geschlechtsidentität gar nicht erst in eine Gynäkologiepraxis trauen. Die Soziologin Enrica Pianaro vom „Centre d’information gay et lesbien“ (Cigale) berichtet, dass sie schon queere Frauen über 40 getroffen hat, die noch nie gynäkologisch untersucht wurden. Ein Grund dafür ist, dass manche Gynäkolog*innen eine gewisse Sensibilität vermissen lassen, wenn es um die Sexualität und Bedürfnisse ihrer Patient*innen geht. Durch eine Frage wie „Warum nehmen Sie die Pille nicht? Wollen Sie etwa schwanger werden?“, fühlen sich queere Patient*innen zum Outing gezwungen. Aussagen wie „Sie sind lesbisch? Sie wissen, dass Sie Sexspielzeuge sauber halten müssen?“, sind verbale Übergriffe, weil sie aus einer sexuellen Orientierung Sexualpraktiken herleiten und Bezüge herstellen, die Patient*innen die Möglichkeit entziehen, selbst zu bestimmen, was sie preisgeben und welche Informationen sie erhalten wollen. Pianaro weiß, dass einige Gynäkolog*innen bei Lesben keine Abstriche zum Nachweis sexuell übertragbarer Krankheiten machen, weil sie von einem geringen Erkrankungsrisiko ausgehen – ein medizinischer Mythos, der sich hartnäckig hält. Auch seien die wenigsten Gynäkolog*innen über Verhütungsmittel bei gleichgeschlechtlichem Sex zwischen Frauen, wie etwa Lecktücher oder Latexhandschuhe, informiert.

In diesem Punkt klaffen die Wahrnehmungen auseinander: Pit Duschinger beteuert, dass Gynäko-
log*innen, was den Umgang mit homosexuellen oder trans Patient*innen angeht, adäquat sensibilisiert seien. Enrica Pianaro aber sagt: „Im medizinischen Bereich haben wir bis dato keinen Fuß in die Tür gekriegt. Anders als im Bildungssektor, wird unser Fortbildungsangebot im Kontext von Queerness und Gesundheit nicht genutzt.“ Für Pianaro sind Desinformation und die zuvor beschriebene, ausbleibende Behandlung weitere Formen von Unsichtbarmachung, die besonders queere Frauen betrifft und als Gewalt empfunden werden kann. „Wir haben bisher noch keine Beschwerden von trans Menschen erhalten, die sich einer gynäkologischen Untersuchung unterzogen haben“, sagt sie außerdem. „Ich gehe aber davon aus, dass ein Großteil der trans Menschen den Besuch in einer Gynäkologiepraxis vermeidet, aus Angst, im Wartesaal wertenden Blicken ausgesetzt zu sein.“

Pianaro reagiert wütend auf die von manchen Ärzt*innen geäußerten Unschuldsbeteuerungen: „Es spielt keine Rolle, ob die Gynäkolog*innen die Kritik an ihrer Arbeit für gerechtfertigt halten oder nicht: Die entscheidende Instanz ist und bleibt die behandelte Person. Es ist implizite Gewalt, wenn ein*e Gynäkolog*in die Patient*innen nur als Gebärmaschine wahrnimmt und ihnen das Entscheidungsrecht über den eigenen Körper durch unangebrachte, wertende Kommentare abzunehmen versucht.“ Diskriminierende Ideologien hätten in einer Praxis nichts zu suchen, sagt Pianaro.

Auch die SLGO vertritt eine klare Haltung hierzu. „Unangebrachte Bemerkungen und Eingriffe in die Privatsphäre sind zu unterbinden, gar keine Frage. Die Gynäkologie ist einer der delikatesten Bereiche in der Medizin und es ist essenziell, dass sie ethisch einwandfrei praktiziert wird“, sagt Duschinger. Nichts liege ihm ferner, als Fehlverhalten zu verteidigen. „Ziel eines jeden Gynäkologen muss darin bestehen, weder körperliche, noch psychische Schmerzen zuzufügen.“ Eine gynäkologische Untersuchung dürfe auf keinen Fall wehtun. Tue sie das doch, müsse die Methode angepasst werden. Ärzt*innen, die das nicht respektierten, seien fehl am Platz.

Bei der Geburt bleibt oft wenig Zeit, um über Eingriffe zu sprechen. Kommunikation ist dennoch wichtig. (Copyright: Jonathan Borba)

Umgang mit Schwangeren

In Luxemburg gibt es keine offiziellen Zahlen bezüglich Gewalt in der Gynäkologie oder bei der Geburt. Auch etwaige Klagen werden nicht systematisch dokumentiert. Das Gesundheitsministerium ist sich der Problematik allerdings bewusst. Die Ausmaße seien allerdings schwer einzuschätzen. Viele Frauen wüssten nicht, dass sie Gewalt erlebt hätten und würden dementsprechend auch keine Beschwerde oder Klage einreichen. Das geht aus der Antwort auf eine parlamentarische Anfrage hervor, die Gusty Graas (DP) im Oktober an das Gesundheitsministerium richtete. Jérôme Jomé spricht stellvertretend für Etienne Schneider von „pratiques lors de l’accouchement comme l’épisiotomie, la douleur non prise en charge, la compression abdominale, touchers vaginaux excessifs ou lors d’anesthésie, manque d’informations données aux femmes…“.

In der Tat taucht die Problematik der gynäkologischen Gewalt nicht nur in gewöhnlichen Kontrolluntersuchungen auf, sondern auch während der Schwangerschaft und der Geburt. Eliane Streitz, Mitarbeiterin der Initiativ Liewensufank, sagt, die Erfahrungen schwangerer Personen seien unterschiedlich. Viele seien zufrieden mit ihren Gynäkolog*innen. Leider sei das nicht immer so: „Wenn man nur zur gewöhnlichen Kontrolle zum Gynäkologen geht, ohne spezifische Fragen zu haben, merkt man nicht unbedingt, dass es an der Kommunikation hapert und das Zwischenmenschliche nicht funktioniert.“ Sei eine Person schwanger, könne sie feststellen, dass zu wenig Raum für Fragen gelassen und nicht adäquat auf Ängste reagiert werde.

Bei der Geburt würde die empfundene Misshandlung ein breites Spektrum abdecken. „In dem Moment ist die Person verletzlich, was es umso wichtiger macht, dass sie sich respektiert fühlt und ihre Würde gewahrt wird. Nicht nachvollziehen zu können, warum bestimmte medizinische Eingriffe gemacht werden, kann eine traumatische Erfahrung sein.“ Auch wenn eine Notsituation entstehe, sei es deshalb wichtig, dass medizinisches Personal nicht einfach handele, sondern erst ankündige, was passiert.

Während der Geburt bleibe für umfassende Erklärungen jedoch meist keine Zeit. Deshalb sei es wichtig, dass werdende Eltern schon im Vorfeld möglichst umfassend darauf vorbereitet seien, wie eine Geburt abläuft. „Ob ein ungeplanter Kaiserschnitt als traumatisch erlebt wird oder nicht, hängt davon ab, wie Schwangere und ihr Partner oder ihre Partnerin sich darauf vorbereitet haben.“ Da ungefähr jede dritte Geburt per Kaiserschnitt erfolge, werde diese Entbindungsart in jedem Geburtsvorbereitungskurs der Initiativ Liewensufank thematisiert.

Wie wichtig eine umfassende Vorbereitung ist, weiß auch Yolande Klein, Vizepräsidentin der „Association luxembourgeoise des sages-femmes“ (ALSF): Eine Person, die kurz vor einer Geburt stehe, sei wenig aufnahmefähig. „Selbst wenn ein Gynäkologe ihr sein Vorgehen im Detail erklärt, bekommt sie das in dem Zustand, in dem sie ist, oft nicht richtig mit. Genau daraus entsteht oft anschließend das Gefühl, nicht respektiert worden zu sein.“

Eine noch etwas andere Perspektive vertritt Pit Duschinger. Manche Patient*innen würden in Folge eines Geburtshilfekurses eine schriftliche Auflistung dessen in die Maternité mitbringen, was bei ihrer Entbindung nicht gemacht werden dürfe. Das würde zum Teil für Anspannungen sorgen, wenn die Wünsche nicht im besten Interesse des Kindes seien. „Wir kommen den Wünschen der Patient*innen bereitwillig entgegen. Diese müssen aber auch Verständnis haben, wenn nicht alles ihren Vorstellungen entsprechend umgesetzt werden kann.“

In manchen Fällen komme es zu „wirklicher Gewalt“, erklärt Eliane Streitz: „Es gibt Situationen, die sind objektiv gesehen nicht in Ordnung, weil das Verhalten des Personals übergriffig und rücksichtslos ist.“ Beispiele dafür können medizinisch ungerechtfertigte, ohne explizites Einverständnis der Schwangeren vorgenommene Eingriffe oder Fehler sein, wie etwa ein in einer Dammschnittwunde vergessener Tupfer. Solch extreme Fälle seien aber Ausnahmen, wie Yolande Klein präzisiert. Gewalt bei der Geburtshilfe werde indes in den Krankenhäusern viel thematisiert. In Arbeitsgruppen und Versammlungen komme sie regelmäßig zur Sprache; Auszubildende würden während ihrer Praktika systematisch dafür sensibilisiert. Auch Weiterbildungen zur Problematik würden hierzulande angeboten.

Copyright: Internet Archive Book Images/Jentzer, A Bourcart, Maurice

Worin sich viele im Sektor einig sind, ist, dass manche der bestehenden Probleme auf Personalmangel zurückzuführen seien. „Die Forderung der Weltgesundheitsorganisation, jeder Person eine oder ein paar von ihr ausgewählte Personen zur Seite zu stellen, die sie durchgängig während der ganzen Schwangerschaft sowie während und nach der Geburt betreut, wird im Moment in Luxemburg nicht erfüllt. Dafür fehlt es an dem nötigen Personal“, erklärt Yolande Klein. Zurzeit werde man von der Schwangerschaft bis zur Geburt von vielen unterschiedlichen Menschen betreut und beraten. Schwangere werden in der Schwangerschaft von Gynäkolog*innen betreut, sie nehmen Geburtsvorbereitungskurse in der Maternité oder privat in Anspruch, sie treffen verschiedene Hebammen und vielleicht sind auch die Gynäkolog*innen, die zur Geburt dazukommen, ihnen unbekannt. „Das ist ein großes Problem in der Geburtshilfe, denn dadurch ist es schwierig, Vertrauen zu den Personen aufzubauen, die an der Entbindung teilnehmen. Ich will sicherlich nichts entschuldigen. Aber so wie sich die Situation im Moment stellt, kann eine schwangere Person in den Stunden vor der Geburt selten durchgängig von ein und derselben Hebamme betreut werden.“ Diese müsse sich oft um mehrere Schwangere gleichzeitig kümmern.

Worin sich ebenfalls alle Akteur*innen einig zu sein scheinen, ist, dass die öffentliche Debatte aufgrund gegenseitiger Schuldzuweisungen nicht immer leicht ist. „Das ist sehr kontraproduktiv, immerhin will niemand mutwillig irgendjemandem schaden, so Klein“. Wenn es pauschal heiße, Gynäkolog*innen oder Hebammen gingen respektlos mit Schwangeren um, verhärte das die Fronten unnötig. Personen, die vor oder während der Geburt schlechte Erfahrungen gemacht haben, rät Klein, sich in einem ersten Schritt an den Menschen zu richten, dem die Kritik gelte: „Es ist wichtig, darüber zu sprechen, denn wenn sich der Arzt oder die Hebamme keines Fehlverhaltens bewusst ist, kann sich auch nichts ändern.“ Beziehe sich die Kritik eher auf logistische Faktoren, bestehe die Möglichkeit, dies dem Krankenhaus, der CNS oder dem Gesundheitsministerium mitzuteilen.

Das besagte Ministerium und die Gesundheitsdirektion sind sich einig, dass das medizinische Personal und die Bevölkerung stärker für die Problematik sensibilisiert werden müssen. Es wird derzeit darüber diskutiert, Gynäkologie, Geburtshilfe und Intergeschlechtlichkeit verstärkt in das Weiterbildungsangebot für medizinisches Personal einzubringen. Das Gesundheitsministerium hat beim Conseil Scientifique ein Gutachten in Auftrag gegeben. Entsprechende Empfehlungen sollen im nächsten Jahr vorliegen.


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