Nicht die berüchtigten Schleuser, sondern kriminelle Gangs und bewaffnete Banden profitieren laut einer neuen UN-Studie primär von einer auf Abschottung basierenden Flüchtlingspolitik. Außerdem zeigt sich: Die Durchquerung der Sahara ist noch weit gefährlicher als die Fahrt übers Mittelmeer.

Unser Foto ist zehn Jahre alt, aber das Problem ist dasselbe geblieben: Am 3. Mai 2014 wurden rund 300 Flüchtlinge gerettet, die von ihren Schleusern in der Wüste nahe der sudanesisch-libyschen Grenze zurückgelassen worden waren. (Foto: EPA/STR)
EU-Politiker*innen, die glauben, dass eine effektive Abschottung gegen Flüchtlinge vor allem durch deren Abschreckung funktioniert, lesen Sätze wie die folgenden ja womöglich sogar gern: „Ehrlich gesagt hatte ich keine Ahnung von der Reise. Hätte ich von den Strapazen gewusst, wäre ich in meinem Land geblieben. Ich würde lieber in Somalia sterben als anderswo.“
Mit dieser Aussage des jungen Saeed über seine Fluchterfahrung beginnt ein Bericht darüber, was Menschen auf dem gefahrvollen Weg durch Afrika und über das Mittelmeer nach Europa widerfährt. Es ist ein wahres Horrorkompendium, das vom UN-Flüchtlingshochkommissariat (UNHCR), der „Internationalen Organisation für Migration“ (IOM) und dem „Mixed Migration Centre“ (MMC) herausgegeben und am Donnerstag vergangener Woche veröffentlicht worden ist: Folter, körperliche Gewalt, oft auch sexuell und geschlechtsspezifisch ausgeübt, Entführung zur Erpressung von Lösegeld, Menschenhandel, Raub, willkürliche Inhaftierung, kollektive Abschiebung und unerlaubte Zurückweisung durch den Grenzschutz – die Liste des Schreckens ließe sich beliebig erweitern.
Verübt werden diese Taten allerdings nicht in erster Linie von Schleusern, sondern von kriminellen Banden und bewaffneten Gruppen. Erst an dritter Stelle werden von Flüchtlingen und Migrant*innen, denen entsprechendes widerfahren ist, die Menschenschmuggler als Tätergruppierung genannt. Danach folgen verschiedene staatliche Behörden. Mehr als 31.000 Flüchtlinge und Migrant*innen wurden für den Report mit dem Titel „Auf dieser Reise kümmert es niemanden, ob du lebst oder stirbst“ befragt.
Die Studie versucht außerdem, das Gefahrenpotenzial der unterschiedlichen Fluchtrouten, die durch Afrika führen und eine Überfahrt durchs zentrale Mittelmeer nach Europa zum Ziel haben, zu bewerten. Eines der schockierenden Ergebnisse: Offenbar kommen auf dem Weg durch die Wüste noch weit mehr Menschen ums Leben als bei der Fahrt in nicht seetüchtigen Booten übers Meer. Zwischen Januar 2020 und Mai 2024 sind laut IOM 7.380 Personen im zentralen Mittelmeer ertrunken, während der Überfahrt gestorben oder wurden vermisst gemeldet; 1.180 seien im selben Zeitraum bei der Durchquerung der Wüste gestorben. In beiden Fällen gibt es jedoch eine hohe Dunkelziffer; der Bericht geht davon aus, dass die Zahl der Wüste ums Leben gekommenen mindestens doppelt so hoch ist wie jene der im Mittelmeer Ertrunkenen. Dabei machen Autounfälle (42 Prozent) neben den widrigen Umweltbedingungen (24 Prozent), Dehydrierung, Hunger und der Anwendung von physischer Gewalt (12 Prozent) die Hauptursache für die Todesfälle zu Lande aus. Die Urheber der Studie haben diesem bislang wenig beachteten Aspekt unter dem Titel „Death in the desert“ („Tod in der Wüste“) im Internet eine anschauliche Datenvisualisierung gewidmet.
Profiteure der EU-Politik
Verhältnismäßig „weniger gefährlich“ sind laut dem Bericht in mancherlei Hinsicht jene Fluchtrouten, die durch Länder der „Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft“ (Ecowas) führen. Dort können sich Staatsangehörige der Ecowas-Mitgliedsstaaten frei zwischen den Ländern bewegen, sofern sie über einen gültigen Personalausweis verfügen. Auf wen das allerdings nicht zutrifft, muss gegebenenfalls doch die Dienste von Schleusern in Anspruch nehmen.
Mehrere Länder werden als besonders gefährlich eingestuft. „Im Tschad, in Libyen, in Mali, im Niger und im Sudan durchqueren Flüchtlinge und Migranten zunehmend Gebiete, in denen aufständische Gruppen, Milizen und andere kriminelle Akteure operieren, was die Gefahr des Menschenhandels, der Entführung zur Erpressung von Lösegeld und der Zwangsarbeit, einschließlich der Ausbeutung in informellen Goldminen, erhöht“, wie es in der Studie heißt. Dort wird beispielsweise auch eine geflüchtete Person zitiert, die ihrer Familie vor Fluchtantritt Geld hinterlassen hat, damit diese gegebenenfalls Lösegeld bezahlen kann.
Eine Sache thematisiert der Bericht, der unter anderem die Schaffung sicherer Fluchtrouten fordert, allerdings nicht: wie die Abschottungspolitik der Europäischen Union und deren Abkommen und Kooperation mit Staaten wie Tunesien und Libyen den Gewaltunternehmern der Gangs und Banden in die Hände spielt.
Laut dem Anfang Juni dieses Jahres veröffentlichten Weltflüchtlingsbericht des UNHCR waren Ende 2023 insgesamt 117,3 Millionen Menschen auf der Flucht – 8,8 Millionen mehr als im Jahr zuvor.