Interview: David Angel/Natali Rangel
Das Abkommen zwischen EU und Türkei legt fest, dass Flüchtlinge, die nach dem 20. März in Griechenland ankommen, in die Türkei zurückgeführt werden. Carole Reckinger war auf Lesbos und in Athen und hat sich ein Bild von der Lage vor Ort machen können.
woxx: Du warst schon mehrfach auf Lesbos, auch vor dem Abkommen mit der Türkei. Was hat sich seit dem 20. März verändert?
Carole Reckinger: Ich war das erste Mal im September 2015 da. Zu der Zeit sind sehr viele Boote auf den griechischen Inseln angekommen. Man konnte am Strand eigentlich ständig welche beobachten. Auf den Booten befanden sich in der Regel keine Schlepper, sondern nur Flüchtlinge, denen auf die Schnelle beigebracht worden war, wie man mit so einem Boot das Meer überquert. Das hat ein ziemliches Chaos ausgelöst, es sind Tausende von Leuten angekommen. Strukturen waren zu dem Zeitpunkt überhaupt keine vorhanden. Griechenland war ein Transitland, die meisten hatten nicht vor zu bleiben.
Das hat sich jetzt geändert…
Genau. Die Flüchtlinge, die vor dem 20. März angekommen sind, aber an der Weiterreise gehindert wurden, sitzen dort fest. Die Auffanglager für Flüchtlinge waren vor Inkrafttreten des Abkommens offen. Es gab sehr viele Freiwillige, die in diesen Lagern geholfen haben – bei der Essensverteilung, bei der Beschäftigung mit Kindern usw. Es gab offizielle, große Camps, die von großen NGOs geleitet wurden. Daneben gab es aber auch inoffizielle, wilde, in denen viele Freiwillige präsent waren. Auch das hat sich jetzt total geändert. Seit dem 20. März kommen eigentlich fast keine Boote mehr an. Die Küstenwache fängt die Boote schon auf dem Meer ab, sammelt die Leute ein und bringt sie an Land, zum Hafen. Dort warten schon Busse, die die Ankommenden in das geschlossene Camp von Moria transportieren.
Das Camp von Moria befindet sich auf Lesbos.
Ja. Moria ist ein typisches, mit Stacheldraht umzäuntes „Abschiebezentrum“, das eigentlich für „illegale“ Migranten vorgesehen ist.
„Die Flüchtlinge, die vor dem 20. März angekommen sind, aber an der Weiterreise gehindert wurden, sitzen dort fest.“
Konntest du dich denn mit Flüchtlingen vor Ort unterhalten?
Ja, aber nur mit solchen, die vor dem 20. März angekommen sind und darum nicht in geschlossene Camps gebracht wurden. Mit den Flüchtlingen, die in dem Camp von Moria untergebracht sind, gibt es eigentlich keinen Kontakt, was sehr bedenklich ist. Es ist sogar verboten, sich durch den Zaun mit ihnen zu unterhalten. Daneben gibt es auf dem Festland aber noch rund 45.000 Menschen, die vor dem 20. März eingetroffen sind, aber nicht weiterreisen können, weil die Balkanroute dicht ist. Die sind also jetzt gezwungen, ihren Asylantrag in Griechenland zu stellen … oder sich auf illegale Art durchzuschlagen.
Wie ist denn zurzeit die Stimmung unter den Geflüchteten vor Ort?
Was immer mehr zum Problem wird, ist die zunehmende Ungleichbehandlung von Menschen verschiedener Nationalitäten. Das Resettlement-Programm zum Beispiel richtet sich nur an Syrer; bei allem geht es vorrangig um die syrischen Flüchtlinge. Irgendwie entsteht gerade eine Art Zwei-Klassen-Gesellschaft unter den Flüchtlingen: die Syrer auf der einen Seite, die Iraker, Afghanen, Somalier auf der anderen. Dadurch entsteht zwangsläufig Neid, der dann teilweise für miese Stimmung sorgt. Für mich persönlich war das sehr schockierend. Wer Syrer ist, wird bevorzugt behandelt, hat viel mehr Chancen, dass sein Asylantrag wirklich geprüft wird. Ein afghanischer Menschenrechtsaktivist hingegen hat eher schlechte Karten. Mit dem EU-Türkei-Deal wird das natürlich nicht besser werden.
Gibt es Konflikte unter Flüchtlingen?
Davon hört man immer wieder … ich persönlich habe noch keine erlebt. Aber ich kann es mir leicht vorstellen: So viele Menschen die zum Warten gezwungen sind, von denen einige zudem auch noch bevorzugt behandelt werden, da entstehen zwangsläufig Konflikte.
Du hast auch einen Hungerstreik von pakistanischen Flüchtlingen erlebt.
Im geschlossenen Camp von Moria gab es tatsächlich einen Hungerstreik von rund hundert pakistanischen Flüchtlingen. Pakistaner sind mit unter den ersten, die zurückgeschickt werden. Es gibt viele, die im Falle einer Rückführung mit Selbstmord drohen.
Wie viele Flüchtlinge befinden sich denn überhaupt noch auf Lesbos?
Auf Lesbos zurzeit fast keine mehr, die nicht in den offiziellen Auffanglagern untergebracht sind. Es gibt zwar noch Camps, die von Freiwilligen und kleineren Organisationen geleitet werden, aber auch die sollen demnächst geschlossen werden. Die Insel wird geräumt. Ich habe einige wenige Flüchtlinge getroffen, die noch vor dem 20. März dort angekommen sind. Andere sind zwar danach eingetroffen, haben aber die erstbeste Gelegenheit genutzt, um abzuhauen und unterzutauchen.
„Wer Syrer ist, wird bevorzugt behandelt. Ein afghanischer Menschenrechtsaktivist hingegen hat eher schlechte Karten.“
Wie ist der Umgang der griechischen Behörden mit den Geflüchteten?
Ich kann es nicht mit Gewissheit sagen. Ich habe aber bisher keine Gewaltszenen erlebt und glaube auch, dass sich die Behörden zurzeit kein gewalttätiges Vorgehen erlauben können. Das UNO-Flüchtlingshilfswerk ist noch vor Ort, und auf der Insel wimmelt es nur so von Journalisten.
Das UNO-Flüchtlingshilfswerk hat angekündigt, sich nicht an Rückführungen in die Türkei zu beteiligen…
Das UNHCR ist noch im Camp von Moria präsent, weigert sich aber, an den Rückführungen in die Türkei teilzunehmen. Weil es sich nicht am Bruch internationalen Rechts mitschuldig machen will.
„Es gibt viele Flüchtlinge, die im Falle einer Rückführung mit Selbstmord drohen.“
Wie bewertest du die Entscheidung des UNHCR, aber auch von Ärzte ohne Grenzen, sich gewissermaßen zurückzuziehen?
Es ist schwierig, das zu beurteilen. Ich glaube, es ist gut, dass das Flüchtlingshilfswerk sich noch im Camp befindet und sozusagen den letzten Garanten für die Wahrung der elementarsten Menschenrechte darstellt. Ich kann aber auch sehr gut nachvollziehen, dass eine Organisation sich weigert, Komplizin bei einem Bruch internationalen Rechts zu sein. Andererseits ist es immer wichtig, dass „neutrale“ Beobachter vor Ort sind, und nicht nur Polizei und Armee. Ich glaube, das muss jede Organisation mit sich selber ausmachen. Aber es ist ein wirkliches Dilemma.
Gibt es denn neben den offiziellen Strukturen auch noch „wilde“ Camps auf Lesbos?
Alle offenen Camps, bis auf eines, sind aufgelöst worden. Die großen Hilfsorganisationen arbeiten immer mit staatlichen Stellen zusammen und können daher nicht einfach wilde Camps eröffnen. Auch die inoffiziellen Strukturen haben sich aufs Festland verlagert. Viele Freiwillige sind nach Idomeni weitergereist, dort, wo akut Hilfe benötigt wird. Übrigens sind dort auch Freiwillige aus Luxemburg vor Ort, die bei der Essensausgabe helfen, mit den Kindern spielen usw. und die, was sehr wichtig ist, einfach ein offenes Ohr für die Menschen haben. Ich glaube, das ist fast einer der wichtigsten Aspekte. Es ist sehr positiv für die Flüchtlinge, zu sehen, dass es solidarische Menschen gibt.
„Man kann die griechische Regierung nicht für die Lage in Idomeni verantwortlich machen.“
Wie ist die Stimmung unter den Freiwilligen?
Die Freiwilligen kommen aus aller Welt, aus allen sozialen Schichten und allen Alterskategorien. Alle haben mehr oder weniger das gleiche Ziel, was natürlich verbindet. Wie gesagt, auf der Insel sind aber fast keine Freiwilligen mehr. Auf dem Festland werden aber auch die informellen Camps geschlossen, sowohl in Idomeni als auch in Piräus. Die Flüchtlinge sollen jetzt alle in staatlich geführten Einrichtungen, ehemaligen Militärkasernen zum Beispiel, untergebracht werden. Die Arbeit der Freiwilligen in Griechenland wird in ein paar Monaten wohl fürs Erste vorbei sein.
Die griechische Regierung gibt vor, die Menschenrechte so gut wie nur möglich achten zu wollen. Spürt man vor Ort etwas davon?
Griechenland ist völlig überfordert und alleingelassen. Dabei geht es nicht mal nur um die Finanzmittel, sondern auch um die Infrastruktur. Die ganzen Strukturen müssen ja erst mal ausfindig gemacht und umgebaut oder überhaupt ganz aus dem Boden gestampft werden. Man kann deswegen auch die griechische Regierung nicht für die Lage in Idomeni verantwortlich machen. Griechenland leidet immer noch sehr stark unter der Austerität, viele Griechen befinden sich in einer prekären Lage und sind jetzt mit Menschen in noch prekärerer Lage konfrontiert.
Während du im Hafen von Piräus warst, fand dort eine Demo von Neonazis statt.
In der Tat: Die rechtsextreme Partei „Golden Dawn“ („Goldene Morgenröte“) hatte zu dem Zeitpunkt, als ich da war, zu einer Demo gegen das Flüchtlingscamp von Piräus aufgerufen. Ein paar hundert Neonazis sind aufmarschiert, und ihr Auftreten war ausgesprochen angsteinflößend. Es gab nationalistische Gesänge und viel Gebrüll. Auch Journalisten wurden angegriffen, zwei wurden zusammengeschlagen. Ich muss ehrlich sagen, ich war noch nie so froh über die Anwesenheit von Polizisten in voller Kampfmontur. Zum Glück sind die Nazis aber nicht bis zu den Flüchtlingen vorgedrungen, sonst hätte das alles sehr übel ausgehen können.
„Viele Menschen in Griechenland haben gelernt, sich selber und anderen zu helfen.“
Die griechische Bevölkerung wird oft als besonders hilfsbereit dargestellt. Wie ist deine Einschätzung?
Ich habe natürlich fast nur Leute getroffen, die vor Ort helfen. Viele von denen sind der Meinung, Griechenland sei von Europa in den Ruin getrieben worden. Es gibt keine Arbeit, eine soziale Infrastruktur ist quasi inexistent. Das Positive daran ist aber, dass viele Menschen gelernt haben, sich selber und, vor allem, sich gegenseitig zu helfen. Es gibt mittlerweile eine große Zahl von Graswurzelstrukturen. Jetzt kommen Menschen dort an, die in einer ähnlichen Situation sind, oder denen es sogar noch schlechter geht. Viele Griechen sagen sich: Wenn wir uns auf diese Art helfen können, können wir auch den Flüchtlingen helfen. Das ist natürlich nicht bei allen so. Aber das ist schon ein Unterschied, zum Beispiel zu Luxemburg. Wir haben in Luxemburg nie gelernt, uns selber zu helfen. In Griechenland hat sich der Staat schon länger zurückgezogen, und die Menschen haben gelernt, damit umzugehen, zusammenzuarbeiten, solidarisch zu sein. Das löst auch eine gewisse Euphorie aus und ist schon sehr beeindruckend.
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