Im Kino: Das Lehrerzimmer

Eine Lehrerin versucht, alles richtig zu machen, macht dann jedoch einen folgenreichen Fehler. „Das Lehrerzimmer“ entzieht sich einer eindeutigen Lesart, gerade das macht den Film so spannend.

Carla wird nicht müde, ihre Kolleg*innen zu tadeln. Aber macht sie wirklich alles besser? (© Filmcoopi)

Eine Reihe von Diebstählen an einem Gymnasium sorgt bei der Belegschaft für Anspannung und Paranoia. Zu wie vielen es bereits gekommen ist, erfahren die Zuschauer*innen nicht, die Ernsthaftigkeit, mit welcher auf das Problem reagiert wird, soll uns aber vermitteln: Hier liegt etwas gewaltig im Argen.

Erzählt wird aus der Perspektive der erst seit Kurzem an der Schule unterrichtenden Mathematik- und Sportlehrerin Carla Nowak (Leonie Benesch). Die Strategie, die Klassensprecher*innen Lukas und Maren dazu zu bewegen, den*die Schuldige*n zu verpfeifen, ist ihr, wie sie klarstellt, zutiefst unangenehm. Sie ist eine Empathin und als solche stets darauf bedacht, ein mögliches Unwohlsein ihrer Schüler*innen zu antizipieren und im Keim zu ersticken. Doch so herausragend sie auch als Pädagogin ist: Wenn es darum geht, über ihren Arbeitsalltag hinausgehende Konflikte zu lösen, ist sie schnell heillos überfordert.

Wenn sie in einer der ersten Szenen im Rahmen ihres Unterrichts fragt, „Ist das ein Beweis oder eine Behauptung?“ scheint das bereits das Thema des Films vorwegzunehmen. Wir ahnen, dass es bei der Suche nach dem*der Dieb*in zu haltlosen, wahrscheinlich rassistisch motivierten Beschuldigungen kommen wird, woraufhin Carla an die Notwendigkeit, die nötigen Beweise zu erbringen, erinnern wird. Das stimmt aber nur zum Teil, denn, was Filmemacher Ilker Çatak mit „Das Lehrerzimmer“ liefert, ist weitaus komplexer.

Verschiedene Lesarten

Zu haltlosen Beschuldigungen kommt es durchaus und Carla findet das erwartungsgemäß ganz schlimm (mehr sei an dieser Stelle nicht über die Handlung verraten). Doch obwohl sie nicht an Kritik spart, ist sie gleichzeitig auch Komplizin. Mit ihrer Mimik und sporadischen Bemerkungen kommuniziert sie ihr Entsetzen, wirklich verhindern kann sie die Übergriffe ihrer Kolleg*innen und deren inquisitorischen Umgang mit den Schüler*innen allerdings nicht. In Situationen, die eine schnelle Reaktion erfordern, zögern ihre Kolleg*innen weitaus weniger als sie, der herablassende Umgang mit Schüler*innen ist für sie Routine. Wenn Carla Einspruch erhebt, ist es oft schon zu spät. Was ihr übrig bleibt, ist, die Scherben zusammenzufegen – falls das überhaupt noch möglich ist.

Die Frage, worum es in „Das Lehrerzimmer“ geht, lässt sich je nach Fokus ganz unterschiedlich beantworten. Oberflächlich betrachtet erzählt der Film von Menschen, die in einem alltäglichen Kontext, eine schlechte Entscheidung nach der anderen treffen. So gesehen handelt es sich um einen fesselnden Thriller, der stets unklar lässt, wem unsere Sympathien gelten sollen. Die Zuschauer*innen sollen sich den Figuren nicht überlegen fühlen, sondern genau wie Carla, zunehmend an der Frage verzweifeln, wie die Situation noch gerettet werden kann.

Einer zweiten, weniger oberflächliche Lesart zufolge, wird der durchreglementierte Schulalltag mit äußerlichen Normen und Regeln in Kontrast zueinander gestellt. Carla begrüßt ihre Schüler*innen jedes Mal wenn sie den Klassensaal betritt mit dem gleichen Ritual, der Unterricht verläuft stets nach dem gleichen Muster, auch die Leistungen der Schüler*innen sind vorhersehbar. Alle im Mikrokosmos Schule spielen eine Rolle und das System funktioniert nur, solange sich alle an diese teils implizite, teils explizite Ordnung halten. Beim Versuch herauszufinden, was es mit den Diebstählen auf sich hat, bricht jedoch plötzlich Chaos aus.

Doch auch als nuancierte Charakterstudie betrachtet, ist „Das Lehrerzimmer“ faszinierend. Carla sieht sich selbst als guten Menschen, im Laufe des Films zerbröckelt dieses Selbstbild zunehmend. Leonie Benesch spielt den unablässigen Spagat zwischen Bestimmtheit und Hilflosigkeit, Zurückhaltung und blanker Wut, in dem sich die Protagonistin befindet, mit einer beeindruckenden Glaubwürdigkeit.

Unabhängig davon, ob man „Das Lehrerzimmer“ gesellschaftskritisch liest oder nicht: Als Film über einen Menschen, der versucht, eine Situation zu kontrollieren, die sich seiner Kontrolle entzieht, ist Ilker Çataks Film absolut sehenswert.

In fast allen Sälen


Cet article vous a plu ?
Nous offrons gratuitement nos articles avec leur regard résolument écologique, féministe et progressiste sur le monde. Sans pub ni offre premium ou paywall. Nous avons en effet la conviction que l’accès à l’information doit rester libre. Afin de pouvoir garantir qu’à l’avenir nos articles seront accessibles à quiconque s’y intéresse, nous avons besoin de votre soutien – à travers un abonnement ou un don : woxx.lu/support.

Hat Ihnen dieser Artikel gefallen?
Wir stellen unsere Artikel mit unserem einzigartigen, ökologischen, feministischen, gesellschaftskritischen und linkem Blick auf die Welt allen kostenlos zur Verfügung – ohne Werbung, ohne „Plus“-, „Premium“-Angebot oder eine Paywall. Denn wir sind der Meinung, dass der Zugang zu Informationen frei sein sollte. Um das auch in Zukunft gewährleisten zu können, benötigen wir Ihre Unterstützung; mit einem Abonnement oder einer Spende: woxx.lu/support.
Tagged , .Speichere in deinen Favoriten diesen permalink.

Kommentare sind geschlossen.