Im Kino: Everything Everywhere 
All At Once

Wie schon „Swiss Army Man“ fehlt es auch dem neuen Werk des Filmemacherduos „Daniels“ nicht an Originalität und Skurrilität. Trotz kleinerer Schwächen lohnt sich der Kinobesuch.

In einem Moment plagen sich Evelyn und ihre Familie mit Alltagsproblemen herum, im nächsten werden sie zu Actionheld*innen. (© Filmcoopi)

Paralleluniversen werden dieser Tage vor allem mit Marvel-Filmen assoziiert. Dabei handelt es sich keineswegs um ein neues Kinophänomen. Während „The Wizard of Oz“ (1939) wohl das früheste Beispiel darstellt, kam dieses Erzählmittel in den frühen 2000er-Jahren mit Filmen wie „The Chronicles of Narnia“ und „Coraline“ verstärkt auf. Auch „Everything Everywhere All at Once“ des Filmemacherduos Dan Kwan und Daniel Scheinert, oder „Daniels“, wie sie sich selber nennen, reiht sich nun in diese Liste ein. Obwohl der 140-minütige Streifen sich schwer einem bestimmten Genre zuordnen lässt, kann er klar vom Fantasyfilm abgegrenzt werden. Die Daniels nutzen Paralleluniversen in erster Linie als Stilmittel, um von einer dysfunktionalen amerikanisch-asiatischen Familie zu erzählen.

„Everything Everywhere All at Once“ zeigt Protagonistin Evelyn (Michelle Yeoh) in einem Moment, in dem ihr Waschsalon ebenso zugrunde zu gehen droht wie ihre Ehe und die Beziehung zu ihrer einzigen Tochter (Stephanie Hsu). Die Migrantin mittleren Alters beginnt, alles in Frage zu stellen: Was, wenn ich in China geblieben wäre, statt in die USA zu immigrieren? Was, wenn ich nie geheiratet hätte?

Jedes ihrer Familienmitglieder scheint in seiner eigenen Realität zu leben, ein wirkliches Gefühl der Zusammengehörigkeit und des gegenseitigen Verständnisses, gibt es nicht. Diesen Eindruck der verschiedenen Realitäten spinnen die Macher des Films radikal weiter: Evelyn lernt, in Paralleluniversen zu reisen. In jedem davon ist sie ein etwas anderer Mensch mit anderen Fähigkeiten. Um den Sehspaß nicht zu verderben, sei an dieser Stelle nicht mehr über die Handlung von „Everything Everywhere All at Once“ verraten.

Anders als es zunächst scheint, durchlebt Evelyn nicht die unzähligen Szenarien, wie ihr Leben hätte verlaufen können. Der Film ist auch auf keinen Fall eine Reflexion darüber, wie noch so kleine Entscheidungen manchmal die eigene Biografie nachhaltig beeinflussen können. Dass der Film in Rezensionen und Inhaltszusammenfassungen immer wieder so beschrieben wird, liegt möglicherweise daran, dass er sich nicht in zwei, drei Sätzen auf den Punkt bringen lässt. Jeder Versuch muss unweigerlich scheitern, zumindest wenn man versucht, den Film in eine Sci-Fi-Schublade à la „Matrix“ zu pressen. Wer den Film zu Ende gesehen hat, weiß: Er handelt weder davon, dass Evelyn die Welt retten soll, noch davon, dass sie einen Bösewicht bezwingen muss.

Aber worum geht es denn nun eigentlich in diesem Film? Konzentriert man sich auf Evelyns Erleben, handelt er von Ängsten, etwas zu verpassen oder das eigene Potenzial nicht auszuschöpfen. Bezogen auf Evelyn und ihre Familie kann „Everything Everywhere All at Once“ auch als Film über Immigrationserfahrungen, intergenerationelle Traumata oder auch die Lehre vom Nichts im Buddhismus interpretiert werden.

Metapher fürs Internet

Allgemeiner betrachtet funktioniert der Film aber auch als Metapher für die Schnelllebigkeit und kollektive Überforderung, die das Internet-
zeitalter mit sich bringt. Diese Lesart scheint auch die Form des Films nahezulegen: Die Schnitte sind schnell, auf jede noch so haarsträubende Handlungsentwicklung folgt schon die nächste, ohne dass Zeit bliebe, das Gesehene zu reflektieren oder einzuordnen. Deswegen verstehen einige Zuschauer*innen den Film auch als Visualisierung von ADHS.

Manche Interpretationen gehen aber sogar noch weiter. So sei „Everything Everywhere All at Once“ ein Film über den Sinn des Lebens. Oder vielmehr über die Akzeptanz dessen, dass das Leben an sich zwar keinen Sinn hat, dadurch jeder Augenblick und jede Person jedoch gleichermaßen wichtig ist.

Doch egal ob man allen oder keiner dieser Interpretationen folgt, allein die vielen urkomischen Dialoge und visuellen Effekte sorgen für beste Unterhaltung. Wer „Swiss Army Man“ – über einen Mann, der mithilfe einer Leiche auf einer verlassenen Insel überlebt – gesehen hat, weiß, dass die Daniels jede noch so abstruse Idee kohärent umzusetzen wissen. Leider bleibt die Charakterzeichnung recht oberflächlich, der Fokus auf Kampfszenen ist mit der Zeit ermüdend. Dazu ist die Botschaft „Liebe deine Familie“ derart konservativ, dass sie die Originalität und den experimentellen Charakter dieses Films unnötig relativiert.

Dennoch ist „Everything Everywhere All at Once“ ein erstaunlich zeitgemäßer Film, der anders ist als alles, was jemals über die große Leinwand flimmerte. Allein schon die extravagante Vision der Daniels und die Schauspielleistungen lohnen einen Kinobesuch.

Im Starlight, Sura, Orion, Prabbeli, Kulturhuef, Le Paris, Scala, Utopia, Kinepolis Kirchberg und Belval. Alle Uhrzeiten finden Sie hier.

Bewertung der woxx : XX


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