Im Kino: Tár

In seinem neusten Film geht der 
US-amerikanische Filmemacher Todd Field der Frage nach, ob Kunstwerk und Künstler*in voneinander getrennt werden können. Der Film ist vor allem deshalb so spannend, weil er darauf keine Antwort gibt.

Wie viel ist Lydia Társ Kunst unabhängig von ihrem Image wert? (© Focus Features)

„Why is Cate Blanchett’s cancel culture film Tár angering so many people?“, so der Titel eines kürzlich in der britischen Tageszeitung „Guardian“ erschienen Artikels. Wer die verärgerten „many people“ sein sollen, geht aus dem Text nicht hervor. Fakt ist aber, dass der kürzlich in luxemburgischen Kinos angelaufene dritte Spielfilm von Filmemacher Todd Field in den vergangenen Monaten polarisierte.

Im Zentrum des insgesamt 158-minütigen Streifens steht die Chefdirigentin Lydia Tár (Cate Blanchett). Zu Beginn des Films ist sie am Höhepunkt ihres Erfolgs: Sie dirigiert die Berliner Philharmoniker, ist Gast-Dozentin am renommierten Julliard-Konservatorium und kurz davor, ihre Memoiren zu veröffentlichen. Sie ist außerdem eine sogenannte Egot-Gewinnerin, wurde also sowohl mit einen Emmy, Grammy und Oscar als auch einem Tony ausgezeichnet. Privat scheint es ihr ebenfalls an nichts zu fehlen: Sie wohnt mit ihrer Ehefrau Sharon (Nina Hoss), der Konzertmeisterin der Berliner Philharmoniker, und der gemeinsamen Tochter Petra in einer extravaganten Wohnung in Berlin, hat daneben aber noch eine Zweitwohnung ganz für sich allein. Alles in ihrem Leben – dafür hat Lydia mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln gesorgt – unterliegt ihrer Kontrolle. „Tár“ handelt von einem Menschen, dessen Kartenhaus aus Machtmissbrauch nach und nach in sich zusammenfällt.

Woher rühren aber nun die heftigen Reaktionen auf Fields ersten Film seit 16 Jahren? In besagtem „Guardian“-Artikel werden gleich mehrere potenzielle Ursachen genannt. So sei Lydia durch und durch unsympathisch und reihe sich damit in eine recht kurze Liste weiblicher Figuren dieser Art ein. Manche Zuschauer*innen, heißt es in dem Blatt weiter, störten sich daran, dass Tár eine lesbische Frau sei. Wenn schon Machtmissbrauch in der Kunstszene thematisiert wird, so der Vorwurf, wieso dann nicht wenigsten einen alten, heterosexuellen Mann ins Zentrum stellen? Es ist aber nicht nur die Protagonistin, die zum Teil aneckt, sondern auch der Film selbst: Er sei langweilig, inkohärent und zu abstrakt, urteilen gleich mehrere Kritiker*innen.

Interpretation, Spekulation 
und Projektion

Die Kritik, die Todd Fields Film erntete, ist durchaus der Diskussion wert. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass es sich bei „Tár“ um ein komplexes Portrait einer unnahbaren Figur handelt. Dem Film zu folgen, erfordert höchste Aufmerksamkeit, die volle Bedeutung einer Szene wird oft erst im Nachhinein klar. Auffallend an dem Guardian-Artikel ist, dass er „Tár“ als „cancel culture film“ bezeichnet, ohne anzuerkennen, dass man durchaus auch zu einer anderen Einschätzung über das eigentliche Sujet des Werkes gelangen kann. Denn eine fundamentale Problematik, die in dem Film ausgehandelt wird, ist die Trennung von Künstler*in und Werk. Lydia Tár ist davon überzeugt: Je mehr man über das Privatleben von Künstler*innen weiß, deren Arbeit man verstehen und interpretieren will, desto besser. Dass sie so denkt, ist wenig überraschend: Es ist genau dieser Personenkult, dem sie ihren Status zu verdanken hat. Doch Lydias Einstellung, ist widersprüchlich: Private Umstände empfindet sie nur insofern als relevant, als sie dazu beitragen, einem Werk zu huldigen. Was sie nicht mag, ist Künstler*innen mittels privater Anekdoten zu diskreditieren.

Im Laufe des Films werden Lydias Überzeugungen durch ihre eigenen Erfahrungen immer wieder auf die Probe gestellt. Sie selbst ist das beste Beispiel dafür, dass das meiste, das wir glauben über das Innenleben von Künstler*innen zu wissen, nicht viel mehr ist als Interpretation, Spekulation und Projektion. Das, was die Öffentlichkeit über Lydia weiß oder zu wissen glaubt, ist zudem maßgeblich von dem Image geprägt, das diese von sich selbst vermitteln will. Was aber passiert, wenn Künstler*innen wie Lydia die Kontrolle über dieses Image verlieren und die übergeordnete Position, in der sie sich wähnen, in Frage gestellt wird?

Dadurch, dass „Tár“ von einer lesbischen Frau handelt, scheint er sich der Lesart als bloßem Cancel-Culture-Film eigentlich zu entziehen. Tatsächlich sagt die Kategorisierung als Cancel-Culture-Film mehr über unsere Gegenwart als über „Tár“ aus. Schwer vorstellbar, dass jemand auf die Idee kommen würde, Jayro Bustamantes „La Llorona“ oder William Shakespeares „Macbeth“ – beides Werke mit Protagonist*innen, die von ihrer Vergangenheit eingeholt werden – als Cancel-Culture-Kunst über einen Kamm zu scheren. Im Jahr 2022 können sich Filme über in Ungnade gefallene Künstler*innen diesem klischeehaften Raster aber scheinbar nicht mehr entziehen.

Wer „Tár“ als Cancel-Culture-Film kategorisiert, erweckt den Eindruck, dass darin eine klare Position bezogen wird, die sich den üblichen Schubladen zuordnen lässt. Was Field aber vielmehr tut und was seinen Film letztlich auch so anspruchsvoll macht, ist Fragen aufzuwerfen, ohne Antworten zu geben. Es sind Fragen, die zum Teil weit über die eigentliche Handlung hinausgehen, wie etwa jene, ob Field mit seiner Protagonistin sympathisiert. Über derlei denkt man noch lange nach, wenn man den Kinosaal verlassen hat.

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Bewertung der woxx : XXX


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