Das Functional Fitness Gym „Iron Sparks” zeigt, wie Inklusion im Sport gelingen kann. Am kommenden Samstag, dem 9. November wird es für sein Engagement geehrt. Eine Reportage über Teamgeist, Chancengerechtigkeit und die grenzenlose Liebe zum Sport.
Sybille Blitgen hat einen festen Händedruck, kurze lockige Haare und führt zielstrebig durch die labyrinth- artigen Gänge des Lycée Bel-Val bis zu einem versteckten Gym im Inneren der Schule. Die Englischlehrerin und frühere Profi-Basketballspielerin ist es gewohnt, alles im Blick zu haben. Im Klassenraum ebenso wie auf dem Sportplatz. Das ist an diesem Dienstagabend nicht anders. Immer wieder geht sie von Teilnehmer*in zu Teilnehmer*in, korrigiert deren Haltung und gibt Hinweise, wie sie die komplexen Bewegungsabläufe der verschiedenen Übungen sicher ausführen können. „Beim Squat musst du die Hüfte nach hinten rausstrecken und den Rücken gerade halten. Sonst gehen die Knie zu weit nach vorne raus.“ Der Raum in dem sich alle zusammengefunden haben ist kein gewöhnliches Fitnessstudio; eher eine seltsame Mischung aus Küche, Klassenraum und funktionalem Fitnessraum. Die Küchengeräte finden an diesem Abend keine Beachtung. An der Schreibtafel stehen keine mathematischen Formeln oder Deklinationen von Englischverben, Stattdessen Fitness-Übungen zum Warm-Up, sogenannte „Amraps“ (As many reps as possible – so viele Wiederholungen wie möglich) und der „Workout of the Day“. Wegen der Zeitumstellung ist es draußen bereits düster, obwohl es nicht einmal sechs Uhr ist.
Die Lehrerinnen Sybille Blitgen und Mandy Loes stecken praktisch jede freie Minute in ihr Functional Fitness Gym „Iron Sparks“. Das besondere an ihrem Training: Jede*r ist willkommen. Hier trainieren Menschen aller Hautfarben, Geschlechter und Sexualitäten zusammen, egal ob mit oder ohne geistiger und/oder körperlicher Behinderung. Die kraftfordernde Sportart „Functional Fitness“ verlangt jedem Sportbegeisterten eine Menge ab. Sie ist ein hochintensives Fitnessprogramm, das funktionelle Bewegungen aus Bereichen wie Gewichtheben, Gymnastik und Cardio miteinander kombiniert. Hier in Bel-Val gilt wortwörtlich alle(s) inklusiv.
Während im Bildungsbereich das Stichwort „Inklusion“ immer häufiger als Problem statt Lösung behandelt wird, schafft es Iron Sparks, dem abstrakten Begriff Leben einzuhauchen – und das ausgerechnet auf einem Schulgelände. Vor drei Jahren gründeten Sybille Blitgen und Mandy Loes den gleichnamigen Verein und statteten ihr Gym mit hochwertigem Sport-Equipment aus. Auch dank der Hilfe des Lycée Bel-Val. „Wir sind sehr dankbar, dass uns die Schule den Raum stellt“, sagt Biltgen, „aber im Winter, wenn wir nicht rauskönnen, wird es hier schnell eng.“
Deshalb suchen die beiden jetzt nach einer richtigen Sporthalle. Dass man bislang auf einen Raum angewiesen ist, der auch anderweitig genutzt wird, ist nur eines der Probleme des aktuellen Arrangements. Auch bei den angebotenen Trainingszeiten ist das Gym von den Öffnungszeiten des Lycée abhängig. Trainiert werden kann nur, wenn es den schulischen Betrieb nicht stört, das heißt abends und samstags. Auch wenn die Schule während der Ferien über einen längeren Zeitraum geschlossen ist, haben die Sportler*innen keinen Zugang zum Gelände. Trotz dieser erschwerten Bedingungen verzeichnet das Gym aktuell 30 Mitgliedschaften und bekommt immer wieder neue Anfragen.
„Der Bedarf ist auf jeden Fall groß“, sagt Mandy Loes. Wie Blitgen unterrichtet sie Englisch und war früher als Turnerin im Leistungssport. Die beiden wissen, wovon sie sprechen: Ende Juni haben sie mit Iron Sparks eines der größten inklusiven Sport-Events Europas im Bereich Functional Fitness auf die Beine gestellt. Beim sogenannten „Iron Showdown“ traten 173 Athlet*innen aus sieben Nationen in 15 verschiedenen sogenannten Divisionen, eingeteilt nach Erfahrungsgrad und Grundvoraussetzung, gegeneinander (und miteinander) an. Die zweite Edition ist für Mitte Juli nächsten Jahres geplant, 60 Athlet*innen haben sich bereits angemeldet.
Das Großevent hat Iron Sparks und ihrer Art des inklusiven Sports endlich mediale Aufmerksamkeit in Luxemburg beschert. Kommenden Samstag wird ihnen der Preis „Zesumme fir Inklusioun“ überreicht. Geehrt werden sie durch den gleichnamigen Verein, für die Schaffung eines Gyms, „in dem jede Person willkommen geheißen und wertgeschätzt wird“, wie Vereinspräsidentin Martine Kirsch in der Begründung schreibt. Auch der Sender „RTL“ wird bei der Verleihung zugegen sein. Blitgen und Loes wollen diese mediale Welle der Aufmerksamkeit nutzen, um genügend finanzielle Mittel zu generieren, damit sie in neuen, auf sie zugeschnittenen Räumlichkeiten richtig durchstarten können.
Ein Platz für alle
Mehr Platz, mehr Equipment, vor allem eine richtige Sporthalle, um auch im Winter mit vielen Menschen trainieren zu können. Gruppengrößen von 20 Personen sind samstags die Regel. Zu dieser Jahreszeit draußen im Dunkeln trainieren? Trotz topp ausgestattetem Außenbereich ist das nicht machbar. Auch wenn nach den ersten zehn Minuten Training klar wird, dass gegen die Kälte ein Kraut gewachsen ist: Ordentlich Bewegung hilft, wie unser Selbstversuch zeigt.
Wer mit Functional Fitness oder „High Intensity Training“ vertraut ist, weiß, dass Kälte bei dieser Art des Trainings das geringste Problem ist. Wer hier mitmacht, dem steht schnell der Schweiß auf der Stirn. Das Training variiert täglich und zielt darauf ab, die allgemeine Fitness in Kraft, Ausdauer, Schnelligkeit und Flexibilität zu verbessern. Es gilt als eine der anstrengendsten Sportarten im Fitness-Bereich. „Die Flasche ist am Ende des Workouts leer“, witzelt Mandy Loes mit Teilnehmerin Mireille*, die, ihren bemuskelten Schultern und Armen nach, nicht viele Workouts verpasst. Mireille beäugt skeptisch eine große Flasche Mineralwasser . „Meinst du?“, sagt sie, und schüttelt den Kopf: „Ach, das glaube ich nicht.“ Die beiden lachen und ein weiterer Teilnehmer steigt mit ins Training ein. José Santos, ebenfalls sichtbar regelmäßig mit dabei, war früher in der Leichtathletik aktiv und ist seit einem Jahr Mitglied bei Iron Sparks. Ihm gefalle, dass er hier als Teil eines Teams trainieren könne und nicht mehr nur auf sich allein gestellt sei.
Schon beim zweiten von vier Teilen des Workouts fangen die Beine an ordentlich zu brennen. Dabei dauert die Amrap-Einheit mit zahlreichen Kniebeugen, Liegestützen und Snatches – eine Übung bei der eine Langhantel aus der Kniebeugeposition nah am Körper zur Endposition mit dem Gewicht über dem Kopf geführt wird – nur acht Minuten. Gefühlt eine halbe Ewigkeit.
Das Iron Sparks ist nicht das einzige Functional Fitness Gym in Luxemburg. Mit der sprunghaft gestiegenen Popularität der Konzepts „CrossFit“ zwischen 2010 und 2015 sind viele auf Functional Fitness spezialisierte Gyms in Luxemburg entstanden; aber heutzutage hat auch nahezu jedes normale Fitnessstudio einen eigenen Bereich für diese Art des Trainings. Trotzdem war während der Corona-Pandemie für Sybille Blitgen und Mandy Loes die Zeit reif, eine eigene „Box“ zu gründen, wie es im Fachjargon der Functional Fitnessszene heißt. Das Alleinstellungsmerkmal der beiden: Inklusion. Nicht nur als Lippenbekenntnis oder Marketingtrick. Es geht den beiden nicht darum, ein Business aufzuziehen und mit dem Namen möglichst viel Geld zu machen. Sie wollen mit Iron Sparks Inklusion im Sport leben und ihre Vision davon verbreiten.
„Wir sind alle ein Team. Es geht nicht darum, dass jemand etwas extra bekommt und dann doch wieder abseits steht“, sagt Mandy Loes. „Es geht darum, für jede*n die Möglichkeit zu schaffen an einem gemeinsamen Workout teilzunehmen.“ Jede und jeder sei auf ihre oder seine Weise individuell, „aber wir machen alle dasselbe Workout“. Die meisten Menschen dächten nur an Menschen mit Behinderung, wenn sie von einem inklusiven Gym hörten, meint Sybille Blitgen. Doch das sei nicht der Kern der Idee: „Alle sollen sich wohl fühlen., jeder Mensch ist willkommen, egal welche Hautfarbe oder Sexualität jemand hat oder ob jemand mit einer Behinderung lebt oder nicht.“
Die beiden Englischlehrerinnen nutzen die Sprache, die sie lehren, um ihren Ansatz von Inklusion zu erklären. Es gebe einen Unterschied zwischen „equality“ (Gleichbehandlung) und „equity“ (Chancengerechtigkeit). Bei Equality bekomme jeder Mensch die gleiche Behandlung, die gleichen Möglichkeiten und Ressourcen zum Erreichen eines Ziels. Das Prinzip der Equity berücksichtigt darüber hinaus, dass Menschen unterschiedliche Bedürfnisse und Startbedingungen haben. Das Ziel ist es, durch maßgeschneiderte Unterstützung qualitativ vergleichbare Ergebnisse zu ermöglichen. Verbildlicht ausgedrückt: Drei verschieden große Menschen wollen über einen Zaun schauen. Alle bekommen eine gleich große Kiste, auf die sie sich stellen können, wenn sie es aufgrund ihrer Körpergröße nicht alleine schaffen. Der erste ist groß genug, der zweite nimmt die Kiste zur Hilfe. Der dritte steht trotz Kiste nicht hoch genug, um zu sehen, was sich auf der anderen Seite verbirgt. Das ist das Prinzip Equality. Beim Prinzip Equity bekommen alle drei Menschen eine unterschiedlich große Kiste, damit alle gemeinsam dieselbe Sicht teilen.
Inklusion als Vision
Das Training geht in die heiße Phase. Beim „Workout of the Day“ gibt es drei Runden mit je 20 „Goblet Squats“. Das sind Kniebeugen, bei denen zusätzlich ein Gewicht in Form einer „Kettlebell“ (so benannt, weil sie der Form einer Kuhglocke ähnelt; siehe das Bild links) vor den Körper gehalten wird. Oben drauf noch 14 „alternate Kettlebell Snatches“, eine ähnliche Übung wie der Snatch mit der Langhantelstange. Hier wird das Gewicht mit einem Arm in die Höhe geschnellt. Abgeschlossen wird jede Runde mit acht „Burpees“. Wer nicht weiß, was Burpees sind, kann sich glücklich schätzen, wie die Autorin nach dieser Erfahrung sagen kann. Nicht umsonst gelten sie als eine der anstrengendsten Übungen, die ein Mensch basierend auf seinem eigenen Körpergewicht machen kann: eine Mischung aus Liegestütze und explosivem Springen.
Die Runden gehen auf Zeit. Mireille braucht von den maximal erlaubten 16 Minuten heute gerade mal 10. José Santos ist sogar noch vor ihr fertig. Statt sich eine verdiente Pause zu gönnen, dreht er sich zu den anderen Teilnehmenden um und feuert sie an, bis alle es geschafft haben. Das gehört hier zum Standard. Auf die Frage, wieso sie hier ist, antwortet Mireille ohne zu Zögern: „Wir sind eine Familie. Ich war auch schon woanders, aber da wird nicht nach einem geschaut. Hier achten wir aufeinander.“
Wenn die Gruppen größer sind, gibt es Paarübungen, bei denen sich die einzelnen Teilnehmenden gegenseitig unterstützen. Die meisten kennen sich schon länger und wissen, was der andere braucht, um das gemeinsame Workout zu absolvieren. „Wenn zum Beispiel David da ist, wissen wir, dass wir alle Übungen, die beide Arme benötigen, für ihn anpassen. Er trägt einen Arm in der Schlinge“ erklärt Loes. „Wir haben schon oft erlebt, wie Zuschauende überrascht sind, dass wir hier echten Leistungssport betreiben.“
Dank der zunehmenden medialen Aufmerksamkeit der vergangenen Jahre können inzwischen viele etwas mit dem Begriff „Paralympics“ anfangen. Bei diesem Wettkampf treten Menschen mit körperlicher Behinderung gegeneinander an. Bei den „Special Olympics“, die in Luxemburg bereits seit den 1990er-Jahren stattfinden, sieht das schon anders aus. Die Veranstaltung hatte es im vergangenen Jahr hierzulande erst nach einem Shitstorm in den sozialen Medien in Presse und Rundfunk geschafft. Generell sei die Sichtbarkeit für ihren Sport noch sehr gering, meinen die Athlet*innen von Iron Sparks. Viele Menschen, die diesen Sport gerne inklusiv betreiben wollten, wüssten nicht, dass die Möglichkeit durchaus besteht. Wenngleich leider noch nicht überall im Land.
Das wollen Mandy Loes und Sybille Blitgen ändern. Mit dem „Zesumme fir Inklusioun“-Preis, der mit 1.000 Euro dotiert ist, erhoffen sie sich mehr Aufmerksamkeit für ihr Projekt, das auch andere inspirieren soll. Ein Ziel ist es, Athlet*innen künftig auch gemeindeübergreifend ihren Sport in der für sie passenden Umgebung zu ermöglichen. Im Moment seien sie die einzigen, die ein inklusives Functional-Fitness-Programm durchführen. Wenn sich jemand nach einem entsprechenden inklusiven Angebot erkundige, würde er oder sie immer an die Sportler*innen in Bel-Val verwiesen. Immerhin. Die beiden Initiatiorinnen wollen das Wissen, dass sie in diesem Bereich gesammelt haben, aber auch an andere weitergeben, damit sich das Prinzip Iron Sparks im ganzen Land auch in anderen Gyms verbreiten kann.
Hinter so viel Engagement steckt mehr als die Liebe zum Sport. „Es geht auch um die Begegnungen“, sagt Sybille Blitgen. „Darum, dass sich Menschen kennenlernen und etwas miteinander unternehmen, die sich sonst nie getroffen hätten.“ Auch heute bleibt das Team aus Trainierenden und Teilnehmenden etwas länger, um miteinander zu quatschen. Mireille setzt ihre Mineralwasserflasche an, um einen Schluck zu trinken und stutzt dann. Sie ist leer. „Ich hab’s dir gesagt“ sagt Mandy Loes und lacht.