Seit Mitte Dezember wird Polen von einer liberal-konservativen Koalition regiert. Im Wahlkampf haben die Vertreter der beteiligten Parteien versprochen, den Abbau des Rechtsstaats durch die bisherige Regierung zurückzunehmen. Bei der Ausgestaltung einiger Vorhaben gibt es innerhalb der Koalition bereits Konflikte. Ein Gespräch mit der Juristin Kamila Ferenc über die Rückkehr zur Rechtsstaatlichkeit und eine mögliche Liberalisierung der strikten Abtreibungsgesetze.
woxx: Sie haben die Debatten in Polen in den Wochen nach der Parlamentswahl am 15. Oktober verfolgt. Wie hat sich die politische Stimmung seit dem Sieg der Koalition aus dem zentristisch-konservativen Wahlbündnis Trzecia Droga (Dritter Weg), der Wahlallianz Nowa Lewica (Neue Linke) sowie dem liberal-konservativen Parteienbündnis Koalicja Obywatelska (Bürgerkoalition, KO) des früheren und nun wiedergewählten Ministerpräsidenten Donald Tusk verändert?
Kamila Ferenc: Die Verkündung der Ergebnisse der Wahl, bei der die Oppositionsparteien eine Stimmenmehrheit erhielten, war eine riesige Erleichterung für deren Unterstützer*innen. Und man kann bereits einen gewissen Wandel spüren. Ein großer Teil der neuen Koalition spricht sich in Fragen der Abtreibung für progressive Positionen aus – feste Mehrheiten gibt es für liberale Abtreibungsgesetze allerdings noch nicht. Besonders die Abgeordneten der Trzecia Droga sind sehr zögerlich, aber es ist schon ein riesiger Fortschritt, dass es nicht mehr mehrheitsfähig ist, Forderungen danach von vornherein als unvereinbar mit dem katholischen Glauben zu diskreditieren. Mit der neuen demokratischen Mehrheit konnte außerdem schon während der ersten Sitzungen des Sejm, des polnischen Unterhauses, die Finanzierung von künstlicher Befruchtung beschlossen werden.
Wird Polen nach dem Umbau von Staat, Justiz und Medien durch die nationalkonservative Prawo i Sprawiedliwość (Recht und Gerechtigkeit, PiS) in den vergangenen acht Jahren wohl wieder ein demokratischer Rechtsstaat werden?
Wenn ich Mitglied der neuen Koalition wäre, würde ich sagen: ja, selbstverständlich. Es gibt allerdings keine Garantie dafür, dass die neue Regierung ihre Macht nicht auch ausnutzt. Ich setze jedoch große Hoffnungen in sie.
„Wichtig ist aber, dass der Staatsgerichtshof an keinen Vergeltungsakten gegen die ehemalige Regierung beteiligt sein wird.“
Welche Pläne hat die neue Koalition, um hinter PiS aufzuräumen und deren autoritären Reformen rückgängig zu machen? Und welche Rolle könnte dabei der Staatsgerichtshof spielen?
Es wurden bereits Untersuchungskommissionen im Sejm gebildet, um unterschiedliche Verdachtsfälle zu untersuchen, beispielsweise Veruntreuung von Geldern oder Abhören von Oppositionspolitiker*innen. Auch die von PiS im Wahlkampf gegen Donald Tusk geschaffene Untersuchungskommission zur Erforschung russischer Einflüsse soll weiterarbeiten, aber russische Einflussnahme auf PiS selbst untersuchen. Es gibt außerdem Ankündigungen, den Präsidenten der Nationalbank, Adam Glapiński, oder den Vorsitzenden des Radio- und Fernsehrats, Maciej Świrski, vor dem Staatsgerichtshof anzuklagen. Für höhere Amtsträger, denen die neue Regierung Verfassungsbruch vorwirft, wie den Staatspräsidenten Andrzej Duda, reichen die Mehrheitsverhältnisse allerdings nicht aus. Wichtig ist aber, dass der Staatsgerichtshof an keinen Vergeltungsakten gegen die ehemalige Regierung beteiligt sein wird, selbst wenn Vertreter*innen der neuen Regierung dies fordern sollten. Man kann keinen PiS-Politiker nur dafür verurteilen, dass er der PiS angehört, sondern muss gemäß der Prozessordnung beurteilen, ob er verfassungs- und gesetzesgemäß gehandelt hat.
Die neue Regierung muss sich auch mit der Demontage des Rechtsstaats befassen. Was muss konkret unternommen werden, um diesen wiederherzustellen?
Bei den Institutionen gibt es zwei Kernpunkte. Erstens müssen die verfassungswidrig über den einst unabhängigen, aber von PiS instrumentalisierten Landesrat für Gerichtswesen berufenen sogenannten Neo-Richter*innen, auch im Verfassungsgericht, abberufen werden. Ihre Urteile sind ungültig – das sagt auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Dieser hat auch geurteilt, dass einige von PiS eingesetzte Institutionen wie die Kammer für außerordentliche Kontrolle und öffentliche Angelegenheiten am Obersten Gerichtshof, die über die Gültigkeit von Wahlen entscheidet, wieder abgeschafft werden müssen. Die schwierigere Frage ist aber, wie konkret das in Polen verfassungsgemäß und nach demokratischen Standards verwirklicht werden kann, ohne dabei die Unabhängigkeit der Gerichte und der Richter*innen einzuschränken. Auf keinen Fall dürfen die nun notwendigen Reformen anfechtbar sein, zum Beispiel vor dem EGMR, sonst muss Polen am Ende den Profiteuren des PiS-Regimes noch Entschädigungen zahlen.
Und was geschieht mit den Urteilen, die von solchen irregulär berufenen Richter*innen gefällt wurden?
Bei Urteilen an ordentlichen Gerichten, die vom Landesrat ernannte Richter*innen gefällt haben, muss im Einzelfall geprüft werden, ob ein politischer Einfluss vorlag. Beim Verfassungsgericht ist die Sache allerdings eindeutig: Alle Urteile, die unter der Beteiligung von Neo-Richter*innen gefällt wurden, sind nichtig. Sie hatten allerdings bereits materielle Auswirkungen. Beispielsweise hat das Verfassungsgericht im Jahr 2020 Schwangerschaftsabbrüche auch bei schwerwiegender und lebensbedrohlicher Schädigung des Fötus für verfassungswidrig erklärt – also Abtreibung beinahe vollständig verboten. Krankenhäuser haben seither aufgehört, Schwangerschaftsabbrüche vorzunehmen. Aber legal gültig war das nie. Der Sejm als legislative Macht oder ein Ministerium darf nun darauf hinweisen, dass diese Urteile des Verfassungsgerichts niemals gültig gewesen sind. Er darf aber nicht versuchen, diese Urteile mit Hilfe eines Gesetzes oder einer Verordnung für ungültig zu erklären. Das wäre eine fatale Einmischung in die Unabhängigkeit des Gerichtswesens.
Nach dem Urteil des Verfassungsgerichts im Jahr 2020 blieben Schwangerschaftsabbrüche in Polen nur noch im Falle der Gefährdung des Lebens der Schwangeren oder infolge einer Straftat wie Vergewaltigung erlaubt. Bisher haben sich die Koalitionsparteien nur darauf einigen können, die letzte Verschärfung des Abtreibungsrechts zurückzunehmen – damit wäre das polnische Abtreibungsgesetz immer noch eines der strengsten in Europa. Wie könnte denn das diesbezügliche Urteil des Verfassungsgerichts auf legale Weise zurückgenommen werden?
Der Sejm kann trotzdem Änderungen am Abtreibungsgesetz beschließen oder ein neues Gesetz einführen – ein Richtspruch des Verfassungsgerichts verhindert schließlich keine weitere politische Arbeit an einem Thema. Was allerdings eine Rückkehr zum bisherigen Abtreibungsgesetz angeht, so können die Politiker*innen darüber viel reden, sie sollten sich aber lieber fragen, ob die Gesellschaft nicht bereits viel weiter ist. Umfragen zufolge befürwortet eine Mehrheit der Bevölkerung die Legalität von Abtreibung bis zur zwölften Schwangerschaftswoche ohne Angabe von Gründen. Die angekündigte Rückkehr zu den drei genannten Ausnahmen könnte sich als Falle erweisen, wenn die neue Regierung dadurch ihren Impetus für Abtreibungsliberalisierungen verliert.
Wie könnte denn eine solche weitere Liberalisierung des Abtreibungsrechts aussehen? Was ist unter der neuen Regierung realistisch?
Seit den Wahlen hat die Parlamentsfraktion der Lewica bereits einen Gesetzentwurf zur Dekriminalisierung von Abtreibung in den Sejm eingebracht, der einen legalen Abbruch bis zur zwölften Schwangerschaftswoche vorsieht. Außerdem hat die KO auch angekündigt, einen Gesetzentwurf einzubringen. Der Wackelkandidat ist dabei die Trzecia Droga, unter ihren Abgeordneten gibt es unterschiedliche Stimmen – darunter auch solche, die vollkommen gegen eine Dekriminalisierung oder Liberalisierung sind. Unser Ziel als Aktivist*innen der Stiftung für Frauen und Familienplanung, Federa, ist es, mit diesen Abgeordneten ins Gespräch zu kommen und sie von unseren Positionen zu überzeugen. Trotzdem besteht das Risiko, dass für ein liberales Abtreibungsgesetz die Stimmen fehlen – das wäre eine große Enttäuschung. Eine ebenso große Enttäuschung wäre es auch, wenn ein solches Gesetz zwar durch den Sejm kommt, aber der Präsident ein Veto einlegt. Das wäre ein großer politischer Fehler. Die Gesellschaft will einen Wandel im Abtreibungsgesetz, Frauen wollen Rechtssicherheit in ihrer Schwangerschaft. Und das wird jeder Politiker zu spüren bekommen, der sich einer Liberalisierung der Abtreibungsgesetze entgegenstellt.
Kamila Ferenc ist Juristin, betreibt eine eigene Anwaltskanzlei und ist in der Stiftung für Frauen und Familienplanung (Fundacja na rzecz Kobiet i Planowania Rodziny, kurz: Federa) sowie in der Stiftung gegen Vergewaltigungskultur (Fundacja przeciw kulturze gwałtu) tätig. Sie setzt sich für reproduktive Rechte sowie für Opfer sexualisierter Gewalt ein. Am 21. November 2023 wurde sie zum Mitglied des Staatsgerichtshofs gewählt, der für strafrechtlich relevante Verfassungsverletzungen von Inhaber*innen hoher staatlicher Ämter zuständig ist. Für die Überprüfung eines Verfassungsbruchs durch den Staatsgerichtshof sind je nach Rang des Beschuldigten unterschiedliche Mehrheiten im polnischen Parlament Sejm, im Senat oder in der Nationalversammlung erforderlich.
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