Kämpfe in Syrien: Zaungast EU

Während in der Europäischen Union zuletzt eifrig diskutiert wurde, ob man endlich nach Syrien abschieben kann, bahnt sich dort erneut eine Verschiebung der Machtverhältnisse an.

Nächste Ausfahrt Hama: Inzwischen haben syrische Rebellen die Regierungstruppen auch aus dieser Stadt vertrieben. (Foto: EPA-EFE/MOHAMMED AL RIFAI)

Syrien erlebt neben dem Sudan eine der größten Vertreibungskrisen weltweit. Sie dauert bereits seit dem März 2011 an. Noch ehe Mitte vergangener Woche verschiedene „Rebellengruppen“ gegen das Assad-Regime in die Offensive gingen, rechnete das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR für das Jahr 2025 mit 7,2 Millionen Binnenvertriebenen und 6,2 Millionen Menschen, die in andere Länder geflüchtet sind. Auch die jüngsten Ereignisse werden daran substanziell nichts ändern. Während die einen nach Aleppo zurückkehren, von wo die Truppen des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad vertrieben worden sind, flüchten andere von dort vor einer befürchteten Herrschaft durch Dschihadisten. Die kurdischen Behörden der im Nordosten Syriens gelegenen autonomen Region Rojava kündigten gleich zu Beginn der jüngsten Kampfhandlungen an, man nehme die durch die jüngste Eskalation des Konflikts zur Flucht gezwungenen Menschen auf. Die Frage, wer in diesem Land in welcher Region wie sicher ist, hängt von verschiedenen Faktoren ab. In jedem Fall ist diese Sicherheit weiterhin sehr prekär.

All dies geschieht nur wenige Wochen nachdem in der Europäischen Union wieder einmal lautstark über mögliche Abschiebungen nach Syrien diskutiert worden ist. So argumentierte der österreichische Bundeskanzler Karl Nehammer von der konservativen ÖVP Mitte Oktober, wenn angesichts der israelischen Angriffe auf die Terrorgruppe Hisbollah Hunderttausende vom Libanon nach Syrien flüchteten, müsse es dort ja sicher sein („Bereit für hässliche Bilder“; woxx 1809). Die Debatte war bezeichnend für eine EU-Politik, die sich weder für menschenrechtliche Prinzipien, noch für die tatsächliche Situation vor Ort, und erst recht nicht für die eigene Mitverantwortung an deren Voraussetzungen interessiert.

Zugleich deutet sich laut verschiedener Beobachter*innen an, dass die Türkei, die zwei der wichtigsten Gruppierungen der „Rebellen“ unterstützt, dies womöglich unter anderem deshalb macht, damit man dank der veränderten Kräfteverhältnisse in Syrien massenhaft Flüchtlinge dorthin abschieben kann. Rund 4,5 Millionen vorwiegend sunnitische Syrer*innen hat man in den vergangenen Jahren aufgenommen. Für die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan sind sie zuletzt auch politisch zunehmend zur Belastung geworden. Hunderttausende von ihnen wurden in den vergangenen Monaten zur Rückkehr nach Syrien gezwungen.

Die EU, die den im März 2016 abgeschlossenen Deal über syrische Flüchtlinge mit der Türkei nach wie vor als vorbildlich preist, darf sich bei diesen Entwicklungen als Zaungast fühlen – sieht man von den Hunderten von Millionen Euro ab, mit denen sie laut dem Recherchenetzwerk „Lighthouse Report“ und dem „Europäischen Rat für Flüchtlinge und Exilanten“ (Ecre) schon jetzt das „dubiose“ türkische Abschiebesystem finanziert, bei dem es auch zu Folter und Misshandlungen kommt.

Verrat an der Opposition

Dies alles ist auch die Konsequenz des Verrats der Europäischen Union und anderer an der syrischen Opposition. Jahrelang hat diese nach Beginn des Aufstands verzweifelt um Hilfe gebeten. Doch sie blieb aus. Selbst der Einsatz von Giftgas durch Assads Truppen konnte daran nichts ändern. Diese Untätigkeit hat erst ermöglicht, was bekanntermaßen folgte. Unter anderem sprang Russland dem Machthaber in Damaskus mit einer Handvoll Kampfflugzeugen bei. Mehr brauchte Putin nicht, um sich als großer Player im Nahen Osten zu inszenieren und mit dem Bombardement syrischer Städte wohlkalkuliert die sogenannte „Flüchtlingskrise“ von 2015/16 auszulösen. Derweil hat das ebenfalls Assad zur Hilfe geeilte islamische Regime des Iran an seinem Projekt eines gegen Israel in Stellung gebrachten „schiitischen Halbmonds“ vom Irak über Syrien bis in den Libanon gefeilt. Dass mit Assad nun auch Moskau und Teheran in der Bredouille stecken, lässt sich allenfalls mit sardonisch-bitterer Freude quittieren, denn die weiteren Entwicklungen sind ungewiss.

Für die EU-Asylpolitik wird all das wenig ändern. In Brüssel hat man sich längst auf die Balkanisierung von Ländern wie Syrien eingestellt. Schon im kommenden Juni will die EU-Kommission die geltende Asylverfahrensordnung einer Revision unterziehen, wonach es genügen soll, „bestimmte Teile des Hoheitsgebiets eines Landes als sicher oder sicher genug für bestimmte Kategorien von Menschen zu bezeichnen“, damit dahin ausgewiesen werden kann. Und so wird man womöglich schon bald beginnen, die Rückkehr von ein paar Tausend Binnenflüchtlingen nach Aleppo in die eigene Abschieberhetorik zu integrieren.


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