Klimakatastrophen: Je näher, desto beeindruckender

Dass uns die Ereignisse in der Ferne wenig beeindrucken, die vor der eigenen Haustür dagegen sehr, thematisiert ein Artikel auf Reporterre. Beim Klimawandel, einem globalen Problem mit einer globalen Lösung, ist diese Voreingenommenheit besonders unsinnig.

Port-au-Prince nach dem Erdbeben von 2010. Pétion-Ville ist ein Vorort der haitianischen Hauptstadt, in dem am 7. Juli der Präsident Jovenel Moïse erschossen wurde.
(US Navy; Candice Villarreal; PD)

„Warum machen uns manche Katastrophen betroffener als andere?“, das ist die Frage, die Alexandre-Reza Kokabi in einem Beitrag der alternativen französischen Online-Zeitung Reporterre aufwirft. Ein extremes Wetterereignis wie die jüngsten Hochwasser in Deutschland und Belgien, mit über 200 Toten, hat in unseren Ländern große Aufmerksamkeit bekommen. Vergleichbare oder schlimmere Geschehnisse in ärmeren Teilen der Welt, von Afghanistan bis Uganda, sind dagegen fast unbeachtet geblieben, so Kokabi. Und zitiert eine Aktivistin der NGO Alternatiba, die von der „indignation à deux vitesses“ (Zwei-Klassen-Entrüstung) der westlichen Medien spricht.

Der Medienexperte Tristan Mattelart erläutert gegenüber Reporterre, dass es auch materielle Gründe gibt, warum manche Themen eher aufgegriffen werden als andere. Um über ferne Ereignisse zu berichten, benötige man ein Korrespondentennetz, was viel Geld koste, oder man nutze das der großen Presseagenturen. Die wiederum sind westlich orientiert und ihr Netz ist im globalen Süden viel weniger dicht. „Ganze Regionen sind schlecht abgedeckt“, so Mattelart. Dass es schwierig ist, über Ereignisse weit weg von Luxemburg und Europa angemessen zu berichten, weiß auch das woxx-Team – schließlich ist unsere Zeitung in erster Linie lokal verwurzelt.

Wo liegt Ahrweiler, wo Pétion-Ville?

Welche Informationen zur Veröffentlichung ausgewählt werden, schreibt Kokabi, werde auch vom journalistischen „Gesetz der räumlichen Nähe“ bestimmt, das in den Journalismusschulen gelehrt werde. „was für das Publikum interessant ist, was es berührt, was für es von Nutzen ist, ist das, was ihm am nächsten ist“, zitiert er aus dem „Manuel de journalisme“ von Yves Agnès. Diese Nähe kann geografisch sein, aber auch soziokulturell, ergänzt der Medienexperte Tristan Mattelart. „Die Brände in Kalifornien sind, angesichts der Wirtschaftskraft, des politischen Gewichts und des Einflusses des Lebensstils der Vereinigten Staaten ein Ereignis, das für das französische Publikum von Interesse ist. Damit vergleichbar viel über Haiti geredet wird, braucht es eine einzigartige Naturkatastrophe wie das Erdbeben von 2010, oder der Mordanschlag auf den Präsidenten.“

Reporterre setzt dieses Ungleichgewicht in der Berichterstattung in Zusammenhang mit der Weltordnung nach 1945, als im Zuge der politischen Dekolonisierung auch eine informationelle Dekolonisierung gefordert wurde. Das mündete im Unesco-Bericht „Viele Stimmen, eine Welt“ (auch als MacBride Report bekannt), der für eine neue Weltinformationsordnung plädierte. Der Bericht sei danach in Vergessenheit geraten, so Reporterre. In der woxx erfüllt die „Interglobal“-Doppelseite die Funktion, unsere Berichterstattung zu diversifizieren. Neben einer kritischen Behandlung der weltpolitischen Mainstream-Themen erscheinen dort auch Artikel über „vergessene“ Regionen und Entwicklungen.

Durch Schaden klug: Weckruf oder Denkfehler?

Der Voreingenommenheit kann man im Falle des Klimawandels auch etwas Positives abgewinnen, folgt man dem von Reporterre zitierten Klimaforscher Benjamin Sultan. Wenn man im globalen Norden von den klimabedingten extremen Wetterereignissen höre, dann denke man häufig an die ärmeren und wirtschaftlich wenig entwickelten Länder des Südens. Die jüngsten Ereignisse könnten in diesem Zusammenhang eine Art Weckruf sein, sagt Sultan: „Katastrophen wie [der Hurrikan] Katrina oder das, was in Deutschland passiert ist, beeindrucken die öffentliche Meinung indem sie zeigen, dass die Erderwärmung viel Schaden anrichten und unsere Volkswirtschaften erschüttern kann, und dass ein Nachdenken über die Anpassung und die Raumplanung nötig ist, nicht nur in Afrika oder in den Ländern des Südens, sondern überall auf der Welt.“

Das sieht der Politikforscher François Gemenne anders: „Es ist sehr problematisch zu warten, bis der Klimawandel auch die reichen Weißen betrifft, bevor man sich darum kümmern mag.“ Nach einer solchen Betroffenheitslogik hätten unsere Gesellschaften wenig Anreize, das Wirtschafts- und Konsummodell zu dekarbonisieren, so Gemenne. Reporterre zitiert: „Was im Gegenteil koordiniertes und globales Handeln gegen den Klimawandel ermöglicht, ist die Einsicht, dass jeder eine Verantwortung für die anderen Bewohner der Erde trägt.“

Der Artikel schließt mit einem Verweis auf die Initiative Covering Climate Now, ein weltumspannendes Mediennetzwerk, das versucht, in einer globalen Perspektive über den Klimawandel zu berichten – und dem auch Reporterre angehört.

 


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