María Nancy Ardila hat als Staatsanwältin gegen Paramilitärs in Kolumbien ermittelt. Nach der Verhaftung einiger von ihnen schworen diese, Ardilas gesamte Familie auszulöschen. Zwei ihrer Brüder wurden bereits erschossen. Seither lebt die 48-Jährige inkognito. Die woxx hat mit ihr über mangelnde Unterstützung durch die Justiz und den Stand des Friedensprozesses gesprochen.
woxx: Sie sind vor einem Jahr aus dem Dienst der Staatsanwaltschaft ausgeschieden, weil Sie nicht mehr arbeitsfähig sind. Was ist passiert?
María Nancy Ardila: Ich habe als Staatsanwältin in der Kleinstadt Caicedonia, im Süden Kolumbiens im Verwaltungsbezirk Valle de Cauca, gearbeitet und bin dort auf einen Stapel abgelegter Akten gestoßen. Die habe ich studiert und die Ermittlungen gegen die paramilitärische Drogenbande von Alexander Toro López wieder aufgenommen. Er ist auch unter dem Spitznamen „El Viejo“ (der Alte) bekannt und gehört zum größten paramilitärischen Netzwerk Kolumbiens, dem „Clan Úsuga“. Die Bande hat in der Region Caicedonia den Drogenhandel kontrolliert. Sie ist für mehrere Morde und viele weitere Delikte verantwortlich. Im Oktober 2014 haben wir López und 23 Mitglieder seiner Bande festgenommen, die bis heute im Gefängnis sitzen. Der Ermittlungserfolg machte Schlagzeilen. Doch die Bande schlug aus dem Gefängnis zurück und ermordete am 20. Januar 2015 meinen Bruder Elio Fabio Ardila. Vier Monate später drang ein bewaffnetes Kommando in mein Haus in Caicedonia ein, wo mein zweiter Bruder Jhon Jairo Ardila mit meiner Mutter am Mittagstisch saß, und hat auch ihn erschossen. Danach erhielt ich einen Anruf, dass ich auch den Tod meiner restlichen Familie miterleben werde. Ich bin mit meiner Familie geflohen und seitdem leben wir undercover in Kolumbien.
Werden Sie vom kolumbianischen Staat geschützt, wird weiter ermittelt und versucht man der Bande endgültig das Handwerk zu legen?
Mir gewährt die Generalstaatsanwaltschaft nicht die Hilfe und den Schutz, den ich nach 24 Dienstjahren haben sollte. Ohne internationalen Druck durch „Human Rights Watch“, die kanadischen „Lawyers without Borders“ sowie kolumbianische Menschenrechtsorganisationen hätte ich kein Recht mehr auf Personenschutz, denn ich bin aufgrund meiner Traumatisierung frühpensioniert und habe deshalb keinen rechtlichen Anspruch mehr auf Sicherheitsmaßnahmen. Das ist auch ein Grund, weshalb ich seit mehr als zwei Jahren Kolumbien verlassen möchte. Hier gibt es keine Sicherheit für mich. Ich habe Drohanrufe erhalten, auch in jüngster Zeit.
Wie viele Mitglieder hat Ihre Familie und sind sie alle auf der Flucht?
Insgesamt haben 15 Familienangehörige den Valle de Cauca verlassen. Sechs Leben in Bogotá, zwei in Mosquera, zwei in Popayán und weitere in Riseraldo. Alle sind gefährdet. Vor rund vierzehn Monaten haben sie versucht, meinen Vater zu ermorden. Er ist nur knapp entkommen, wie zuvor bereits meine Mutter bei dem Mord an meinem Bruder. Zudem ist ein Plan aufgeflogen, meine Schwester Yolanda zu ermorden, die in einem anderen Bezirk Kolumbiens zwischen Quibdó und Riseralda lebt.
Warum zeigt der kolumbianische Staat so wenig Bereitschaft, einen derartigen Fall aufzuklären und die Verantwortlichen zu bestrafen?
Eine wichtige Hürde ist die omnipräsente Korruption, die es auf allen Ebenen des Justizsektors gibt – in den Gefängnissen, bei der Polizei und auch bei der Staatsanwaltschaft. Zudem zieht die Gegenseite alle Register, um die Verhandlungen zu unterlaufen, Ermittlungen zu behindern und das führt immer wieder zu Verzögerungen. Angst ist ebenfalls ein Grund für Straflosigkeit.
„Ich erhielt einen Anruf, dass ich auch den Tod meiner restlichen Familie miterleben werde.“
Warum?
Richter und Staatsanwälte haben Angst, derart komplexe und kompromittierende Fälle zu verhandeln. Auch sie erhalten häufig Drohungen oder Geldangebote – der Arm der organisierten Kriminalität reicht weit und die Korruption ist wie ein Krebsgeschwür, das alle Organe Kolumbiens erfasst.
Sie leben seit mehr als zwei Jahren in einem Versteck. Fühlen Sie sich fair behandelt?
Nein, ich fühle mich von der Staatsanwaltschaft inhuman behandelt. Sie haben mich fallen gelassen, nicht mal die Behandlung meines Traumas durch die Morde an meinen Brüdern wollten meine Arbeitgeber bezahlen. Auch die Abstellung von Leibwächtern musste ich einklagen – nach 24 Dienstjahren ohne jede Verfehlung in meinem Lebenslauf. Ohne die Hilfe der „Corporación Fasol“, einer Stiftung, die sich um bedrohte Richter, Staatsanwälte und Mitarbeiter des Justizsektors kümmert, sowie der Menschenrechtsorganisation „Somos Defensores“, wäre ich aufgeschmissen gewesen. Als wir nach Bogotá kamen, hatten wir wenig mehr als die Kleidung, die wir trugen – und die Generalstaatsanwaltschaft hat meine Briefe ignoriert. Trotzdem versuche ich mein Aussehen zu ändern, um nicht gleich erkannt zu werden. Mein Leben hat sich vollständig verändert.
Internationale Aufmerksamkeit ist also wichtiger als Petitionen, Eingaben und sonstiges Engagement in Kolumbien?
Kolumbien sorgt sich sehr um sein Image im Ausland. Deshalb ist die Berichterstattung im Ausland für mich sehr hilfreich. Generell hat sich trotz des Friedensprozesses das gesellschaftliche Klima wenig geändert. Zwar sind die Todeszahlen gesunken, nicht aber die der Morde an Menschenrechtsaktivisten, an politischen und sozialen Aktivisten. Der jüngste Fall, der in Kolumbien viel Aufsehen erregt hat, war ein Massaker, das an Kokapflückern in der Region von Tumaco begangen worden ist. Staatliche Sicherheitskräfte haben das Feuer auf die Bauern eröffnet. Letztlich ging es dabei um den Stopp des Kokaanbaus in der Region.
Vor einem Jahr wurde das Friedensabkommen zwischen Regierung und FARC-Guerilla unterzeichnet. Macht sich das positiv bemerkbar?
Es gibt trotzdem immer wieder Tote. Das jüngste Beispiel sind die zusammengeschossen Bauern, die dazu verpflichtet werden sollen, ihre Kokasträucher auszureißen und alternative Produkte anzubauen. Doch dazu bräuchten sie für den Übergang auch Alternativen, finanzielle Hilfen und Beratung beim Anbau. Ich blicke daher wenig optimistisch in die Zukunft. Ich glaube, dass alles noch schlimmer werden wird, weil Verpflichtungen nicht eingehalten werden, gegenüber den Opfern, aber auch gegenüber der Guerilla. Es besteht das Risiko, dass die einen wieder zu den Waffen und die anderen zur Selbstjustiz greifen.
Warum wird der Friedensprozess so schleppend umgesetzt? Fehlt es an politischem Willen?
Das ist sicherlich ein Grund, denn es gibt ja reichlich Widerstand. Ein anderer Grund ist die allseits präsente Korruption. Es gibt ja viel internationale Unterstützung für die Umsetzung des Friedensprozesses – Geld ist also vorhanden. Aber es scheint nicht dort anzukommen, wo es hin soll. Aus meiner Perspektive fehlt es auf staatlicher Ebene in vielerlei Hinsicht an den nötigen organisatorischen Strukturen – es wird viel improvisiert, es ist kaum etwas vorbereitet worden.
Was fehlt, um den Friedensprozess voranzubringen?
Die demobilisierten FARC-Kämpfer brauchen psychologische Unterstützung, aber auch die Bevölkerung ist kaum darauf vorbereitet, ehemalige Guerilleros in ihrer Nachbarschaft aufzunehmen.
Warum hat man das nicht besser geplant?
Es fehlt an Organisation, an klaren Strukturen, an Verwaltungskompetenz und nun konzentriert man sich auf die Verhandlungen mit der ELN – es fehlt an Kapazitäten.
Der Prozess gegen die Mörder ihrer Brüder läuft noch – wie ist der aktuelle Stand?
Es geht nur sehr langsam voran. Die Gegenseite versucht mit allen Mitteln, den Prozess zu stoppen. Zwei Zeugen wurden in den letzten Wochen ermordet und der zentrale Grund dafür ist, dass sie keinen Schutz vom Staat erhalten haben. Das ist nicht nachvollziehbar, aber eine Tatsache. Es gibt noch zwei weitere Zeugen, die in Gefahr sind, aber der Staat ist nicht auf die Idee gekommen, sie zu schützen. Das ist ein Grund, weshalb die Justiz in Kolumbien so schlecht funktioniert. Jene Justizmitarbeiter, die nicht korrupt sind, werden durch ihre Angst beeinflusst, denn mein Beispiel sorgt natürlich auch dafür, dass engagierte Staatsanwälte sich zweimal überlegen, ob sie aktiv werden.
Wo sehen Sie Ihre Zukunft und die Ihrer Familie?
In Kolumbien haben wir keine Zukunft. Wir hoffen sehr, dass wir in den nächsten Monaten mit Hilfe der Europäischen Union nach Spanien ausreisen können. Wir haben grünes Licht für die Kostenübernahme, eine spanische Nichtregierungsorganisation wird uns vor Ort begleiten und „Somos Defensores“ hat die Kontakte geknüpft und immer wieder nachgehakt. Nach zwei Jahren scheint unsere Ausreise nun Realität zu werden. Für uns bedeutet das Licht am Ende des Tunnels – endlich Sicherheit, denn hier leben wir de facto wie im Gefängnis. Wir trauen uns kaum vor die Tür.