Geld und solidarische Gesten brachten Luxemburgs Außenminister Xavier Bettel und die für militärische Angelegenheiten zuständige Ministerin Yuriko Backes in der vergangenen Woche mit in die Ukraine. Erstmals ließen sie sich dabei auch von Journalist*innen begleiten.

Mit einer luxemburgisch-belgischen Crew in einem Airbus A400M auf dem Weg nach Polen. (Foto: Thorsten Fuchshuber)
Überrascht und auch etwas verwirrt blickt die junge Frau auf die Gruppe aus Luxemburg. „Was macht ihr hier?“, fragt sie jene, die eigentlich gekommen sind, um selbst Fragen zu stellen. Die Gruppe von Beamt*innen und Journalist*innen, die den Außenminister und die Verteidigungsministerin Luxemburgs auf einem Kurztrip nach Kyjiw begleitet, hat sich nicht angekündigt.
Ihr bietet sich ein Bild der Verwüstung, hier im Stadtteil Swjatoschinski, wo kaum eine Woche zuvor, in der Nacht von 24. auf 25. April, ein russischer Marschflugkörper eingeschlagen ist. Ein Gebäude wurde dem Erdboden gleichgemacht, mehrere weitere stark beschädigt. Die Fenster der weiter entfernt liegenden Häuser wurden entglast, Balkone regelrecht aus dem Mauerwerk gerissen. Einige Äste an den jungen Bäumen eines nahegelegenen Hains sind umgeknickt, manche wurden von der Druckwelle abrasiert. In einiger Entfernung vom Detonationsort sind Arbeiter dabei, den Dachstuhl eines ebenfalls beschädigten Gebäudes zu reparieren.
Zwölf Menschen sind in dieser Nacht laut Timur Tkatschenko, dem Chef der örtlichen Militärverwaltung, in der ukrainischen Hauptstadt gestorben. Mindestens 90 Personen wurden verletzt. Mehr als 70 Raketen und rund 150 Drohnen wurden auf Kyjiw abgefeuert – die tödlichste Attacke, die die Stadt seit dem 8. Juli vergangenen Jahres erlebt hat, als insgesamt 34 Todesopfer und 121 Verletzte nach einem multiplen Angriff auf zivile Strukturen zu beklagen waren.
Die Frau, die uns angesprochen hat, ist mit anderen Freiwilligen dabei, einige der Ausbesserungsarbeiten an den weniger stark zerstörten Gebäuden voranzubringen. Richtig ins Gespräch kommen wir mit der Gruppe nicht. Wie fast immer heute haben wir auch an dieser Station unseres Programms sehr wenig Zeit. Dabei wäre es interessant, mehr über die Motivation dieser Anfang Zwanzigjährigen zu erfahren, die man mit ihren Piercings und ihrem Kleidungscode ebenso gut vor einem Club antreffen könnte. „Was macht ihr jetzt mit dem, was ihr hier gesehen habt, wird das etwas für euch ändern?“, fragt die junge Frau energisch nach: „Werdet ihr jetzt Hilfe organisieren?“ Fotografieren lassen will sie sich nicht. Als sie erfährt, dass wir erst heute Morgen angekommen sind und heute Abend schon wieder fahren, wechselt ihr Blick von forsch in fassungslos.
Der Grund für den Kurztrip ist rasch zusammengefasst. Es geht darum, weitere 21 Millionen Euro an Hilfen zu überbringen und symbolisch zu zeigen, dass Luxemburg weiter fest hinter der Ukraine steht. Rund 550 Millionen Euro hat das von Russland angegriffene Land bereits aus dem Großherzogtum erhalten, weitere 80 Millionen Euro Militärhilfe waren für das laufende Jahr bereits zugesagt. Hier kommen nun noch zehn Millionen Euro obendrauf. Die gleiche Summe geht in den Wiederaufbau ukrainischer Energieanlagen. Diese sind vor allem in den Wintermonaten ein bevorzugtes Ziel von russischem Beschuss. Eine weitere Million wird die Stiftung von Olena Selenska, der Ehefrau des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, erhalten. Das Geld wird in ein Programm zur Bewältigung der psychischen Folgen des Krieges bei Kindern investiert.
Es ist nicht das erste Mal, dass Außenminister Xavier Bettel (DP) in die Ukraine reist. Im Juni 2022, wenige Monate nach Beginn der russischen Invasion, war er schon einmal da, damals als Premierminister. Verteidigungsministerin Yuriko Backes (ebenfalls DP) war erst vor wenigen Wochen, im März dieses Jahres, zu einem „Arbeitsbesuch“ in Kyjiw. Nun jedoch nehmen die beiden erstmals auch Journalist*innen mit.
Flug mit Vorzeichen
Begonnen hat die Reise am Nachmittag zuvor: In einem Airbus „A400M“ am Flughafen Findel. Das Militärflugzeug wird vom 15. Lufttransportgeschwader der belgischen Luftwaffe betreut. Dazu gehört auch die sogenannte „20. Schwadron“, eine belgisch-luxemburgische Einheit, weshalb an diesem Tag zwei Luxemburger die Piloten sind. Das Motto des Geschwaders ist neben dessen Wappen an der Bordwand des Flugzeugs angebracht: „Tenacity“. Das lässt sich am ehesten mit „Beharrlichkeit“ oder „Zähigkeit“ übersetzen und ist nicht ohne Symbolik, denkt man an das Land, in das die Reise geht.

Wollen sich nicht unterkriegen lassen: Junge Freiwillige bei Aufräumarbeiten nach einen Angriff auf den Kyjiwer Stadtteil Swjatoschinski. (Foto: Thorsten Fuchshuber)
Es erinnert fast ein wenig an die Atmosphäre auf einem Schulausflug, als die Luxemburger Medienvertreter*innen sich der wuchtigen, bauchigen Propellermaschine nähern und den riesigen, nur spärlich isolierten Laderaum inspizieren, in dem einfache, entlang der Bordwände angebrachte, campingstuhlartige Sitze auf sie warten. So etwas erlebt man nicht jeden Tag.
Das gilt auch für den Journalisten der woxx, der eingeladen wird, während des Starts hinter den Piloten im Cockpit zu sitzen. Als sich die A400M dröhnend auf die Startbahn zu schiebt, überquert seelenruhig ein Fuchs das Rollfeld vor der herannahenden Militärmaschine. Seltsam, wie sich ungeachtet dieses Monstrums so etwas wie Normalität einstellt. „We‘ve got some wildlife on the runway“, gibt der Pilot dem Tower Bescheid. Da ist das Tier bereits im hohen Gras zwischen Rollfeld und Startbahn verschwunden. Das Transportflugzeug benötigt nur einen Bruchteil des Runways, der ihm in Luxemburg zur Verfügung steht. Dann ist es in der Luft und unterwegs in Richtung Polen.
Am Flughafen Rzeszow wird der Tross, zu dem neben den bereits Genannten auch ein fünfköpfiger Begleitschutz der Ministerin und ihres Kollegen zählt, bereits erwartet. In einem Autokorso geht es mit Blaulicht zum Bahnhof Przemysl.
Dort steht der Nachtzug, der die Reisegruppe über die Grenze und nach Kyjiw bringen wird. Von außen wirken die blauen, mit einem gelben Streifen dekorierten einstöckigen Zugwaggons etwas antiquiert. Im Inneren sind sie wesentlich moderner, auf jeden Fall aber komfortabel. Sogar dünne Matratzen liegen auf den Sitzpritschen. Kopfkissen, Decken und Bezüge gibt es ebenfalls in den Abteilen, die man sich zu zweien teilt. So lässt sich wunderbar schlafen. Sofern man sich nicht an den Fahrgeräuschen stört. Tack-tack, tack-tack – lautes Geratter beglaubigt jeden einzelnen Übergang zwischen den Schienen. Irgendwann gewöhnt man sich daran und wird morgens von einer netten Dame im blauen Kostüm der „Ukrsalisnyzja“, der Ukrainischen Eisenbahngesellschaft, geweckt. „Tea or Coffee?“
Überhaupt scheint die ukrainische Eisenbahn eine beeindruckende Institution zu sein, wie Luis de Vega, ein Kollege und Kriegsreporter von der spanischen Tageszeitung „El Pais“ später erzählen wird. Die Züge führen eigentlich zuverlässig überall. Nicht selten brächten sie ihn bis fast direkt an die Front.
Auch bei der Ankunft in Kyjiw werden wir bereits von einer Autokolonne erwartet. Schön ist die Stadt auf den ersten Blick, lädt sofort dazu ein, sich in ihren Straßen auf Erkundungsreise zu begeben und zwischen den Häuserschluchten zu verlieren, die in mancherlei Hinsicht an das heutige Berlin oder ähnliche Großstädte erinnern. Als hätte die Metropole diesen Gedanken erraten, taucht rechterhand plötzlich eine großformatige blaue Werbe-Stele am Straßenrand auf: „Kyiv is waiting for you after the victory!“
Kriegsspuren in der Kinderklinik

Gedenken an die Opfer eines russischen Raketenangriffs Ende April auf Kyjiw: Ministerin Yuriko Backes (zweite von rechts) und ihr Kollege Xavier Bettel (rechts). (Foto: Thorsten Fuchshuber)
Außerdem gibt es viel Grün. Immer wieder fahren wir an Parks vorbei. Eine Joggerin blickt auf ihre Fitnessuhr. Ein Fußgänger, der die Straße passieren will, lässt den Konvoi (der häufig zweispurig fährt, damit niemand überholen kann) ungerührt an sich vorbeiziehen – auf den Ohren trägt er dicke Kopfhörer. Womöglich gar mit Geräuschunterdrückung? Hat er denn keine Angst, einen etwaigen Raketenalarm zu versäumen? Von denen gibt es normalerweise bis zu fünf pro Tag. Uns wird das glücklicherweise erspart bleiben. Auf unserer Fahrt müssen wir uns zunächst anstrengen, überhaupt irgendwo Spuren von Beschuss an einem Gebäude zu entdecken. Das wird sich im Laufe des Tages ändern.
Meist finden die Angriffe nachts statt. Nicht so am 8. Juli 2024. Der ukrainischen Luftabwehr gelang es an diesem Morgen, 30 der russischen Marschflugkörper, die auf die Stadt abgefeuert wurden, abzufangen. Acht kamen durch. Mindestens 47 Menschen wurden bei den Detonationen getötet, rund 170 wurden verletzt. Getroffen hat es damals unter anderem die Kinderklinik Ochmatdyt. Dorthin sind wir nun unterwegs, um uns die Ruinen und den Wiederaufbau der umliegenden Gebäude anzusehen.
Das am schwersten beschädigte Gebäude des Komplexes ist zum Teil in sich zusammengestürzt und von einem Bauzaun umgeben. Auf dem Vorplatz stehen nun Yuriko Backes, Xavier Bettel und dessen ukrainischer Amtskollege Andrij Sybiha. Bei ihnen ist Serhii Cheznyshuk, der medizinische Direktor der Klinik. Er rekapituliert, was damals hier geschehen ist – laut UN-Menschenrechtskommissar Volker Türk „einer der schockierendsten Vorfälle seit Beginn der Invasion“.
Kapitulation ist keine Option
In einem angrenzenden Gebäude ist der Wiederaufbau in vollem Gange. Eine Lüftungsanlage wartet auf den Einbau, in den Fluren stehen Möbel, die eingeräumt werden wollen. Hier und dort erkennt man in Plastikfolie verpacktes medizinisches Gerät. Neue Fenster sind bereits eingebaut. Wenn so eine Rakete detoniert, zerstört die Druckwelle auch bei den umliegenden Gebäuden alle Scheiben.
Es geht hoch in den zweiten Stock, wo llia Yemets den Besuch bereits erwartet. Der kleine Saal, in dem er uns empfängt, ist mehr oder weniger leer. Mit einem Videobeamer führt der Herzchirurg, der auch zweimal das Amt des Gesundheitsministers innehatte, Handyaufnahmen aus dem Operationssaal vor, wo sein Team damals ungeachtet des Beschusses weiteroperierte, um das Leben des jungen Patienten nicht zu gefährden. Als Yemets die Bilder sieht, kommen ihm angesichts des Horrors von damals die Tränen. „In einem einzigen Moment wurde unsere Arbeit soweit zurückgeworfen“, ergänzt er und meint damit die zentrale Bedeutung der Klinik im hiesigen Gesundheitssystem: „Das war auch ein Schlag gegen die Entwicklung, die Zukunft der Ukraine.“

Serhii Cheznyshuk (rechts im Bildvordergrund) berichtet von dem Raketenangriff auf die Kinderklinik Ochmatdyt am 8. Juli 2024. (Foto: Thorsten Fuchshuber)
Auch Serhii Cheznyshuk hatte im Gespräch mit Backes und Bettel nicht zuletzt politische Kategorien bemüht. „Unser Feind gibt uns keine Alternative: Wir müssen hierbleiben.“ Auch Kapitulation sei keine Option, schiebt er hinterher – als wittere er bei seinen Zuhörer*innen entsprechende Gedanken – „weil unser Feind uns sogar danach noch töten wird“.
Ein wenig später kehrt der 43-Jährige im Gespräch auf dem Klinikgelände noch einmal zu seinen persönlichen Erinnerungen zurück. „Als der Luftalarm losging, konnte ich nicht einschätzen, ob er wirklich für unsere Gegend gilt“, sagt er. Trotzdem habe er sich in den Bunker unter der Klinik begeben. „Ich hörte, wie unsere Luftabwehr auf die Rakete zu schießen begann. Dann gab es einen lauten Knall. Ich habe zuerst gar nicht verstanden, dass der direkt aus unserem Gebäude kam.“ Als er den Bunker verließ, habe man wegen der Staubwolken kaum etwas sehen können. In der Nähe eines Fensters habe er eine Kollegin gefunden: „Sie tat gerade ihren letzten Atemzug.“ Außer der 30-jährigen Kinderärztin Swetlana Lukjantschuk starb an diesem Ort ein weiterer Mensch; dreißig Personen, darunter zehn Kinder, wurden verletzt. Russland wird später behaupten, all das sei von einer ukrainischen Luftabwehrrakete verursacht worden; eine Untersuchung der Vereinten Nationen kommt jedoch zu dem Schluss, dass es ein russischer Marschflugkörper des Typs Kh-101 war.
Cocktails und Drohnen
Von Ochmatdyt aus geht es zur Besichtigung einer Drohnenfabrik. Den Gang durch die Produktionsstätte darf die Presse aus Geheimhaltungsgründen nicht begleiten. Zeit also, ein wenig mit unserem Fahrer zu plaudern. „No food, no water“, fasst er die ersten Tage nach Beginn der russischen Invasion der Ukraine im Februar 2022 zusammen. Niemand von seinen Bekannten habe es damals gewagt, zuhause zu bleiben; auch er habe quasi im Auto und auf der Straße gelebt. Den Kofferraum voller Waffen und Molotow-Cocktails.
Damals, als die russischen Truppen sich noch auf Kyjiw zubewegten, bereitete sich auch die Zivilbevölkerung der Stadt auf einen erbitterten Straßenkampf vor. Die ukrainische Regierung gab sogar eine Anleitung heraus, wie man solche Brandbomben bastelt. Normalerweise bestehen sie aus Benzin und Heizöl, hier hatte man jedoch ein eigenes Gemisch mit Styropor. Obwohl die Rede vom „Molli“ längst Eingang in die Popkultur gefunden hat, ist er vor allem eine furchterregende Waffe, selbst wenn man in einem vermeintlich gut geschützten Panzer sitzt. Der Nachteil ist, dass man sich seinem Ziel auf Wurfdistanz nähern muss. Während die einen darauf hinwiesen, ein Einsatz könne auch im ukrainischen Fall gegen Kriegsrecht verstoßen, wurde der Brandsatz zugleich Gegenstand kulturanthropologischer Studien: als Beispiel erfolgreicher Selbstorganisation.
Unser Fahrer war froh, dass sich „nach 44 Tagen“ alles ein wenig normalisierte, wie er sagt, ehe er sich wieder hinters Steuer klemmt. Immer wieder kommen wir jetzt an mal mehr, mal weniger stark beschädigten Gebäuden vorbei. Das nächste Ziel ist die „Wand der Erinnerung an diejenigen, die für die Ukraine gestorben sind“. Dahinter erhebt sich das von vergoldeten Zwiebeltürmen gekrönte St. Michaelskloster, dessen Außenmauern die „Wand“ eigentlich bildet. 2015 wurde hier damit begonnen, Fotos und Biografien von jenen anzubringen, die seit Kriegsbeginn im Februar 2014 bei der Verteidigung des Landes gestorben sind. Hier legen Yuriko Backes und Xavier Bettel zwei Rosensträuße nieder.
Orte der Erinnerung
Wenn man den Blick die Längsachse des Mauerwerks entlangstreifen lässt, macht einen die schiere Dimension dieser schlichten Erinnerungsstätte fassungslos. All diese Menschenleben, die, meist noch in sehr jungem Alter, beendet wurden. Es kursieren unterschiedliche Angaben, wie viele Menschen seit 2014 gestorben sind, offizielle Zahlen gibt es kaum. Mitte Februar sagte Präsident Wolodymyr Selenskyj dem amerikanischen Fernsehsender „NBC“, seit Beginn der russischen Invasion im Februar 2022 seien 46.000 ukrainische Soldat*innen auf dem Schlachtfeld getötet, nahezu 380.000 weitere verwundet worden. „Laut von Kyjiw veröffentlichten Zahlen, UN-Statistiken und von BBC Russia veröffentlichten Open-Source-Daten belief sich die Gesamtzahl der Todesopfer unter ukrainischen und russischen Soldaten sowie unter ukrainischen Zivilisten seit Beginn der Invasion bis zum 31. März 2025 auf 158.341“, schreibt das englischsprachige ukrainische Onlinejournal „The Kyiv Independent“. Die tatsächliche Zahl der Opfer auf beiden Seiten sei aber vermutlich wesentlich höher. An der „Mauer der Erinnerung“ findet sich jedenfalls schon seit einiger Zeit kein Platz mehr, um die Porträts der jüngst Gestorbenen anzubringen.
Nur einige Schritte von hier entfernt, auf dem Michaelplatz, ist Kriegsgerät ausgestellt, das von russischen Truppen erbeutet worden ist. Vorbei an den Skeletten teils ausgebrannter Kampf- und Schützenpanzer, die nur mehr wenig über den von ihnen ausgegangenen Schrecken aussagen, bewegt sich die Gruppe zu Fuß in Richtung Außenministerium. Hier findet die Pressekonferenz statt, auf dem die Luxemburger Delegation den Umfang der neuen Hilfen offiziell verkünden wird.

Wurden auf dem Weg nach Kyjiw zerstört: Russische Panzer in einer Ausstellung auf dem Michaelplatz. Im Hintergrund das ukrainische Außenministerium. (Foto: Thorsten Fuchshuber)
Die Wartezeit überbrückt ein Gespräch mit dem bereits erwähnten Kollegen Luis de Vega. Exakt einen Tag vor der Invasion war der Spanier in Kyjiw angekommen, natürlich ohne zu wissen, dass sie nun stattfinden wird. Dann brach die Hölle los. Schlechtes Timing? „Perfektes Timing für einen Kriegsreporter!“
Die Konferenz beginnt. Als erstes meldet sich der ukrainische Außenminister Andrij Sybiha zu Wort, bedankt sich für den „wichtigen Beitrag“ zur Verteidigung der Ukraine. Xavier Bettel lässt die Eindrücke des bisherigen Tages noch einmal Revue passieren, zeigt Mitgefühl. Die Reise solle vor allem zeigen, dass man fest an der Seite der Ukraine steht. „Until the very end – in peace“, wie Yuriko Backes ergänzt. Der Auftritt von gleich zwei Vertreter*innen der luxemburgischen Regierung kommt hier augenscheinlich sehr gut an. Dass Bettel als Premierminister noch im März 2019 den damaligen russischen Ministerpräsidenten Dmitri Medwedew ins Großherzogtum eingeladen und mit militärischen Ehren empfangen hat, scheint den Blick auf den Gast aus Luxemburg heute nicht zu trüben. Er selbst präsentiert sich ohnehin gern als Brückenbauer, wo andere ihm unterstellen, auf zwei Hochzeiten zu tanzen.
Der Krieg und seine Folgen
Immer wieder an diesem Tag geht es auch darum, wie groß die Anstrengung sein wird, die langfristigen Folgen des Krieges zu bewältigen. Ob beim Besuch des Kyjiwer Büros der „LuxDev“, der Agentur, die die Entwicklungszusammenarbeit der Luxemburger Regierung umsetzt, wo es um die zahllosen im Land verstreuten Landminen und deren Gefahren insbesondere für Kinder geht, oder bei einer Zusammenkunft mit Olena Selenska und Vertreter*innen ihrer Stiftung. „Ein Stück Land zu entminen ist schwierig, aber die Psyche traumatisierter Kinder zu entminen kann eine noch komplexere und langwierigere Aufgabe sein – eine Aufgabe, die Jahre, wenn nicht gar ein ganzes Leben der Unterstützung und des Heilens bedarf“, so Bettel bei dieser Gelegenheit.

Xavier Bettel (Bildvordergrund), sein ukrainischer Amtskollege Andrij Sybiha und Yuriko Backes an der „Wall of Rememberance“ für die seit 2014 im Krieg gegen Russland getöteten Soldat*innen. (Foto: Thorsten Fuchshuber)
Just an dem Tag, an dem die Luxemburger Delegation in Kyjiw ist, hat die Ukraine ein vieldiskutiertes Abkommen unterzeichnet, das den USA die Kontrolle über einen Teil der künftigen Einnahmen aus seltenen Mineralien überträgt. Zwar sind keine konkreten Sicherheitsgarantien damit verbunden, doch die ukrainische Regierung darf zumindest hoffen, dass sie auch unter US-Präsident Donald Trump nun weitere Unterstützung durch die Vereinigten Staaten erhält – immerhin sind mit dem Vertrag amerikanische Kapitalinteressen im Spiel.
Der Tag neigt sich dem Ende zu. Der Autokonvoi ist auf dem Weg in das durch zahlreiche Straßensperren und Kontrollposten gesicherte Regierungsviertel, in dem ansonsten nur wenige Autos und Fußgänger zu sehen sind. Plötzlich biegt das Fahrzeug, in dem Bettel und Backes sitzen, ab. Der Bus mit den Journalist*innen bleibt einige Meter weiter am Straßenrand stehen. Die beiden Regierungsvertreter*innen sind auf dem Weg zu einem Treffen mit Wolodymyr Selenskyj, an dem die Medien aus Sicherheitsgründen nicht teilnehmen dürfen.
„Ich bewundere die Resilienz des Präsidenten Selenskyj und der ukrainischen Bevölkerung“, wird der luxemburgische Außenminister nach dem Treffen sagen. Der Delegation sei von ukrainischer Seite bestätigt worden, dass es aus den USA zuletzt positivere Signale gegeben habe: „Das Rohstoffabkommen soll mehr Investitionen für den Wiederaufbau der Ukraine mobilisieren“, so Bettel.
Doch noch ist der Krieg nicht vorbei, die Kosten werden also vermutlich weiter steigen. Mindestens 506 Milliarden Euro wird der Wiederaufbau der Ukraine laut aktueller Schätzungen von Vereinten Nationen, Weltbank und Europäischer Kommission über die nächsten zehn Jahre hinweg kosten. Damit ist in erster Linie die Behebung der in den drei Jahren seit Beginn der Invasion verursachten Schäden gemeint. Vor allem Transport, Energie, Handel, Industrie und Ausbildung sind davon tangiert. Auch der Wohnsektor ist weit stärker in Mitleidenschaft gezogen, als es diese Reportage womöglich suggeriert: 13 Prozent aller Wohnungen des Landes sind zerstört oder beschädigt; betroffen sind vor allem die Regionen, die näher an der Front gelegen sind. Während die russische Kriegswirtschaft quasi in Vollbeschäftigung brummt, liegt in der Ukraine die Arbeitslosigkeit, die nach Beginn der Invasion von neun auf fast 30 Prozent angestiegen war, noch immer bei 17 Prozent.
Das „tote Kapital“, das nicht in die Verwertung, sondern in die „unproduktive“ Waffenproduktion geht, wurde hierbei noch gar nicht berücksichtigt. Wobei Munition nicht nur töten, sondern auch Leben retten kann. In der Woche, die dem Besuch aus Luxemburg vorangegangen war, schoss die ukrainische Luftwaffe laut einer vom „Kyiv Independent“ zitierten Mitteilung „442 russische Shahed-Kamikaze-Drohnen und über 230 andere Angriffsdrohnen sowie 31 Kh-101/Kh-55SM-Marschflugkörper, sieben ballistische Iskander-Raketen, sechs Kalibr-Marschflugkörper und vier Kh-59/Kh-69-Lenkflugkörper ab“. Das sind insgesamt über siebenhundert Geschosse. Es muss nur eines davon durchkommen, um eine Zerstörung anzurichten, wie sie die Delegation am späten Nachmittag im eingangs erwähnten Swjatoschinski-Viertel besichtigt hat.
Lektionen der Geschichte
In der Abenddämmerung schlendert die Gruppe zum Abschluss über den geschichtsträchtigen Maidan, wo einmal mehr die verblüffende Normalität in Zeiten des Krieges auf die Besucher*innen wirkt. Viele Menschen sind unterwegs. Man sieht sie in Kaffees und Läden, beim Eisessen, Shoppen oder einfach nur beim ziellosen Bummeln. Es ist eine hart erkämpfte Normalität. Daran erinnern die zahllosen Fähnchen und Porträts, die in den umliegenden Grünanlagen befestigt wurden. Sie alle stehen für die vielen Toten, die es in den vergangenen elf Jahren im Land gegeben hat. Auch hier an jenem zentralen Platz, wo die so genannte „Revolution der Würde“ 2014 mit dem „Euromaidan“ ihren Anfang genommen hat. Was als Protest gegen die Entscheidung der damaligen ukrainischen Regierung begann, die ein geplantes Assoziierungsabkommen mit der EU nicht unterzeichnen wollte, endete im Februar 2014 mit dem Sturz von Präsident Wiktor Janukowytsch. Mehr als hundert Menschen waren da bereits gestorben. Kurz darauf begann die russische Annexion der Krim und die paramilitärische Intervention im Donbas, was in den bis heute andauernden Waffengang gemündet ist.
Der Luxemburger Besuch ist zu Ende, doch der Krieg und der Kampf um dessen Deutung wird weitergehen. Auch am 9. Mai, an dem diese Reportage erscheint und an dem in der Russischen Föderation der „Tag des Sieges“ der Sowjetunion über Nazi-Deutschland begangen wird. Wladimir Putin möchte das militärische Vorgehen gegen die Ukraine als Fortsetzung des „Großen Vaterländischen Krieges“ verstanden wissen. Selenskyj hingegen lud für das selbe Datum alle europäischen Staats- und Regierungschefs zur Feier des Europatages in die Ukraine ein.
Rund 50 Prozent der Rotarmist*innen waren laut dem Historiker Stefan Bollinger Russen, etwa 20 Prozent kamen aus der Ukraine, vier Prozent aus Weißrussland. Der höchste Orden, „Held der Sowjetunion“, wurde im Krieg 8.182 mal an Russen, 2.072 mal an Ukrainer verliehen. Um sich vom heutigen Angreifer abzugrenzen, hat die Ukraine das Gedenken an den Sieg über die Nazis seit dem vergangenen Jahr auf den 8. Mai vorverlegt. Am 9. Mai wird jetzt wie in Luxemburg der „Europatag“ gefeiert. Auch Xavier Bettel hat bei Redaktionsschluss angekündigt, alles zu versuchen, um dabei zu sein. Sein ukrainischer Amtskollege präzisierte, es gehe darum, „unsere Einigkeit und Entschlossenheit angesichts der größten Aggression in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg zu zeigen“.
„Werden die Lehren aus der Geschichte vernachlässigt, so wird sich das unweigerlich bitter rächen“, sagte Wladimir Putin vor fünf Jahren anlässlich des 75. Jahrestages des Sieges über Nazideutschland. George Orwell hatte diesen Sieg bereits drei Jahre, ehe er errungen wurde, vorausgesehen. So notierte er am 16. Mai 1942 in seinen Kriegskommentaren: „Die deutsche Invasion in Russland wurde weniger durch Waffen als durch einen Akt des Willens besiegt, der auf dem Wissen der russischen Bevölkerung basiert, dass sie für ihre Freiheit kämpft.“
Liest man Orwells Zeilen heute, kommt man kaum umhin zu denken, Wladimir Putin habe seine eigene Lektion nicht gelernt.