Soll sich Luxemburg ohne Murren an der nun losgetretenen Aufrüstungsspirale beteiligen? Hiesige NGOs versuchen, eine Debatte über Sinn und Zweck der neuen Militarisierung anzuregen. Ende Oktober stand dabei ein Vergleich der militärischen Potenziale der Nato und Russlands auf dem Programm. Der Diskussionsverlauf zwischen Friedensforschern und ex-Militärs sorgte bei nicht wenigen für Ärger.
Drei Tage nach Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine Ende Februar 2022, reagierte der damalige deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz wie viele andere seiner europäischen Homologen. Im Hinblick auf die Bedrohung aus Russland unter dessen Präsident Wladimir Putin sollten die jeweiligen Streitkräfte der EU-Mitgliedstaaten „fit“ gemacht werden. Sprich: mehr und schneller investieren. Mit einer zusätzlichen Finanzspritze von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr, dem sogenannten Sondervermögen, kündigte Scholz eine „Zeitenwende“ an. Seitdem wird in Deutschland und vielen anderen Mitgliedstaaten der EU eifrig über die Notwendigkeit einer Aufrüstung diskutiert.
Auch in Luxemburg versucht ein Zusammenschluss aus verschiedenen NGOs die bitter nötige Debatte in Gang zu bringen. Am 21. Oktober hatten die „Friddensplattform“, „Greenpeace Luxemburg“ und die katholische „Justitia et Pax“ Alexander Lurz eingeladen. Und seine Meinung zum deutschen Aufrüstungsvorhaben ist klar: „Die Summe ist übertrieben“. Die rasante Militarisierung sei längst nicht unvermeidlich und in diesem Ausmaß nicht notwendig, so der Abrüstungsexperte von Greenpeace Deutschland.
Lurz sitzt zusammen mit dem Friedens- und Konfliktforscher Herbert Wulf vom „Stockholm International Peace Research Institute“ (SIPRI) in einem Saal des „Casino Syndical“, um die Ergebnisse eines Greenpeace-Berichts mit dem Titel „Wann ist genug, genug?“ zu den militärischen Potenzialen der Nato und Russlands vorzustellen. Mit am Tisch sitzt Patrick Fautsch, Oberst der luxemburgischen Armee im Ruhestand und ehemaliger Militärvertreter des Großherzogtums in verschiedenen EU- und Nato-Militärausschüssen. Entgegen den Erwartungen einiger Personen aus dem Publikum geht es an diesem Abend nicht um ein klares Plädoyer gegen Militarisierung, sondern um zwei Hauptfragen: Inwiefern stellt Russland eine Bedrohung dar? Und: Wie berechtigt sind die aktuellen Aufrüstungen in Milliardenhöhe?
Seit den späten 1980er-Jahren habe sich der Kräftevergleich zu Gunsten der Nato verschoben, erläutert Lurz. Dies zeigten nicht nur die jährlichen Ausgaben, denen zufolge der gesamte Militäretat des Nato-Bündnisses (auch ohne die USA) seit 2014 konsequent höher ist als das russische Budget. Auch was die Großwaffensysteme und die Truppenstärke angeht, seien die europäischen Nato-Mitgliedstaaten Russland gegenüber militärisch überlegen, so die Experten auf der Konferenz. Einzige Ausnahme: die strategischen Bomber, von denen Russland 129 besitze, die USA 140 und die europäischen Nato-Staaten keine, so Lurz. Doch hier würden die EU-Länder nachrüsten. Im Durchschnitt seien die Nato-Waffen zudem um zehn Jahre moderner.
„Erst ist der Bedarf zu definieren, dann das Budget – nicht andersherum.“
Von den sechs Bereichen, die die Greenpeace-Studie analysiert hat, gebe es lediglich einen „Gleichstand“: bei den Atomwaffen. Nachholbedarf bei den jährlichen Rüstungsausgaben bestehe demnach nicht. „Die absurden Summen, die bei Erfüllung des neuen Nato-Ziels fällig würden – fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts sollen für Verteidigung ausgegeben werden – muten vor diesem Hintergrund noch absurder an“, so Lurz auf Nachfrage der woxx im Anschluss der Veranstaltung: „Erst ist der Bedarf zu definieren, dann das Budget – nicht andersherum.”
Unter Druck des Nato-Bündnisses und dort vor allem aus den USA („Aufrüstungswahn: Öl ins Feuer“, woxx 1843) plant Luxemburg aktuell fast eine Verdoppelung der militärischen Ausgaben von 600 Millionen Euro auf 1,18 Milliarden bis Ende dieses Jahres. Davon sollen 120 Millionen in die Ukraine fließen, aber auch in Material wie schwere Jaguar-Radpanzer mit 40mm-Kanonen-Bewaffnung. Bis 2030 sollen drei Prozent des Bruttonationaleinkommens für Rüstung ausgegeben werden, also rund 2,3 Milliarden Euro. „Gleichzeitig fehlen die Gelder an anderer Stelle“, so Lurz: „Die europäische Wirtschaft muss zur Klimaneutralität umgebaut werden, soziale Missstände, zum Beispiel beim Wohnen, bekämpft werden, eine bessere Bildungspolitik finanziert werden und vieles mehr.“ Stattdessen werde mehr Geld ins Militär gepumpt. Mehr Aufrüstung bedeute zudem mehr Emissionen.
Dass die Investitionen überhaupt an die Wirtschaftskraft eines Landes gekoppelt würden, wie von Donald Trump mit den von ihm geforderten Rüstungsangaben in Höhe von fünf Prozent des (BNE), sei ohnehin „unsinnig“, pflichtet der SIPRI-Forscher Herbert Wulf ihm bei. „Das ist ungefähr so, als wenn Sie jeder Familie empfehlen, 30 Prozent des Einkommens, egal wie hoch, für Ernährung auszugeben. Man müsste eigentlich fragen, was die Aufgaben der Streitkräfte sind, was die Bedrohung ist, und was wir für Personal und Ausrüstung brauchen. Daraus bestimmt sich dann der Haushalt für die Streitkräfte“, so der Friedens- und Konfliktforscher auf der Veranstaltung.

Mit Ausnahme der strategischen Bomber, besitzen die europäischen Nato-Mitgliedstaaten mehr einsatzbereite militärische Großwaffensysteme als Russland, so der auf der Konferenz vorgestellte Greenpeace-Bericht. (Copyright : Greenpeace Deutschland)
Die Rüstungspotenziale sind eine Sache, die Einsatz- und Leistungsfähigkeiten der Streitkräfte ein anderer – entscheidender – Faktor. In einem Bericht aus dem Jahr 2025 kam der EU-Rechnungshof zu dem Schluss, dass die EU-Mitgliedsstaaten militärisch nicht genügend auf eine schnelle und große Verlegung von Personal und Ausrüstung vorbereitet seien. Dagegen hat die Nato ein strategisches Konzept entwickelt, das den möglichen Einsatz von 500.000 Truppen binnen sechs Monaten an der Ostgrenze mit Russland vorsieht. Ob solche Strategien innerhalb des vorgesehenen Zeitrahmens in der Praxis ohne Probleme umsetzbar sind, muss sich laut der Greenpeace-Studie jedoch erst noch zeigen.
„Eine für die aufgewendeten Summen zu erwartende Verbesserung der militärischen Fähigkeiten ist nicht zu erwarten“, kritisiert Lurz. In Europa fördere die starke Nachfrage Preissteigerungen, führe zu Lieferengpässen und Konkurrenz zwischen den Rüstungsfirmen. Die eigentliche Produktion steige dabei längst nicht so schnell, wie es sich die Nato-Staaten trotz Zuschüssen und Verordnungen der EU zu deren Ausbau erhoffen. Auch Russland tut sich laut der Analyse der Experten schwer: Die russische Wirtschaft greift massiv auf Lagerbestände zurück. Als Angriffsland habe der Staat Schwierigkeiten, ausreichend Material und Truppen an die Front zu verlegen. Trotzdem sei die Bedrohung aus Russland auch über die Ukraine hinaus ernst zu nehmen: Strategisch habe Putin den Nato-Staaten einiges voraus, so Wulf.
“Die Möglichkeiten, das Sanktionsregime gegen Russland auszubauen, sind bei Weitem noch nicht ausgeschöpft.“
Oberst Fautsch, der eingeladen ist, um die Vorträge der beiden Forscher kritisch zu kommentieren, pflichtet den beiden bei. Es gebe an anderer Stelle Nachholbedarf, vor allem was die Effizienz und Kooperation zwischen den EU-Mitgliedstaaten betreffe, so Fautsch. Die EU müsse von den USA unabhängiger werden und mehr diplomatische Initiative zeigen. Auf weitere Angriffe in der Ukraine und auch auf die Staaten des Baltikums „müssen wir vorbereitet sein“, so der ehemalige Militär. Zugleich macht er klar: Mehr Initiative darf nicht mit blinder Aufrüstung einhergehen. Vielmehr seien stärkeres strategisches Handeln und ein Dialog zwischen der Nato und Russland gefragt.
„Mögliches Handeln hätte unter anderem die Einbeziehung von Akteuren wie Brasilien, China, Südafrika und anderen umfasst, die ihre Vermittlung angeboten haben“, so auch der Greenpeace-Experte Lurz auf Nachfrage der woxx. „Die Möglichkeiten, das Sanktionsregime gegen Russland auszubauen, sind bei Weitem noch nicht ausgeschöpft. Das umfasst das konsequente Vorgehen gegen die russische Schattenflotte, aber auch die Erfassung und Beschlagnahmung des Vermögens Putin-treuer Oligarchen in Europa“, sagt Lurz, der davor warnt, in eine „Sackgasse“ zu geraten.
Als Fautsch weiterredet, geht plötzlich ein Raunen durch den Saal. „LuxDefence“, ein rüstungsindustrieller Interessenverband, der die hiesige Handelskammer und verschiedene luxemburgische Unternehmen zusammenfasst, sei ein guter Ansatz, gibt sich der ex-Soldat überzeugt. Schnell werden Stimmen laut: „Und wie machen wir jetzt Frieden?“, tönt es erbost aus dem Publikum. Weitere Rufe folgen, spontaner Beifall bricht aus. Mehrere Minuten verstreichen, ehe sich die Stimmung wieder etwas legt. Als Friedensplattform verstehe man das Unbehagen der Anwesenden nur zu gut, beruhigen die Organisator*innen. Sinn der Konferenz sei es jedoch, einander zuzuhören.. Fautsch reagiert gefasst auf die Einwürfe und lässt sich nicht aus dem Konzept bringen: 1,5 Prozent des RNB sollen in die nationale „Resilienzstrategie“ fließen. Der Fokus müsse auf den Beschaffungsstrukturen liegen, die genauer ausgearbeitet werden müssten, etwa durch die Einrichtung einer Agentur.
Der Unmut im Saal angesichts solch wenig grundsätzlicher Kritik an Aufrüstung bleibt groß. Erneut wird es hitzig. In Luxemburg schenke die Verteidigungsministerin Yuriko Backes (DP) „LuxDefence“ mehr Gehör als der Zivilgesellschaft, kritisiert jemand aus den Reihen des Mitveranstalters „Justitia et Pax“. Ängste um dominierende wirtschaftliche Interessen, eine Wehrpflicht, um Kriegsflüchtende und die Klimakrise werden geäußert. „Was ist mit unseren Enkelkindern?“, fragt eine Person.
Ein Gefühl von Ohnmacht und Wut breitet sich aus, und die ernüchternde Erkenntnis, dass die Friedensbewegung in Luxemburg sich trotz Aufrufen schwer tut, neue, jüngere Mitglieder zu mobilisieren. Auf derlei Reaktionen haben die Experten nur wenige Antworten. Die russische Bedrohung könne man trotz der Überlegenheit der Nato nicht ignorieren, mahnt Lurz erneut. Wie der Verteidigungsbedarf zu definieren ist, bleibt aber offen. Das, so die Experten, sei keine „Zahlen-Frage“, sondern hänge vom politischen Willen ab.


