Am vergangenen Dienstag sollte vor dem Strafgericht in Luxemburg der Prozess gegen TeilnehmerInnen des „March for Freedom“ beginnen, bei dem vier PolizistInnen Klage gegen sechs DemonstrantInnen führen. Der Prozess wurde auf den 5. und 6. April 2017 verlegt, da die Staatsanwaltschaft es versäumt hatte, Dolmetscher für alle Angeklagten zu organisieren. Der ehemalige Abgeordnete Justin Turpel (déi Lénk) kommt auf die Hintergründe zurück.
Es gibt sehr viele Gründe, gegen die Politik der EU gegenüber den vor Krieg und Elend in Afrika und im Nahen Osten Flüchtenden zu protestieren. Der Krieg, den die Mächtigen der Welt in diesen Ländern führen, hat zigtausenden Menschen das Leben gekostet, ganze Städte zerstört. Millionen Menschen, denen auf diese Weise ihr Zuhause genommen wurde, fliehen in ihre Nachbarländer. Ein Teil von ihnen kommt nach Europa. Auf ihrer Flucht sind über zwanzigtausend Erwachsene und Kinder im Mittelmeer ertrunken. Aber anstatt mit ihrer Rettung befasst sich die EU vornehmlich damit, Flüchtenden die Einreise nach Europa zu verwehren. Milliarden werden in die Grenzsicherung investiert, statt an den Außengrenzen gelegenen Ländern wie Italien oder Griechenland zu Hilfe zu kommen oder den Betroffenen selbst zu helfen und ihr Überleben zu sichern.
Im März 2014 organisierten zahlreiche Flüchtlings- und Hilfsorganisationen den Solidaritätsmarsch „March for Freedom“, um gegen diese Politik der EU zu protestieren. Der „Marsch der Freiheit“ verband die Sitze der europäischen Institutionen Straßburg, Luxemburg und Brüssel. Bereits im Vorfeld fanden in Berlin mehre Aktionen statt, so beim Bundestag und am Brandenburger Tor. Dort war den DemonstrantInnen die Teilnahme an einer Arbeitssitzung der EU-Kommission zum Thema Meeresgrenzen gelungen; ein Sprecher des Freiheitsmarsches war sogar offiziell eingeladen worden, um den Standpunkt der Flüchtlingsorganisationen vorzutragen.
Wut und Verzweiflung
Nach mehreren Aktionstagen in Straßburg startete der Marsch am 20. Mai in Richtung Saarbrücken, um von dort über Luxemburg nach Brüssel zu gelangen, wo vom 20. bis zum 28. Juni eine Aktionswoche stattfand. Für den Aufenthalt in Luxemburg, wo am 4. und 5. Juni die europäischen Innenminister tagen sollten, waren fünf Tage eingeplant. Die Unterbringung in Zelten und Sporthallen und war von AktivistInnen vor Ort, gemeinsam mit Gemeindeverwaltungen, im Voraus geplant und organisiert worden.
Am 1. Juni hießen AktivistInnen an der Grenze von Schengen nach Luxemburg mehrere Hundert DemonstrantInnen willkommen. Mit Spruchbändern und Sprechchören, Flugblättern und Aufklebern, Gesang und Tanz, wurde das Anliegen der Betroffenen nach Luxemburg getragen. Unter den TeilnehmerInnen waren zahlreiche Geflüchtete, die nicht über ein Aufenthaltsrecht in der EU verfügten, die sich dennoch das Recht nicht nehmen ließen, ihre Wut und Trauer über das Schicksal ihrer Brüder und Schwestern öffentlich auszudrücken. Das Dörfchen Schengen, dessen Name nicht nur für Reisefreiheit, sondern auch für die „Festung Europa“, für Abweisung, Repression und elendes Ertrinken im Mittelmeer herhalten muss, hatte eine derart bunte Ansammlung protestierender Menschen seit der Besetzung des Standplatzes für das AKW Schengen und den Demonstrationen gegen das AKW Cattenom nicht mehr gesehen.
Die DemonstrantInnen hatten beschlossen, den InnenministerInnen der Europäischen Union, die am 4. und 5. Juni in Luxemburg auf Kirchberg tagten (1) und für die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache Frontex zuständig sind, einen Besuch abzustatten, um ihr Anliegen bei deren Tagung vorbringen zu können – so wie ihnen dies zuvor beim Workshop der EU-Kommission in Berlin gelungen war. Bei eben diesem Besuch des InnenministerInnentreffens, der zu Protesten und der Besetzung des Eingangsbereichs des Tagungsgebäudes führte, kam es zu Zwischenfällen, die jetzt ein gerichtliches Nachspiel haben.
Von Anfang an war klar, dass weder das Polizeiaufgebot vor Ort, noch die hinzugerufenen PolizistInnen den Ansprüchen einer solchen Protestaktion gewachsen waren. Das Anliegen der DemonstrantInnen war es, auf ihre Forderungen aufmerksam zu machen und sie beim MinisterInnentreffen vorzutragen. Nachdem die DemonstrantInnen sich im Eingangsbereich des Tagungsgebäudes zu einem „Sit-In“ niedergelassen hatten, hat die Polizei darauf verzichtet, auf angemessene Weise mit ihnen zu kommunizieren. Als der Befehl zur Räumung kam, wurden die DemonstrantInnen unter Anwendung grober Gewalt aus dem Gebäude gezerrt, Steintreppen hinunter geschleift bzw. geworfen, mehrere wurden in den Würgegriff genommen, andere immer wieder mit Pfefferspray besprüht. Es wurden Schlagstöcke eingesetzt und Menschen wie totes Vieh hinter die Barrikaden geschmissen. Videoaufnahmen sowie zahlreiche Fotos zeugen von der Brutalität, die angewandt wurde.
Grobe Gewalt statt Deeskalation
Dass es bei diesen Tumulten auch zu Gegengewalt kam, war ebenso voraussehbar wie unvermeidlich. DemonstrantInnen wehrten sich, einige machten ihrer Wut Luft, indem sie mit dem Fuß gegen die Barrikade traten, hinter die man sie geschmissen hatte, einer soll seine Schuhe auf eine Polizistin geworfen haben. Diese Gegenreaktionen, nichts anderes, stehen jetzt zur Anklage.
In der Anklageschrift findet sich kein Wort über das Verhalten der Polizei, das ausschließlich auf Konfrontation ausgelegt war. Durch die Unfähigkeit, ein deeskalierendes Verhalten anzunehmen, wie es europaweit in jeder Polizeischule gelehrt wird; durch die Unfähigkeit der Polizei, mit den BesetzerInnen zu kommunizieren; durch ihr brutales Eingreifen, eskalierte die Situation, bis die Aktion völlig aus dem Ruder lief. Haftbar gemacht werden jetzt einzig und allein die DemonstrantInnen, drei AktivistInnen aus Europa und drei Flüchtlinge.
Ob die Eskalation tatsächlich auf die eklatante Unfähigkeit der Polizeiverantwortlichen vor Ort zurückzuführen ist oder gar gewollt war, entzieht sich unserer Kenntnis. Fest steht jedenfalls, dass sich der Einsatzleiter vor Ort persönlich durch brutales Vorgehen auszeichnete und beispielsweise DemonstrantInnen die Steintreppen herunterzerrte.
Angriff mit scharfem Hund und Kessel
Wer gab den Befehl, eine Demonstrantin gezielt mit einem scharfen Polizeihund anzugreifen? Geschah dieser Angriff auf Befehl der Einsatzleitung oder auf Eigeninitiative des Polizeihundeführers hin? Lediglich dem Umstand, dass ein anderer Demonstrant sich schützend vor die Angegriffene stellte, ist es zu verdanken, dass diese nicht noch schwerer verwundet wurde. Obwohl die Betroffene starke Bisswunden erlitten hatte, wie Fotos belegen, wies der Einsatzleiter später den Vorwurf des Einsatzes eines beißenden Polizeihundes vehement zurück und behauptete, alle Hunde hätten stets Maulkörbe getragen (2).
Nachdem die Lage sich beruhigt hatte, DemonstrantInnen noch ihre mit Reizgas verletzten Augen und sonstige Wunden verarzteten und den Beschluss gefasst hatten, weiterzuziehen, wurden sie erneut eingekesselt und angegriffen. Gezielt wurden 13 von ihnen vorrangig von PolizistInnen in Zivilkleidung ausgesondert und brutal verhaftet. War dies wiederum eine Aktion von in Eigeninitiative handelnden PolizistInnen, die sich rächen wollten, oder von der Polizeidirektion oder der Staatsanwaltschaft angeordnet?
Es sei klargestellt, dass es hier nicht um Polizisten-Bashing geht! Zahlreiche BeamtInnen sehen den Polizeidienst als öffentliche Dienstleistung zum Schutz und zur Sicherheit der BürgerInnen.
Vor Ort hat sich keinE PolizistIn gegen den Einsatz gewehrt und sein/ihr im Beamtenstatut verankertes Recht auf Einspruch geltend gemacht. Auf Grund dieses in Deutschland als „Remonstration“ bekannten Widerspruchsrechts von PolizeibeamtInnen hatte am Tag der Ereignisse auf Kirchberg eine ganze Hundertschaft der Hamburger Polizei den Befehl ihres Einsatzleiters verweigert, einen von Geflüchteten organisierten Sitzstreik vor dem Hamburger Rathaus zu räumen.
Wessen Geistes Kind ist solches Handeln?
Bei der Aktion auf Kirchberg haben verschiedene BeamtInnen sich durch ein außergewöhnlich gewalttätiges Vorgehen hervorgetan. Sind diese PolizistInnen, die zu keinerl Empathie mit Geflüchteten fähig scheinen, ein Ausdruck der Tatsache – wie es ein ehemaliger Polizeikommandant formulierte -, dass rechtsextremes Gedankengut in einem militärisch organisierten Betrieb wie der Polizei stärker verankert ist als in der übrigen Bevölkerung (3)? Soll es in der Polizeischule – wo Deseskalation bis dahin offensichtlich nicht auf dem Lehrprogramm stand – nicht auch um Empathie und Verständnis für andere Menschen gehen? Hat sich mit der Polizeireform von Minister Etienne Schneider etwas an der Ausbildung geändert?
Nach der „Räumung“ wurden die 13 Verhafteten ins Polizeikommissariat im Bahnhofsviertel verfrachtet, wo es zu teils heftigen Verhören kam. Die übrigen TeilnehmerInnen am Marsch, unter ihnen auch AktivistInnen aus Luxemburg, versammelten sich auf der Place Clairefontaine und anschließend vor dem Polizeikommissariat, um die Freilassung ihrer KollegInnen zu fordern. Durch das Einwirken einer von den solidarischen AktivistInnen hinzugerufenen Anwältin, wurden alle Inhaftierten nach mehreren Stunden freigelassen. Einer von ihnen berichtete, während des Verhörs nicht nur beschimpft, sondern auch geschlagen worden zu sein; er gab an, Klage gegen die verantwortlichen PolizistInnen führen zu wollen. Daraufhin war in der hiesigen Presse zu lesen, die IGP („Inspektion générale de la Police“) würde in dieser Angelegenheit eine interne Untersuchung durchführen. Eine Verhaftete beklagte sich über sexuelle Belästigung durch einen bestimmten Polizisten, der aber, als die Anwältin auftauchte, verschwunden war.
Verzicht auf Klage gegen die Polizeigewalt
Dennoch beschlossen schließlich alle Verhafteten und DemonstrantInnen auf jegliche Klage gegen die Polizei – sowohl gegen kollektive wie individuelle Polizeigewalt – zu verzichten, um kein Öl ins Feuer zu gießen. Aus den selben Gründen verzichtete auch die Demonstrantin, die von einem Polizeihund angegriffen und verletzt worden war, auf Klage.
Fast zwei Jahre nach diesen Vorfällen, kurz vor Ende der Verjährungsfrist, meldete sich die luxemburgische Staatsanwaltschaft, um in Luxemburg sechs TeilnehmerInnen vor das Strafgericht zu zitieren. Den Angeklagten wird „Gewalt gegen Beamte“ (Artikel 280 des Strafgesetzbuches), erschwert durch Verletzung oder Krankheit (Artikel 281) vorgeworfen. Allein darauf stehen drei Monate bis zwei Jahre Gefängnis sowie eine Geldstrafe von 500 bis 5.000 Euro. Systematisch zur Anwendung kommt in der Anklageschrift ebenfalls Artikel 269 („Rebellion nach vorheriger Vereinbarung“), wobei die vorgesehene Strafe ein bis fünf Jahre Gefängnis und eine eventuelle Geldstrafe von 251 bis 2.000 Euro beträgt. In zwei Fällen wird Beamtenbeleidigung angeführt (Artikel 276; acht Tage bis zwei Monate Gefängnis und eine Geldstrafe von 251 bis 2.000 Euro). Ein Demonstrant, der mit dem Fuß gegen die Barrikaden getreten haben soll, riskiert dafür acht Tage bis einen Monat Gefängnis sowie 251 bis 5.000 Euro Geldstrafe (Artikel 526 des Strafgesetzbuches).
JedeR einzelne der Angeklagten riskiert somit zwischen 15 Monaten und sieben Jahren Gefängnis, sowie Geldstrafen, die die einzelnen Personen niemals tragen können. Vergessen werden darf auch nicht, dass Flüchtlinge, die sich noch in der Prozedur befinden, zusätzlich Gefahr laufen, ausgewiesen zu werden. Das wissen Kläger und Staatsanwaltschaft sehr wohl.
Klage einzelner Polizisten
Nicht die Polizei führte Klage gegen die Beschuldigten, sondern vier PolizistInnen, die einzelne DemonstrantInnen vor Gericht und ins Gefängnis bringen möchten. Vier PolizistInnen, die stellvertretend für die gesamte Polizei Flüchtlinge kriminalisieren wollen, obschon gerade die Brutalität der Polizei zur oben beschriebenen Auseinandersetzung führte.
Den Angeklagten wurde dies aber erst mitgeteilt, als die Frist, innerhalb der sie Klage gegen die Polizeigewalt hätten einreichen können, verstrichen war! Das „Agreement“ (Übereinkommen) der Anwältin zur Freilassung der Inhaftieren, die im Gegenzug auf jegliche Klage verzichteten, wurde so hintergangen. Die Staatsanwaltschaft, die die rechtliche Möglichkeit hat, in Erwägung aller Umstände die Klage nicht weiter zu verfolgen, haut in dieselbe Kerbe und pocht auf eine Verurteilung der DemonstrantInnen! Dabei wurde nicht einmal einE UntersuchungsrichterIn eingeschaltet, der/die in einer Voruntersuchung und unter Berücksichtigung der gesamten Umstände die Klage hätte fallen lassen können. DieseR hätte sich beispielsweise die Videoaufzeichnungen des Eintrittsbereichs des Konferenzzentrums beschaffen können und eine Untersuchung zu Lasten und Entlastung („à charge et à décharge“) durchführen können. Dann ständen diese Aufnahmen jetzt noch zur Verfügung und wären nicht gelöscht worden. Auch Polizeiminister Etienne Schneider hätte sich die Aufnahmen besorgen und einsehen können, um sich so ein objektives Bild von dem, was passiert war, machen zu können – was ihm der Autor dieser Zeilen mehrfach nahegelegt hat.
Natürlich kann jedeR, dem Unrecht widerfahren ist, Klage bei der Staatsanwaltschaft einreichen. Ein Beamter, dem in der Ausübung seines Dienstes in seinen Augen Unrecht widerfahren ist, muss sich zuallererst an seine hierarchischen Vorgesetzten wenden, damit diese die nötigen Schritte einleiten. Sind diese nicht dazu bereit, kann er dies beanstanden. Im vorliegenden Fall kann man sich des Eindrucks jedoch nicht erwehren, dass ein Teil des Polizeiapparates mit der wohlwollenden Unterstützung der Staatsanwaltschaft (deren Rolle beim Ablauf der Aktion auf Kirchberg noch zu klären bleibt), ein Exempel gegen Flüchtlinge und deren Solidaritätsbewegung statuieren will. Wie viel Hass (Hass im Sinne von Carolin Emcke (3), der diesjährigen Friedenspreisträgerin des Deutschen Buchhandels) spielte bei dieser Konfrontation und der eingereichten Klage mit?
Bis heute ist immer noch nicht bekannt, was bei der internen Untersuchung der „inspection générale de la Police“ über die Vorfälle am 5. Juni 2014 im Polizeikommissariat festgestellt wurde. Als der Einsatzleiter den Angriff des Polizeihundes gegenüber Abgeordneten und dem Polizeiminister abstritt, beteuerte Etienne Schneider gegenüber dem Autor, weder der Einsatz des Hundes, noch die Verneinung der mit Fotos belegten Tat, wären akzeptabel; dies hätte ein Nachspiel gehabt und der Betroffene wäre zur Rechenschaft gezogen worden. Worin bestanden die Konsequenzen? Ist die vorliegende Klage von einzelnen PolizistInnen eine späte Rache dafür, dass dieser Einsatz polizeiintern nicht ohne Konsequenzen geblieben war?
Nirgendwo, weder in Berlin, noch in Straßburg oder Brüssel, noch an Grenzen, die überquert wurden, stellte der „March for Freedom“, mit seinen Forderungen wie „Freedom not Frontex“, ein Problem dar – außer in Luxemburg.
Es handelt sich hier um einen politischen Prozess, bei dem vordergründig Flüchtlinge und AktivistInnen angeklagt sind, es im Grunde jedoch um die Rolle der Polizei geht. Auf die zahlreichen bisher unbeantworteten Fragen, die sich dabei stellen, wird zurückzukommen sein.