Meinungsfreiheit: Wer cancelt hier wen?

Im Umgang mit kritischen Tweets oder polarisierender Satire wird häufig eine kollektive Überforderung deutlich. Wer innerhalb dieser Debatten als „cancelled“ gilt, hat viel mit gesellschaftlichen Machtstrukturen zu tun.

Ist ein Video, in dem rassistische Polizeigewalt thematisiert wird, menschenverachtend? (Quelle: Screenshot von https://www.funk.net/channel/aurel-12064/racial-profiling-1701278)

Wir leben in einer Zeit, in der Menschen mit umstrittenen Ansichten systematisch ausgegrenzt, eingeschüchtert und am Ausüben ihres Jobs gehindert werden. Der Pool an Verbannten wird immer größer, die Möglichkeit, sich gegen den Social-Media-Mob zu wehren, immer kleiner. Weltweit melden sich verängstigte Persönlichkeiten zu Wort, um diese als unaufhaltsam empfundene Entwicklung – gemeinhin „Cancel Culture“ genannt – anzuprangern.

Diesen Eindruck dürften zumindest diejenigen erhalten haben, die in den vergangenen Wochen die Diskussionen rund um die Absage einer Lesung der österreichischen Kabarettistin Lisa Eckhart in den deutschen Medien mitverfolgt haben. Im Tagesspiegel hieß es, politische Widersacher*innen würden mit aggressiven Methoden zum Schweigen gebracht, der gesellschaftliche Diskussionsraum werde kontinuierlich verkleinert. Auf Deutschlandfunk Kultur bedauerte der Politologe Claus Leggewie, Kulturschaffende würden mundtot gemacht, man wolle sie virtuell töten. In weiteren Pressekommentaren war unter anderem die Rede von „selbsternannten Scharfrichtern“ und dem aufmarschierenden „schwarzen Block der Antifa“. Kein Wunder also, wenn man sich angesichts dessen eine erbarmungslose Hetze auf umstrittene öffentliche Persönlichkeiten vorstellt.

Die Debatte wird bereits seit vielen Jahren geführt. Breitere Aufmerksamkeit erhielt sie erstmals zu Beginn der MeToo-Bewegung, als immer wieder Stimmen laut wurden, die das Ende der Meinungsfreiheit heraufbeschworen. Kunstschaffende dürften sich mittlerweile nicht mehr provokativ bezüglich geschlechtlichen, sexuellen, religiösen und anderen Minderheiten äußern, ohne gleich um ihre Karriere fürchten zu müssen.

Ein rezentes Beispiel ist die britische Autorin J.K. Rowling, die sich auf Twitter immer wieder abfällig über transinklusive Sprache und geschlechtsangleichende Operationen äußert. Dafür erntet sie in den sozialen Netzwerken zwar hauptsächlich Lob und Zustimmung, dennoch sieht sie sich aufgrund einiger kritischer Stimmen in ihrer Meinungsfreiheit eingeschränkt. In Reaktion darauf unterzeichnete sie, zusammen mit 152 anderen Persönlichkeiten aus Kultur und Wissenschaft, einen offenen Brief, in dem für die „Toleranz von Differenzen“ plädiert wird. Darin beklagen die Unterzeichnenden „an intolerance of opposing views, a vogue for public shaming and ostracism, and the tendency to dissolve complex policy issues in a blinding moral certainty“.

Anders als man zunächst annehmen könnte, handelt es sich keineswegs um einen Konflikt zwischen links und rechts: Entlang des gesamten politischen Spektrums wird eine solche Tendenz beklagt. Dementsprechend unspezifisch ist auch erwähnter offener Brief gehalten. Alle, die jemals öffentlich Kritik an bestimmten Aussagen, Handlungen oder Werken übten, können sich potenziell davon angesprochen fühlen.

Äpfel und Birnen

Die bewusst allgemein gehaltene Warnung vor einem Zwang nach ideologischer Konformität birgt allerdings die Gefahr, Problematiken in einen Topf zu werfen, die sich nicht wirklich vergleichen lassen. Was mit „Cancel Culture“ gemeint ist, ist ohnehin umstritten. Oder besser gesagt: Das Spektrum an Handlungsweisen, die darunter fallen, ist enorm: Kritische Kommentare unter einem Tweet und die Weigerung, Geld für die Werke bestimmter Künstler*innen auszugeben, werden ihr ebenso zugerechnet wie das Stürzen von Statuen oder die Weigerung, den Vertrag eines übergriffig gewordenen Schauspielers zu verlängern. Dass hier das Verb „cancel“ (im übertragenen Sinne etwa absagen oder ausradieren) verwendet wird, soll zeigen, dass es Kritiker*innen darum geht, der Karriere der Kritisierten ein endgültiges Ende zu setzen, ihnen sowohl ihre finanzielle Grundlage als auch ihre gesellschaftliche Relevanz zu entziehen. Davon abgesehen, dass es ein weiter Weg ist von einer auf Twitter geäußerten Forderung bis hin zu deren Umsetzung auf institutioneller Ebene, stellt sich einerseits die Frage, wie oft eine solche Umsetzung bisher zustande gekommen ist, andererseits lässt sich schwer überprüfen, ob die Forderung nach einem Karriereende tatsächlich so verbreitet ist, wie oftmals behauptet. Dadurch dass die Positionen, Plattformen und Machtverhältnisse so vielfältig sind, lässt sich generell nur sehr wenig über das Ausmaß der Problematik sagen.

Dass Meinungsfreiheit unbedingt zu verteidigen ist, zieht niemand, dem an demokratischen Werten gelegen ist, in Zweifel. Was in der Debatte jedoch fehlt, ist eine klare Unterscheidung zwischen Meinung und Diskriminierung, zwischen Kritik, Hatespeech, Mobbing und Gewaltandrohung. Es ist eine Sache, wenn Pirat Marc Goergen durch eine Meme-Seite veräppelt wird, eine andere, wenn ebenjener Politiker Schritte vornimmt, um die Beteiligung der Satiriker*innen am politischen Diskurs einzuschränken. Ebenso ist es etwas anderes, ob Autor*in Hengameh Yaghoobifarah in Reaktion auf eine Taz-Kolumne Morddrohungen erhält und von Bundesinnenminister Horst Seehofer eine Klage angedroht bekommt, oder enttäuschte Harry Potter-Fans dessen Autorin auffordern, sich nicht mehr transfeindlich zu äußern.

Wieso es wichtig ist, jeden Fall in all seinen Facetten zu betrachten, wird auch bei den Diskussionen rund um Lisa Eckhart deutlich. So wurde sie, wie mittlerweile bekannt geworden ist, nicht wegen „Drohungen“ von Linksradikalen vom Harbour Front Literaturfestival ausgeladen, sondern lediglich, weil Proteste befürchtet wurden. Eine solche Befürchtung bestand deshalb, weil Eckharts Bühnenprogramm rassistische und antisemitische Aussagen enthält. Ihre Ausladung wurde jedoch weder explizit von ihren Kritiker*innen gefordert, noch fand sie in Reaktion darauf statt.

Ungeachtet dieser Tatsachen, wurde von manchen jedoch ein Kausalzusammenhang gezogen zwischen der Kritik an Eckhart und ihrer Ausladung. Diese Vermischung und Verdrehung ist durchaus gewollt: Der Veranstalter des Festivals verkündete, man begrüße die Debatte, „um der bedrohlich um sich greifenden ‚Cancel Culture’ Einhalt zu gebieten“. Die Angst vor einer „Cancel Culture“ wird in diesem Fall mit der Existenz einer solchen gleichgesetzt, und die Debatte somit zu einer „Gespensterdebatte“, wie Dirk Pietz es treffend auf Zeit Online beschrieb. Bei allen, die sich nur oberflächlich mit der Thematik auseinandersetzen und mit diesem konkreten Fall beschäftigt haben, kommt am Ende vielleicht als einzige Botschaft an: Eckharts Lesung fiel aus, weil Antifaschist*innen ihr Gewalt angedroht hatten.

Rechter Kampfbegriff

Was auffällt, ist die Schnelligkeit, mit der sich dem Begriff „Cancel Culture“ bedient wird. Er ist nicht nur ein Totschlagargument, sondern lenkt die gesamte Diskussion in eine völlig andere Richtung. Denn, wer einzig über den Ruf, die Karriere und den Opferstatus der kritisierten Person spricht, setzt sich wohl kaum differenziert mit den ihr gemachten Vorwürfen auseinander. Was an linker Kritik am Phänomen „Cancel Culture“ besonders stutzig macht, ist, dass sich hier unhinterfragt einem rechten Kampfbegriff bedient wird. Denn obwohl aus allen politischen Lagern Bedenken zur eingeschränkten Meinungsfreiheit kommen, so sollten doch spätestens beim Heraufbeschwören eines bedrohlichen linken Mobs alle Alarmglocken läuten und die Parallelen zur Kritik an „politischer Korrektheit“, wie sie in den 1990er-Jahren aufkam, erkannt werden.

Was diese Fälle deutlich machen, ist eine kollektive Überforderung, wenn es darum geht, im Internet geäußerte Kritik einzuordnen und Online-Aktivismus als legitime Form der demokratischen Beteiligung anzuerkennen. Die vorschnelle Reaktion des Harbour Front Literaturfestivals ist immerhin nicht auf öffentlichen Druck zurückzuführen, sondern auf die Unfähigkeit, eine klare Linie, ungeachtet der Reaktionen, auszuarbeiten und umzusetzen. Wie steht man denn nun zu Eckharts Satire? Noch harmlos oder schon Hassrede? Bezeichnenderweise scheint eine solche Einordnung schwerer zu fallen, wenn es um Antisemitismus oder Rassismus geht als wenn etwa Polizeigewalt thematisiert wird. Das wird nicht nur an Yaghoobifarahs Kolumne deutlich: Seit wenigen Tagen wird sich heftig über ein Video vom Content-Netzwerk Funk echauffiert, das Racial Profiling bei der deutschen Polizei satirisch aufgreift. CDU Politiker*innen nahmen das staatlich finanzierte Video prompt zum Anlass, um gegen die geplante Erhöhung der Runkfunkgebühren zu wettern.

Die Unfähigkeit sich intern bereits vor Publikation auf eine Position zu einigen, wurde auch etwa an der Taz deutlich, deren Redaktionsteam sich vor wenigen Monaten unfähig zeigte, sich geschlossen hinter Yaghoobifarah zu stellen. Im Dezember bekleckerte auch der WDR sich nicht mit Ruhm, als er in Reaktion auf einen von Rechts befeuerten Shitstorm, ein umgedichtetes Kinderlied von seiner Homepage löschte, und WDR-Intendant Tom Buhrow sich vom Inhalt des Liedes distanzierte. Auch sollte die Rolle der Medien in solchen Fällen nicht unterschätzt werden: Die oftmals ausbleibende Kontextualisierung der einzelnen Aussagen vermittelt ein verzerrtes Bild, was dem rechten Lager in die Hände spielt.

Es ist schier unmöglich, sich in pauschaler Weise über solche Vorfälle zu äußern, weil unzählige Faktoren zu berücksichtigen sind: An wen richtet sich die Kritik? In welcher Form wurde sie geäußert? Welche Machtposition bekleidet die kritisierte Person innerhalb der Gesellschaft und hat sie mit ihren Aussagen nach „unten“ oder nach „oben“ getreten? Wird versucht, eine Debatte anzustoßen oder sie vielmehr im Keim zu ersticken? Welches Gewicht wird den einzelnen Positionen innerhalb der Debatte zugestanden? Ob der Komplexität der Problematik, wundert es wenig, dass oftmals lieber in Schwarz-Weiß-Mustern gedacht wird.


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