Öffnung der Schulen: Keine Zeit für Einzelkämpfer

In wenigen anderen Bereichen müssen zurzeit derart viele folgenschwere Entscheidungen getroffen werden wie bei der Schulbildung und Kinderbetreuung. Das entsprechende Ministerium tut sich allerdings schwer damit, jede Hilfe anzunehmen, die ihm angeboten wird.

„Zurück in die Schule“ ist schnell gesagt. Die konkreten Bedingungen auszuarbeiten, ist ein Drahtseilakt, an dem möglichst viele Akteur*innen beteiligt sein sollten. (Quelle: Jernej Furman/flickr.com)

Ein Element, das die Covid-19-Pandemie mehr als irgendein anderes charakterisiert, ist die Ungewissheit. Zum einen ist wenig über das Virus an sich bekannt. Zum anderen ist unklar, wie der Mensch am besten damit umgehen sollte. Was gestern noch richtig war, kann sich morgen als falsch herausstellen. Diese Ungewissheit macht vor keinem Bereich halt – auch nicht vor jenen, in denen zurzeit wichtige Entscheidungen getroffen werden müssen. Selten wiesen Regierungsvertreter*innen so häufig auf die wackelige Faktenlage hin, auf deren Basis sie handeln müssen. Vertrauensstiftend ist das zwar nicht – doch man wünscht sich zurzeit auch sicherlich keine Politiker*innen, die von sich behaupten, alle Antworten zu kennen.

Permanente Unsicherheit einzugestehen, liegt manchen Regierungsvertreter*innen aber mehr als anderen. Schwierig wird es vor allem dann, wenn es gilt, umstrittene Entscheidungen zu verteidigen.In einem solchen Fall ist zurzeit vor allem Bildungsminister Claude Meisch. Der Ankündigung einer graduellen Öffnung der Schulen wurde trotz Lob auch mit Skepsis begegnet. Wer genau hinschaut, erkennt, dass beim Großteil der Kritik nicht die Öffnung an sich in Frage gestellt wird, sondern das, was darüber kommuniziert beziehungsweise nicht kommuniziert wurde. Lehrer*innen-, Schüler*innen-, Lehrbeauftragten- und Elternvertretungen beanstanden, dass sie nicht ausreichend in den Entscheidungsprozess einbezogen werden, Lehrkräfte bemängeln, dass sie von neuen Maßnahmen oft erst durch die Presse erfahren.

Dabei fing alles recht vielversprechend an. Am 15. April kommunizierte Meisch per Videokonferenz mit den Lehrer*innengewerkschaften Apess, Féduse/Enseignement-CGFP, SEW/OGBL und SNE/CGFP. Diese drückten in einem gemeinsamen Schreiben anschließend ihre generelle Zufriedenheit über die angekündigte Öffnung der Schulen aus, wiesen allerdings auf die zahlreichen, noch ungeklärten Fragen hin. Abschließend hieß es in dem Schreiben: „Wir gehen davon aus, dass der Minister, wie bisher, auch während der schrittweisen Lockerung die Umsetzung der Maßnahmen mit den Gewerkschaften abstimmen wird, zum Vorteil des gesamten Schulsystems.“ Bis zum heutigen Tag hat Meisch kein weiteres Mal mit den Lehrer*innengewerkschaften über den Secondaire kommuniziert. Rückblickend präzisiert der SEW, dass selbst bei der Videokonferenz am 15. April kein wirklicher Austausch stattgefunden habe. „Es war eher ein Informationsmonolog“, erklärt dessen Vizepräsident Jules Barthel auf Nachfrage hin.

Eine der zentralen Forderungen, die in der Woche vom 28. April in einem gemeinsamen Schreiben von den Lehrer*innen-, Lehrbeauftragten- und Schüler*innengewerkschaften an den Minister herangetragen wurden, betraf die Abschlussklassen. In der Woche vom 4. bis zum 8. Mai sollten sie die ersten sein, die wieder zum Präsenzunterricht antreten mussten. Die Gewerkschaften forderten, die Anwesenheitspflicht aufzuheben: Wer aus Angst, sich in der Präsenzwoche zu infizieren, weiterhin das Homeschooling bevorzuge, solle auch die Möglichkeit dazu erhalten.

Meisch ging auf die Forderungen nur indirekt im Rahmen von Interviews ein: Alle Schüler*innen, die nicht zur Risikogruppe zählen, müssten zum Unterricht erscheinen. Er argumentierte mit der Verantwortlichkeit der Politik: Entweder könne ein sicherer Schulbesuch gewährleistet werden und dann müssten auch alle hin. Oder dies sei nicht der Fall, und alle müssten zu Hause bleiben.

„Wir sind uns bewusst, dass wir uns in einer Krisensituation befinden und haben deshalb mit unserem Aufruf an die Schüler der Abschlussklassen, zu Hause zu bleiben, falls sie zu große Angst hätten, bewusst bis Montagmorgen gewartet, um dem Ministerium möglichst viel Zeit zu geben“, erklärt die Präsidentin der Unel Vicky Reichling im Gespräch mit der woxx. Erst als klar war, dass Meisch nicht mehr reagieren würde, habe man sich zusammen mit dem SEW zu dem drastischen Schritt entschlossen. „Es ging uns aber auf keinen Fall darum, die Schüler und Schülerinnen zum Streik aufzurufen. Uns war es nur wichtig, dass sie die freie Wahl haben.“ Das Vorgehen des Ministers bezeichneten Unel und SEW im Schreiben als „grober Verstoß gegen die Demokratie“.

Je lauter die Kritik wurde, desto selbstsicherer gab sich der Minister. Ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte diese Strategie am Montag in einem Interview mit Radio 100,7 als Meisch den Satz verlautbarte: „Ech si fest dovun iwwerzeegt, dass kee Primaner méi riskéiert, wann en an d’Schoul geet wéi wann en doheem géif bleiwen“. Kurz zuvor hatte er zudem beteuert: „Mir hunn alles gemaach, fir dass de Schoulbesuch sécher ass.“ Vicky Reichling stellt diese Aussage in Frage: „Sobald man das eigene Zuhause verlässt, besteht die Möglichkeit, sich zu infizieren. Niemand kann eine hundertprozentige Risikofreiheit garantieren.“

Hoffen auf Dialog

Die Unel hofft, dass bald ein Dialog entsteht. „Das Bildungsministerium hat zurzeit eine schwierige Aufgabe, wir verlangen nicht, dass es über alle Antworten verfügt.“ Die Forderung nach einem Dialog sei deshalb auch ein Angebot, den Minister bei der Suche nach passenden Lösungen zu unterstützen.

Dass Claude Meisch dies gänzlich anders sieht, wird an Aussagen deutlich, die er diese Woche in einem Interview mit der Revue machte. An der nötigen Kommunikation fehle es seiner Meinung nach nicht. „Wir müssen Entscheidungen erst treffen, bevor wir kommunizieren können.“ Es ist aber genau diese Herangehensweise, die die Gewerkschaften kritisieren: „Wir sind der Meinung, dass wir mit unserer Expertise dazu beitragen könnten, Lösungen zu finden, und bedauern, dass wir aktuell ganz oft einfach vor vollendete Tatsachen gestellt werden“, so Bob Heymans von der Féduse im Gespräch mit der woxx.

Bei der Pressekonferenz am Dienstag und in der Chamber am Mittwoch betonte Meisch wiederholt, dass er, anders als behauptet werde, mit den Gewerkschaften durchaus im Dialog stehe. Er hob besonders hervor, dass es einen Austausch mit der Schüler*innenkonferenz Cnel gab. Es fällt auf, dass Meisch selektiv vorgeht. Auf Nachfrage hin hat uns Vicky Reichling bestätigt, dass der Minister bisher nicht mit der Unel in Kontakt getreten sei und auf keins ihrer Gutachten und Presseschreiben reagiert habe.

Quelle: Gerd Altmann/pixabay.com

Was Meisch zudem unerwähnt ließ: Es war in Bezug auf den Secondaire, dass ihm mangelnde Kommunikation vorgeworfen wurde – die Unterredungen, die er in den vergangenen Tagen mit einzelnen Gewerkschaften führte, hatten jedoch den Fondamental zum Thema. 1 „Der Minister Meisch sagt nicht immer genau die Wahrheit“, so Jules Barthels Kommentar dazu.

Nun ist es natürlich nicht so, dass das Bildungsministerium sich bei seinen Entscheidungen von niemandem beraten lässt. Wie der Minister immer wieder betont, hält er durchaus Rücksprache mit zahlreichen Expert*innen. Eine gewisse Einzelkämpfer*innen-Mentalität ist dennoch festzustellen. Aus nachvollziehbaren Gründen: Treten bei der Wiederaufnahme des Präsenzunterrichts Probleme auf, wird das Bildungsministerium das erste sein, das dafür zur Verantwortung gezogen wird. Es lässt sich sogar argumentieren, dass der Regierung gerade wegen der vielen Ungewissheiten umso mehr die Aufgabe zukommt, sich kompetent und zuversichtlich zu geben. Das darf allerdings nicht dazu führen, Sicherheit und Kontrolle vorzugaukeln, wo es keine gibt. Immerhin geht es gerade nicht um Kritik an einer Reform, sondern um ein Virus. Und dieses lässt sich nicht mit Überzeugungsarbeit in Schach halten. Die Maßnahmen, die in den vergangenen Wochen beschlossen wurden, werden in nächster Zeit konstant auf ihre Tauglichkeit überprüft und bei Bedarf nachgebessert werden. Das ist ohne den Input der Akteur*innen nicht machbar. Nicht nur, aber vor allem in dieser Pandemie, ist es ein Zeichen für Kompetenz und Stärke, angebotene Hilfe anzunehmen.


1 Auch die Presse bekommt dies zu spüren: Auf die Fragen der woxx zum Secondaire blieb das Bildungsministerium seit der Pressekonferenz vom 16. April jede Antwort schuldig.

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