Polen und die EU: Vorrangig autoritär

Am kommenden Dienstag entscheidet Polens Verfassungsgericht, ob polnisches Recht über der EU-Recht-sprechung steht. Der Streit um die Rechtsstaatlichkeit des osteuro-
päischen Mitgliedstaates spitzt sich immer weiter zu.

Die Frage der nationalen Souveränität ist in Polen eng verbunden mit der Geschichte: Denkmal des Warschauer Aufstands vor dem Gebäude des Verfassungsgerichts. (Foto: Janek Skarzynski/European Union, 2020/EC – Audiovisual Service)

Glaubt man den Worten des Polen-Korrespondenten der „Deutschen Welle“, dann muss man in der kommenden Woche mit dem „ganz großen Angriff auf die europäische Rechtsordnung“ rechnen. Geführt wird die Attacke von keiner geringeren Instanz als dem polnischen Verfassungsgericht. Das nämlich soll darüber befinden, ob polnisches Recht ganz grundsätzlich Vorrang vor EU-Recht hat. „Sollte das so entschieden werden“, so der Korrespondent, „wäre die Rechtsstaatlichkeit der gesamten EU und damit die Union selbst in Gefahr“.

Drastischer lässt sich der Konflikt zwischen der Europäischen Union und Polen vermutlich nicht beschreiben, in dessen Mittelpunkt aktuell der Streit um die polnische Justizreform und das vor zwei Wochen vom polnischen Parlament verabschiedete Mediengesetz stehen. Tatsächlich könnte die Frage, die am Dienstag in Warschau verhandelt werden soll, kaum fundamentaler sein. Sollte das oberste polnische Gericht nämlich urteilen, dass selbst grundlegende Vorschriften des aus den EU-Verträgen hervorgehenden Primärrechts unvereinbar mit der polnischen Verfassung seien, stünde die EU-Kommission vor einer Herausforderung, die sich mit der routinehaften Einleitung eines weiteren Vertragsverletzungsverfahrens gegen Polen wohl nicht bewältigen ließe. Denn infrage stünde damit – je nachdem, welchen Aspekt man betonen möchte – die weitere Mitgliedschaft Polens in der Europäischen Union beziehungsweise der Fortbestand des EU-Gemeinschaftsrechts.

Bereits am 14. Juli diese Jahres hatte das polnische Verfassungsgericht ein ähnliches Urteil gefällt, das allerdings nicht dieselbe Tragweite hatte. Es richtete sich gegen Eilbeschlüsse, mithilfe derer der Europäische Gerichtshof (EuGH) in der Vergangenheit bereits einzelne Maßnahmen der polnischen Justizreform zu stoppen versucht hatte. Der EuGH verletze durch ein solches Vorgehen das Subsidiaritätsprinzip, das die Zuständigkeiten zwischen EU und Mitgliedsstaaten festlegt, so das polnische Gericht. Das Justizsystem gehöre zu einem Kompetenzbereich, für den „die Republik Polen [Zuständigkeit an die EU] nicht übertragen hat und nicht delegieren kann“. Andernfalls verletze man das Prinzip der Souveränität einer Nation, zu dem auch die „Verfassungsidentität“ gehöre.

Umstrittene Disziplinarkammer

Im Mittelpunkt des Streits um die Justizreform steht derzeit die sogenannte Disziplinarkammer, die 2018 gesetzlich eingeführt worden ist. Als Kontrollinstanz für Richter*innen kann sie diese im Extremfall sogar suspendieren. Die Mitglieder der Disziplinarkammer werden vom Landesjustizrat gewählt. Bestand er bis Ende 2017 mehrheitlich aus Richtern, die wiederum von anderen Richtern gewählt wurden, war also insofern politisch unabhängig, so wird der Rat seither vom Sejm – einer der beiden Parlamentskammern – gewählt. Dort jedoch hat die nationalkonservative Regierungspartei PiS (Recht und Gerechtigkeit) die Mehrheit, und der Umbau des Landesjustizrats war einer der ersten Schritte der von der PiS vorangetriebenen Reform der Justiz.

Die Disziplinarkammer gewährleiste nicht die gebotene Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, so der EuGH in seinem erwartbaren Urteil vom 15. Juli – dem das polnische Verfassungsgericht mit seiner Kompetenzzurückweisung also just einen Tag zuvor gekommen war. Um den Verstoß gegen EU-Recht zu beheben, muss Polen die Kammer nun auflösen; die EU-Kommission hatte dem mit einem Ultimatum Nachdruck verliehen.

Exakt bis zu dessen Ablauf am Montag vergangener Woche ließ man sich in Warschau denn auch Zeit. Man habe die Kommission am betreffenden Tag schriftlich davon in Kenntnis gesetzt, dass die Disziplinarkammer aufgelöst werde, so die polnische Regierung in einer tags darauf veröffentlichten Presseerklärung. Dies werde allerdings erst „in den kommenden Monaten“ im Zuge „des nächsten Schritts der Justizreform“ geschehen.

Was teils als Einknicken interpretiert wurde, weil ansonsten Strafzahlungen gedroht hätten, wurde von der polnischen Regierung indes anders verkauft. Man reagiere nicht auf Anordnungen des EuGH, sondern lediglich darauf, dass die Disziplinarkammer „in ihrer jetzigen Form“ ihren Zweck nicht erfülle, so der stellvertretende Ministerpräsident und PiS-Vorsitzende Jaroslaw Kaczyinski – eine kaum verhohlene Drohung gegen unbotmäßige Richter*innen, die bislang noch nicht „diszipliniert“ worden sind. Die gemachte Ankündigung bedeute keinesfalls, dass es die Kammer künftig in keiner Form mehr geben werde.

Der zweite große Streitpunkt ist das neue Mediengesetz. Schon zu Beginn ihrer Alleinregierung im Jahr 2015 hatte die PiS die öffentlich-rechtlichen Sender auf Linie gebracht. Nun soll dem Sendernetzwerk TVN die Lizenz entzogen werden, es sei denn, der Eigentümer, der US-Konzern Discovery, gibt die Mehrheit daran ab. Schon vor dem neuen Gesetz war es Investoren von außerhalb des europäischen Wirtschaftsraums nur mehr möglich, maximal 49 Prozent der Anteile an einem polnischen Medienunternehmen zu halten. Bislang jedoch drückte die polnische Regierung ein Auge zu, wenn, wie im Falle von Discovery, europäische Tochtergesellschaften beteiligt waren. Damit soll nun Schluss sein. Das Gesetz präzisiere lediglich das bisherige Vorgehen, heißt es aus den Reihen der Regierungspartei. Andere sehen darin den Versuch, regierungsunabhängige Berichterstattung zu unterbinden.

Auch in diesem Fall gab es am Dienstag allerdings ein Zeichen des Einlenkens vom polnischen Präsidenten Andrzej Duda, der das Gesetz unterzeichnen muss, damit es rechtskräftig wird. Es sei besser, auf Marktmechanismen zu vertrauen als die „Repolonisierung der Medien“ zu erzwingen, so Duda, schließlich gehe es hier „erstens um den Schutz des Eigentums und zweitens um die Meinungsfreiheit“. „Medienpluralismus und Meinungsvielfalt sind das, was starke Demokratien begrüßen und nicht bekämpfen“, hatte auch EU-Kommissionsvizepräsidentin Vera Jourova unmittelbar nach der Abstimmung im Sejm getwittert. Das Mediengesetz, das neben Duda noch vom Senat bestätigt werden muss, sende „ein negatives Signal“.

Foto: Gerichtshof der Europäischen Union

Sinnlose Empörungsdiplomatie

Für Tomasz Koncewicz ist solche „Empörungsdiplomatie“ trotz der widersprüchlichen Signale aus der polnischen Regierung reine Zeitverschwendung: „Die Lehre aus dem Debakel mit Ungarn ist doch, dass man präventiv und entschlossen handeln muss“, so der polnische Verfassungsrechtler vor kurzem im Interview mit der deutschen Wochenzeitung „Zeit“. Ihm zufolge hatte der Rechtsstaat in Polen „nie eine Chance, Wurzeln zu schlagen“. Für ihn ist Polen seit der PiS-Alleinregierung 2015 gar ein „Doppelstaat mit zwei diametral entgegengesetzten Rechtsauslegungen und Loyalitäten“. Als „Doppelstaat“ hatte der Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel in den 1930er-Jahren das nationalsozialistische Herrschaftssystem analysiert, das in einen Maßnahmen- und in einen Normenstaat zerfallen sei. Während der Normenstaat zum Teil noch traditionelle Instanzen repräsentiere und in gewissem Umfang der Aufrechterhaltung der Rechtsordnung verpflichtet sei, existiere zugleich ein von formalen Regeln unabhängiger, allein durch die Willkür der Macht gekennzeichneter Maßnahmenstaat.

Weniger drastisch zugespitzt, kritisiert auch Koncewicz‘ Kollege Adam Bodnar das Rechtsverständnis der PiS-Regierung. Ihm zufolge vollziehen sich die institutionellen Veränderungen in Polen gemäß dem „Prinzip des formalen Legalismus“: „Verfassungswerte werden zwar in Frage gestellt, doch um Vorwürfen der Gesetzwidrigkeit vorzubeugen, werden solche Veränderungen auf der Basis konkreter Rechtsvorschriften und unter Umsetzung von Einzelregelungen vollzogen“, schreibt Bodnar, der bis vorigen Monat das Amt des Bürgerrechtsbeauftragten in Polen bekleidete, in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift „Osteuropa“. Die Grenze des Zulässigen und Akzeptablen verschiebe sich so jedoch „jeden Tag ein bisschen weiter“: „Ein derartiger Umgang mit dem Recht ist nichts Neues. Politologen, die den Übergang von Staaten von einem demokratischen zu einem autoritären System analysieren, haben ihn detailliert beschrieben.“

Wenn am kommenden Dienstag das polnische Verfassungsgericht zur Urteilsverkündung zusammentritt, so handelt es sich dabei also um ein Organ, dessen Unabhängigkeit bereits 2016 von der PiS-Regierung gezielt untergraben worden ist. Und die Reform der Justiz in Polen ist und bleibt ein zentraler Bestandteil eines Umbaus des Staates gemäß eines Verfahrens, das als autoritärer Konstitutionalismus bezeichnet werden kann. Sollte es der EU nicht gelingen, ein Mittel dagegen finden, könnte diese Staatstechnik weiter Schule machen.


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