Psychische Gesundheit: Das Stigma bekämpfen

Sich um seine mentale Gesundheit zu kümmern, ist in Luxemburg meist nicht nur teuer, sondern auch vorurteilsbehaftet. Aktionen wie die Semaine de la santé mentale sollen dem entgegenwirken. Wir haben mit Fränz d’Onghia, Geschäftsführer vom Centre d’information et de prévention der Ligue luxembourgeoise d’hygiène mentale darüber gesprochen.

„Unser Ziel ist eine „vigilance partagée“, 
wo jeder auf den anderen Acht gibt“:
Die von Fränz d’Onghia zu diesem Zweck gehaltenen Fortbildungen finden zurzeit online statt. (© Centre d’Information et de Prévention)

woxx: Was bedeutet es, generell gesprochen, sich um seine mentale Gesundheit zu kümmern?


Fränz D’Onghia: Ein Aspekt davon ist die Erkenntnis, dass man ein Problem hat, ein anderer Aspekt ist sicherlich auch Mut. Dann bedarf es einer Entscheidung, ob man auf das private oder staatliche Hilfsangebot zurückgreifen möchte. Sich um seine mentale Gesundheit zu kümmern, bedeutet aber auch, fremde Blicke in Kauf zu nehmen. Manchen ist es unangenehm, im Wartezimmer des Psychologen von anderen gesehen zu werden.

Durch Aktionen wie die Semaine de la santé mentale soll solchem Schamempfinden entgegengewirkt werden. 


Wir sehen die Semaine de la santé mentale als Gelegenheit, auf etwas andere Weise über mentale Gesundheit zu sprechen. Es geht nicht darum, Spezialisten referieren zu lassen, sondern leicht verständliche Botschaften zu vermitteln. Ursprünglich waren Aktionen in elf verschiedenen Gemeinden geplant. Wegen der Krise mussten wir uns umorganisieren, das Programm findet nun fast integral online statt. Eine zentrale Aktion sind Erste-Hilfe-Kurse bezüglich mentaler Gesundheit. Die Teilnehmenden erhalten Infos über psychische Krankheiten und lernen, wie mit Krisen umgegangen werden kann, etwa im Fall von Panikattacken oder Suizidgedanken. Ziel ist es, über die notwendigen Kompetenzen zu verfügen, um jemandem in einer psychischen Notlage Beistand leisten zu können. Es finden aber auch noch weitere Aktionen statt, wie täglich neue Quizfragen auf unserer Facebook-Page, ein Kurzfilm-Wettbewerb auf Youtube und ein kommentiertes Filmkonzert, das am kommenden Samstag live übertragen wird. Bei Letzterem spielen Luxemburger Künstler Lieder von Musikern, die noch vor ihrem 30. Geburtstag an Suizid gestorben sind oder aber eine psychische Krankheit öffentlich thematisiert haben.

Werden im Rahmen der Kampagne manche Zielgruppen besonders anvisiert?


Mit dem Filmwettbewerb und den Inhalten in den sozialen Netzwerken haben wir bewusst versucht, junge Menschen anzusprechen. Mit den Erste-Hilfe-Kursen erreichen wir Menschen verschiedenster Altersgruppen, die sich entweder privat oder im professionellen Kontext bezüglich mentaler Gesundheit weiterbilden möchten. Eine Zielgruppe, die dieses Jahr aufgrund der Umstände leider zu kurz kommt, sind Kinder. Die geplanten Projekte waren virtuell nicht durchführbar.

Im Rahmen ihrer aktuellen Kampagne hat die Ligue Studien erwähnt, die von der signifikanten Wirkung handeln, die die Pandemie auf die psychische Gesundheit hat Um welche Studien handelt es sich und was sind die Befunde?


Es handelt sich weniger um Studien als vielmehr um Beobachtungen. Zu Beginn der Ausgangsbeschränkungen war die Nachfrage für psychologische Beratung tendenziell eher gering. Hotlines und Informationsplattformen wie www.covid19-psy.lu und die anderer Organisationen wurden wenig beansprucht. Das war aber nur die Ruhe vor dem Sturm. Nach und nach nahm die Nachfrage zu. Die Krise ist für viele ein Stressfaktor, nicht unbedingt wegen der Krankheit an sich, sondern vor allem aufgrund ihrer Nebenwirkungen, wie etwa der Angst vor dem Jobverlust oder vor der Insolvenz. Natürlich gibt es auch Menschen, die Angst vor einer Ansteckung haben, aber die meisten wenden sich wegen existenzieller Ängste an uns. Je länger die Pandemie währt, desto stärker werden diese Ängste.

Sie wollen nicht nur Betroffene sensibilisieren, sondern auch deren Umfeld. Welche Rolle spielt Letzteres im Kontext psychischer Gesundheit?


Eine äußerst wichtige. Wir wissen heute, dass über die Hälfte der psychischen Krankheiten sich bereits vor dem 14. Lebensjahr manifestieren. Viele Menschen zögern aber lange, bevor sie Hilfe suchen. Unser Ziel ist eine „vigilance partagée“, wo jeder auf den anderen Acht gibt. Das bedeutet Alarmsignale psychischer Krankheiten besser zu erkennen und Betroffene dazu zu ermutigen, sich professionelle Hilfe zu holen. Je schneller man eine Therapie beginnt, desto kürzer dauert sie und leichter wird sie. Vor allem in puncto Sucht-
erkrankungen ist die Wahrscheinlichkeit rückfällig zu werden kleiner, je eher man sich behandeln lässt.

Sie haben vorhin erwähnt, dass viele Menschen lange zögern, bevor sie sich psychologische Hilfe holen. Wieso besteht eine solche Hemmschwelle, sich um die eigene mentale Gesundheit zu kümmern?


Es gibt eine Reihe von Faktoren, die dazu beitragen. Erstens sind viele nicht gut informiert, Fehlvorstellungen psychischer Krankheiten wie Depression sind stark verbreitet. Dann besteht immer noch ein Stigma rund um psychische Gesundheit, viele wollen ihr Umfeld nicht damit belasten. Eine weitere Problematik ist die Zugänglichkeit. Wer die Entscheidung getroffen hat, mit einem Psychologen oder Psychiater zu reden, muss sich das leisten können, entweder finanziell oder zeitlich. Bei der Ligue dauert es im Durchschnitt drei Monate, um einen ersten Termin zu erhalten. Den zweiten erhält man wiederum vier bis sechs Wochen später. Das ist keine gute Voraussetzung, um eine Person mit einer psychischen Krankheit zu behandeln. Wer schnell Hilfe braucht, muss allerdings tief in die Tasche greifen. Therapien bei liberalen Psychologen werden nämlich immer noch nicht von der Gesundheitskasse zurückerstattet. Dabei sind es gerade Menschen mit prekären Lebensbedingungen, die häufiger psychisch erkranken.

© Kleiton Santos/pixabay.com

„Männer gehen häufig erst dann zum Arzt, wenn wirklich nichts mehr geht.“

Ist im Bereich der psychischen Gesundheit ein Unterschied zwischen den Geschlechtern festzustellen?


Auf einigen Ebenen schon. Es gibt psychische Krankheiten, von denen mehr Frauen als Männer betroffen sind. Ich denke da etwa an Depressionen oder Angststörungen. Von Sucht-
erkrankungen und Psychosen sind wiederum Männer häufiger betroffen. Im Allgemeinen achten Frauen stärker auf ihre Gesundheit als Männer. Tendenziell ist es auch so, dass Männer Ärzten weniger vertrauen.

Wie ist das zu erklären?


Das hat sicherlich etwas mit der Sozialisierung zu tun. Jungen wird wohl eher nahegelegt, ihre Probleme selbstständig zu lösen. Dadurch fällt es ihnen späterhin schwerer, fremde Hilfe oder Ratschläge anzunehmen. Männer gehen häufig erst dann zum Arzt, wenn wirklich nichts mehr geht. Das ist bei Frauen anders.

Ist geplant, die Erste-Hilfe-Kurse auch über die Semaine de la santé mentale hinaus anzubieten?


Absolut. Ziel ist es, sie irgendwann flächendeckend in allen Gemeinden anzubieten, so wie die klassischen Erste-Hilfe-Kurse auch. Zurzeit gibt es hierzulande ein halbes Dutzend ausgebildete Instrukteure. Ideal wäre, wenn bis zum Jahr 2024 hierzulande 6.000 Menschen, also ein Prozent der Bevölkerung, an einem solchen Erste-Hilfe-Kurs teilgenommen hätten. Bis 2030 sollen es drei Prozent sein. Es ist also ein großes Vorhaben, mit dem wir aufgrund der Pandemie schon etwas früher begonnen haben, als ursprünglich geplant.

Was halten Sie von Forderungen, Schüler*innen alle zwei Jahren von externen Psycholog*innen durchchecken zu lassen, so wie es zurzeit die Schulärzt*innen in puncto Allgemeinmedizin tun?


Ich finde den Vorschlag interessant, er ist allerdings nicht neu. Wir als Centre d’information et de prévention fordern bereits seit zehn Jahren, dass ein solcher psychologischer Check von den Schulärzten vorgenommen wird. Unserer Meinung nach muss es sich dabei nicht um einen Psychologen handeln. Aber ich unterstütze alle Vorhaben, die in diese Richtung gehen. Wenn wir in den Schulen ansetzen, um besser zu diagnostizieren, haben wir alles richtig gemacht.

In Luxemburg mangelt es an Angeboten für akut suizidale Menschen. Woran fehlt es konkret?


Woran es in Luxemburg mangelt, sind Notfallaufnahmen außerhalb von Krankenhäusern. Bei akuter Suizidalität kann man nicht einfach bei der Ligue anrufen und nach einem Termin fragen. Für solche Fälle gibt es zurzeit nur die Notfallaufnahme im Krankenhaus. In Esch/Alzette gibt es zwar ein Krisenzentrum, doch auch das befindet sich in einem Krankenhaus und der Zugang erfolgt über die Notfallaufnahme.

Weitere Informationen unter 
www.semainesantementale.lu
 und www.prevention-suicide.lu

Fränz d’Onghia arbeitet seit 2009 beim Centre d’information et de prévention, wo er seit 2014 Chargé de direction ist. Seit 2012 koordiniert er den Aktionsplan für Suizidprävention. Er arbeitet auch als freiberuflicher Psychologe und Psychotherapeut.


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