LGBT-Senior*innen sind in Alten- und Pflegeeinrichtungen sowie in der Öffentlichkeit fast unsichtbar. Die Auseinandersetzung mit ihren Belangen legt nahe, dass die Betreuung von Senior*innen allgemein an die gesellschaftliche Realität angepasst werden sollte.
„Ich möchte in meiner letzten Lebenszeit mich nicht mehr über mein Schwulsein erklären müssen”, wünscht sich der Schweizer Bruno (74). „Ich möchte in einer Umgebung leben, in der das selbstverständlich ist.” In der Schweiz fördert die Organisation „Queer altern“ seit 2014 Dienstleistungsangebote für queere Menschen in den Bereichen Altern, Wohnen und Generationsbeziehungen. Bruno und sein Partner unterstützen das Projekt. Ihr Wunsch mag auf den ersten Blick zweitrangig erscheinen: Internationaler Fachkräftemangel, lange Wartelisten, Überlastung der Einrichtungen – Baustellen gibt es in der Altenpflege viele. So mögen manche die Überlegung, dass LGBT-Senior*innen individualisierte Betreuungsstrukturen benötigen, als Luxusdebatte abtun. Auf den zweiten Blick ist sie jedoch vielmehr die logische Konsequenz der gesellschaftlichen und politischen Öffnung gegenüber queeren Lebensweisen, in deren Genuss auch Menschen im Dritten Alter kommen sollten. Ein Luxus ist das nicht. Genauso wenig wie die Individualisierung der Altenpflege im Allgemeinen. Das Überdenken der Strukturen ist eine Notwendigkeit.
Unsichtbare Personengruppe
In Deutschland gibt es seit wenigen Jahren diverse Einrichtungen, die sich an queere Senior*innen richten, wie unter anderem seit 2012 das schwule Wohnprojekt „Lebensort Vielfalt“ in Berlin oder die vollstationäre Altenpflege für LGBT in der Münchenstift in München seit 2014. In Luxemburg existiert ein solches Angebot bis dato nicht. Interesse an Beratung seitens der Alten- und Pflegeheime verzeichnet das „Centre d’information gay et lesbien“ (Cigale) bisher nicht – und auch im Gespräch mit einer Krankenpflegerin in der Geriatrie in Luxemburg sowie einer Angestellten in einem luxemburgischen Altenheim wird deutlich, dass das Zusammenbringen von Altenpflege und LGBT in den wenigsten Einrichtungen Diskussionsgegenstand ist. Dabei ist davon auszugehen, dass durchaus LGBT-Senior*innen in den Einrichtungen leben, nur eben „back in the closet“ oder ohne sich jemals geoutet zu haben. Aus der Forschungsliteratur geht hervor, dass allgemein repräsentative Studien und Zahlen zu LGBT-Senior*innen in Pflegeeinrichtungen und Altenheimen fehlen, es aber durchaus Betroffene gibt, die unter dem mangelnden Bewusstsein für ihre Situation leiden.
Fehlt es Senior*innen und ihren Anliegen generell oft an Sichtbarkeit, scheinen LGBT-Senior*innen inner- und außerhalb der meisten Betreuungsstrukturen gänzlich unsichtbar. Das liegt nicht zuletzt daran, dass viele ihre sexuelle Orientierung oder ihre Geschlechtsidentität beim Eintritt in eine Betreuungseinrichtung verschweigen oder verheimlichen, aus Angst vor Diskriminierung seitens gleichaltriger Heimbewohner*innen und der Pflegekräfte. Herangewachsen in Zeiten, in denen Homosexualität noch als Straftat galt und von der Weltgesundheitsorganisation als psychische Störung aufgelistet wurde, pflegen die wenigsten einen offenen Umgang mit ihrer Lebensweise. Auch Jean-Paul (61), ein Rentner aus Luxemburg, beobachtet diese Umstände in seinem Bekanntenkreis. Für ihn ist es eine Frage der Erziehung und der Sozialisierung, dass Gleichaltrige sich einerseits vor der Bloßstellung aufgrund ihrer sexuellen Orientierung fürchten und andererseits gar nicht erst dazu stehen. Er selbst hat sich erst vor knapp zehn Jahren zum ersten Mal als schwul geoutet. In seiner Jugend wurde ihm das Bild der schändlichen und verbotenen Homosexualität eingetrichtert. Sein älterer Bruder, der seine Homosexualität bereits in jungen Jahren auslebte, wurde vor seinen Augen aufgrund seiner sexuellen Orientierung zum Opfer häuslicher Gewalt. Jean-Paul selbst weigerte sich deshalb lange vor der Auseinandersetzung mit seiner Sexualität und ging jung – auf Drängen des Elternhauses – eine langjährige, heterosexuelle Ehe ein. „Ich bin wütend auf mich selbst”, sagt er über sein spätes Outing, „und frage mich oft, welches Leben ich hätte führen können.“ Er selbst wurde im Alter noch nicht aufgrund seiner sexuellen Orientierung angefeindet. „Ich singe in einem Männerchor“, verrät er. „Manche Männer sind über siebzig, keiner hat mich wegen meinem Schwulsein diskriminiert.“ Den Umzug in ein stationäres Altenheim lehnt er aus anderen Gründen ab, fragt sich aber, ob sich LGBT-Menschen dort wohlfühlen. Antwort gibt unter anderem Marco Pulver, Soziologe und Projektleiter des Netzwerkes „Anders Altern“ der Schwulenberatung Berlin.
Heterobiografie als Standard
Er schreibt in seinem Text „Anders Altern. Zur aktuellen Lebenslage von Schwulen und Lesben im Alter“ über das Misstrauen der Ü-70 Generation gegenüber der heutigen Offenheit und Akzeptanz von Homosexualität. Der Soziologe berichtet, dass sich ein Großteil ebendieser Männer nach alternativen Wohneinrichtungen sehnt, in denen sie ihre Homosexualität unter Gleichgesinnten offen leben können. Aktuell sei die Situation von gleichgeschlechtlich Liebenden in stationären Einrichtungen in Deutschland schlecht.
Zwar sei die medizinische Grundpflege meist zufriedenstellend, doch würde in der Regel bei Einzugsgesprächen und dem alltäglichen Austausch mit den Bewohner*innen fraglos eine „heterosexuelle Durchschnittsbiographie“ vorausgesetzt. Das ist insofern problematisch, als dass die Hemmschwelle, zu seiner sexuellen Orientierung zu stehen, für unsichere Bewohner*innen umso größer wird. Besonders in den Momenten, in denen das Leben aufgrund anderer Faktoren, wie etwa der Gesundheit oder ungewohnter Tagesabläufe, an Normalität einbüße, stelle die Ignoranz einer nicht-normativen Lebensweise eine zusätzliche Belastung dar, so Pulver. Diese Tatsache bekräftigt, was die Soziologen Ralf Lottmann und Rüdiger Lautmann, die „internalisierte Homophobie“ nennen: Es zementiert das Gefühl, anders zu sein.
Lottmann und Lautmann fordern deshalb die Sensibilisierung der Pflegekräfte. Diese dafür zu gewinnen, scheitert jedoch nach Pulver oft daran, dass es im Alltag „Wichtigeres“ zu tun gebe. Es steht außer Frage, dass die medizinische Versorgung der Senior*innen in den entsprechenden Wohneinrichtungen prioritär behandelt werden muss, doch trägt die seelische Zufriedenheit der Menschen zweifelsfrei zu ihrem Wohlbefinden bei. Lottmann und Lautmann weisen zu Recht darauf hin, dass die Verbindung zwischen Sexualität und Identität in der Altenpflege zu kurz kommt. Die beiden Soziologen sind der Ansicht, dass beim Austausch mit Senior*innen Sexualität, Identität, Professionalität, Machtkomplexe und normative Regulierungen zu berücksichtigen sind, um ihnen eine optimale Lebens- und Betreuungsgrundlage gewährleisten zu können. Das Personal sollte ein Bewusstsein für „verspätetes Coming-Out, Doppelleben, Scheinehen, Ängste vor Ablehnung von Außen, Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen und verinnerlichter Homophobie“ entwickeln.
Widerspruch zur inklusiven Gesellschaft?
Sowohl in der Fachliteratur als auch in Gesprächen mit Altenpfleger*innen und queeren Menschen kommt letzten Endes folgende Frage auf: Ist es paradox, dass LGBT-Aktivist*innen für eine inklusive Gesellschaft kämpfen, aber die Altenpflege sich auf Minderheiten spezialisieren soll? Pulver antwortet mit der Gegenfrage, inwiefern nicht-individualisierte Wohnformen für Senior*innen überhaupt noch eine Zukunft haben. Dabei geht es nicht nur um die Bedürfnisse der LGBT-Senior*innen, sondern auch um intergenerationelles Wohnen und die Berücksichtigung unterschiedlicher Kulturkreise. So gibt es in Deutschland inzwischen deutsch-türkische ambulante Pflegedienste, in Stockholm eine große Wohnungsgesellschaft für Senior*innen mit Migrationshintergrund.
Es ist wichtig, diese Angebote als komplementär zu verstehen. Beides muss im Gleichschritt erfolgen: die allgemeine Sensibilisierung des Pflegepersonals in traditionellen Pflegeeinrichtungen und die Schaffung neuer, auf die Bedürfnisse stigmatisierter und besonders bedürftiger gesellschaftlicher Randgruppen angepasste Pflege- und Wohnformen. Faktoren wie der kulturelle Ursprung oder die sexuelle Orientierung beziehungsweise die Geschlechtsidentität sind immerhin wesentliche Aspekte der Persönlichkeit.
Ob eine Ghettoisierung oder Abkapslung zu befürchten ist, lässt sich schwer voraussagen. Fakt ist jedoch, dass nicht jede LGBT-Person heiß auf das gemeinsame Altern mit Gleichgesinnten ist. Manche lehnen das Konzept konsequent ab und haben auch in ihrer derzeitigen Lebensphase wenig mit der Szene am Hut. Andere sind von der Idee, in einem LGBT-Wohnprojekt zu altern, begeistert. Wie immer gilt es, erst mal Möglichkeiten zu schaffen und denen eine helfende Hand zu reichen, die ihr Leben lang gegen politischen und gesellschaftlichen Widerstand ankämpfen oder einen fundamentalen Teil ihrer Identität aufgrund gesellschaftlicher Regelbollwerke negieren mussten. Das sollte auch außerhalb der Einrichtungen geschehen.
„Es müsste so was wie eine Kampagne geben, die Homosexualität und Alter thematisiert“, empfiehlt Jean-Paul im Bezug auf LGBT-Senior*innen. „Das würde den Leuten Mut geben, sich auch im Alter zu outen.“ Er bedauert, dass es in Luxemburg kaum Kontaktmöglichkeiten gibt, um ältere schwule Männer kennenzulernen. Er beschreibt keinen Einzelfall, denn auch Pulver zitiert Studien, die bestätigen, dass es auch in Deutschland einen erheblichen Mangel an Treffpunkten für homosexuelle Senior*innen gibt. In Luxemburg gab es vor einigen Jahren eine entsprechende Initiative vom Cigale, die aufgrund mangelnder Beteiligung eingestellt wurde. Die schiebt Jean-Paul eindeutig auf die Angst vor Ablehnung, die er bei vielen Gleichaltrigen beobachtet – umso wichtiger ist es, auch diesen Generationen ein Zeichen der Akzeptanz zu senden.
In diesem Artikel wurde bewusst die Abkürzung LGBT (Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender) benutzt, da sich die besprochenen Texte explizit und ausschließlich auf diese Personengruppen beziehen.
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