Rare Einblicke: Die toten Winkel unserer Welt

Dort fotografieren, wo sich niemand freiwillig hinwagt, das ist die Lebensaufgabe von Julia Leeb. Als freie Fotojournalistin berichtet sie seit über zehn Jahren aus Krisenregionen. In „Menschlichkeit in Zeiten der Angst“ blickt sie in Text und Bild auf ihre wichtigsten Reportagen zurück.

Vor fast genau zehn Jahren, im Februar 2011, begann auf dem Tahrir-Platz in Ägypten der „Arabische Frühling“. Julia Leeb war mittendrin und fotografierte; wie so oft, wenn sie sich an Orte wagt, von denen andere Menschen fliehen. Die Fotojournalistin war in den vergangenen zehn Jahren an vielen solcher Orte. Nun teilt sie einige der Eindrücke, die sie dabei gewonnen hat. Ihr Buch „Menschlichkeit in Zeiten der Angst“ ist kein reiner Bildband, der Schwerpunkt liegt auf den Reportagen, die sie in Krisenregionen geführt haben, von Ägypten über Libyen und Kongo bis in den Sudan. Sie gewährt aber auch Einblicke in Regionen dieser Welt, die nur die wenigsten Außenstehenden zu Gesicht bekommen, Nordkorea zum Beispiel oder Transnistrien, einem Gebiet, das sich zum letzten kommunistischen Staat Europas ausgerufen hat.

Mehrere Male findet sie sich in lebensgefährlichen Situationen wieder, besonders in Libyen, wo sie unter Beschuss gerät und nur mit viel Glück entkommt. Sie verschweigt auch nicht, dass sie danach lange unter einer posttraumatischen Belastungsstörung litt, wie viele ihrer Kollegen, die ähnliche Erfahrungen machten.

Die erste Frage, die sich aufdrängt, ist, wieso sich jemand für einen Beruf entscheidet, der es mit sich bringt, jeden Tag auf dramatische Weise sein Leben aufs Spiel zu setzen? Folter, Vergewaltigung, Entführung zu riskieren? Leebs einführende biografischen Informationen sind sehr aufschlussreich: Sie erzählt von einer Kindheit, die geprägt wurde durch das soziale Engagement der Mutter, die nach der Katastrophe von Tschernobyl Kinder aus Belarus für Ferienaufenthalte bei sich aufnahm, durch eine weltoffene Erziehung mit abenteuerlichen Reisen, zum Beispiel in die damalige Militärdiktatur Myanmar oder nach Indien.

So verlor Leeb ihre Scheu vor der Fremde und erlangte ein Bewusstsein dafür, dass jeder sich selbst für die Veränderungen einsetzen muss, die er in der Gesellschaft verwirklicht sehen möchte. Ihre Liebe zur Fotografie entstand aus einer Mischung aus Wissbegier und Angst: Als Teenager wuchs in ihr das Gefühl „dass alles jederzeit weg sein könnte – Materielles, aber auch geliebte Menschen“. Die Kamera war das einzige Instrument, welches das „unerbittliche Verfließen der Zeit aufzuhalten vermochte“.

Nach dem Abitur reiste sie sechs Jahre durch Südamerika. Dort wurde sie zu einem „politischen Menschen“, da ihr bewusst wurde, welche Opfer Menschen für die Demokratie bringen, während sie das Glück hatte, niemals für ihre Freiheit kämpfen zu müssen. Sie studierte zuerst Internationale Beziehungen und Diplomatie, schließlich absolvierte sie ein Studium an der Bayrischen Akademie für Fernsehen. Sie wollte Politik visualisieren, weil Kommunikation am schnellsten funktioniert, „wenn sie visuell ist“.

Es sind aber nicht nur Leebs Bilder, die aussagekräftig sind. Auch ihre Reportagen sind spannend erzählt und gleichzeitig sehr aufschlussreich. In ihren Texten schlüsselt Leeb komplexe Konflikte auf, für jeden verständlich, und scheut trotzdem nicht davor zurück, Widersprüchlichkeiten herauszuarbeiten. Vor allem geht es ihr um Menschlichkeit, wie es der Titel des Buches schon besagt, darum, wie es Menschen gelingt, nicht abzustumpfen oder zu verbittern, wenn sie gefangen sind in scheinbar endlosen Konflikten und tagtäglich konfrontiert werden mit unvorstellbarem Leid.

Die Kamera war das einzige Instrument, welches das „unerbittliche Verfließen der Zeit aufzuhalten vermochte”.

Leeb fühlt sich verpflichtet, die Kamera auf die Missstände zu richten, aus Angst, dass die Menschen in den umkämpften und isolierten Gebieten dieser Erde in Vergessenheit geraten, wie zum Beispiel die Kinder in den südsudanesischen Nuba-Bergen, die zwischen nicht explodierten Raketen spielen und für die Bombardierungen zum Alltag gehören. Oder der Arzt Tom Catena, der dort als einzig verbliebener Mediziner für die Versorgung von einer Million Menschen verantwortlich ist. Wenn auch er aufgibt, wer bleibt dann noch? Leeb ist immer bemüht, über niemanden zu urteilen, außer über die, die ihre Macht ausnutzen, um Gewalt gegen Zivilisten und friedlich Protestierende auszuüben.

Und sie gibt auch Einblicke in die schwierige Situation, mit denen freie Mitarbeiter konfrontiert sind, wenn sie versuchen, ihre Reportagen an Presse und Fernsehanstalten zu verkaufen. Sie schildert den Kampf zwischen den Alteingesessenen und den Newcomern, das ständige Buhlen um Sendeplätze, wenn es so viele Konflikte gibt, dass man nicht gleichzeitig überall hinsehen kann.

Leeb betrachtet es übrigens als Privileg, dass sie ohne soziale Medien und Computer aufwuchs, dass es in ihrem Leben auch Momente geben durfte, die nicht in Bild und Ton festgehalten wurden. „Warum also in einer bilderdurchfluteten Welt überhaupt noch fotografieren?”, fragt sie. Weil es jemanden geben muss, der auch dort hinschaut, wo niemand die Kraft hat, noch Selfies zu schießen. In die „toten Winkel unserer Welt”.

Julia Leeb: Menschlichkeit in Zeiten der Angst. Suhrkamp Verlag 2021, 234 Seiten.

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